Das letzte Bild
Die Idee, dass auf der Netzhaut eines Toten das letzte Bild, das er gesehen hat, verblieben ist, begeisterte Wissenschaftler, Kriminologen und Filmemacher. Bernd Stiegler nimmt sich dem Phänomen in seinem Buch "Belichtete Augen" an und beschreibt dessen Geschichte kurzweilig und Augen öffnend.
Unter dem Titel "Die Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert" erschien 2001 die Habilitation des an der Universität in Konstanz lehrenden Bernd Stiegler als Buch. Im letzten Kapitel dieser Arbeit - es umfasst nur neun Seiten - wendet sich Stiegler dem Phänomen der "Optogramme" zu.
Als Optogramme bezeichnet man jenes letzte Bild, das - so die Vermutung im 19. Jahrhundert - auf der Retina, der Netzhaut, eines Toten verblieben ist. Eine These, wonach das Auge "aufbewahrt", was es zuletzt gesehen hat. Diese Theorie hat besonders in der Kriminologie für einige Aufregung gesorgt, denn wenn ein Ermordeter in Form seiner Augen einen Fotoapparat besäße, könnte man leicht seinen Mörder identifizieren. Man müsste nur das Bild sichtbar machen, das sich auf der Retina des Opfers eingeprägt hat.
Dieser Theorie, die im 19. Jahrhundert für Aufsehen sorgte, hat Stiegler nun ein spannend zu lesendes Buch gewidmet. Denn beim Optogramm handelt es sich um ein Phänomen aus der Geschichte der Fotografie, das interessante Aufschlüsse über die Vorstellungen vom Sehen liefert. Denn nicht immer ist das, was man zu sehen meint, auch tatsächlich vorhanden. Stiegler verweist zunächst anhand von Beispielen darauf, wie die Annahme, das Auge würde wie eine Kamera funktionieren und Bilder machen, dazu führte, dass man die letzten Bilder von Toten reproduzieren wollte.
Noch 1888 wurden die Augen einer von Jack the Ripper getöteten Frau fotografiert, weil man hoffte, in den Augen der Toten jenes Bild zu entdecken, mit dem man den Serienmörder fasen könnte. Etwa 20 Jahre zuvor wurde das Optogramm zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Debatte und gegen Ende der 1920er-Jahre verschwanden die Optogramme aus der Kriminologie. Das hatte Gründe: Bei dem, was man auf der Retina zu sehen glaubte, handelte es sich allein darum, was man sehen wollte. Tatsächlich ist auf der Retina von Toten kein Bild zu sehen.
Das Bemühen, etwas Bestimmtes sehen zu wollen, führte auch zu Experimenten von Gedanken- und Psychofotografien. Die Augen werden dabei als "Archive" verstanden, in denen etwas aufgehoben ist, was man glaubt lesen zu können. Zugleich zeigt sich in diesen Versuchen, welche Hoffnungen sich mit der Fotografie verbanden, als das Medium noch in den Kinderschuhen steckte. Man traute ihm einiges zu.
Als das Optogramm technisch ad absurdum geführt wurde, entdeckten es die Künste. So Alfred Hitchcock, der einen Film über einen Blinden drehen wollte, dem durch Organverpflanzung die Augen eines Ermordeten implantiert wurden. Dessen wiedererlangte Sehkraft erweist sich allerdings als problematisch, denn den Sehenden verfolgen Bilder, in denen es immer wieder um einen Mord geht. Auf der Retina der implantierten Augen läuft in einer Endlosschleife der "Film" von der Ermordung des Organspenders ab. Von den Pionieren des Films wurde die Kamera als ein mechanisches Auge verstanden. Sie sollte - wie seinerzeit das Optogramm - als Mittel der Aufklärung eingesetzt werden.
Bernd Stiegler gelingt es mit seinem Buch "Belichtete Augen", ein entscheidendes Kapitel in der Geschichte des Sehens zu entfalten. Er zeigt, wie das Auge zum Archiv und zum Schauplatz wurde. Eine augenöffnende und kurzweilig zu lesende Geschichte über die Spuren, die ein visuelles Phänomen hinterlassen hat.
Besprochen von Michael Opitz
Bernd Stiegler: Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
243 Seiten, 19,95 Euro.
Als Optogramme bezeichnet man jenes letzte Bild, das - so die Vermutung im 19. Jahrhundert - auf der Retina, der Netzhaut, eines Toten verblieben ist. Eine These, wonach das Auge "aufbewahrt", was es zuletzt gesehen hat. Diese Theorie hat besonders in der Kriminologie für einige Aufregung gesorgt, denn wenn ein Ermordeter in Form seiner Augen einen Fotoapparat besäße, könnte man leicht seinen Mörder identifizieren. Man müsste nur das Bild sichtbar machen, das sich auf der Retina des Opfers eingeprägt hat.
Dieser Theorie, die im 19. Jahrhundert für Aufsehen sorgte, hat Stiegler nun ein spannend zu lesendes Buch gewidmet. Denn beim Optogramm handelt es sich um ein Phänomen aus der Geschichte der Fotografie, das interessante Aufschlüsse über die Vorstellungen vom Sehen liefert. Denn nicht immer ist das, was man zu sehen meint, auch tatsächlich vorhanden. Stiegler verweist zunächst anhand von Beispielen darauf, wie die Annahme, das Auge würde wie eine Kamera funktionieren und Bilder machen, dazu führte, dass man die letzten Bilder von Toten reproduzieren wollte.
Noch 1888 wurden die Augen einer von Jack the Ripper getöteten Frau fotografiert, weil man hoffte, in den Augen der Toten jenes Bild zu entdecken, mit dem man den Serienmörder fasen könnte. Etwa 20 Jahre zuvor wurde das Optogramm zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Debatte und gegen Ende der 1920er-Jahre verschwanden die Optogramme aus der Kriminologie. Das hatte Gründe: Bei dem, was man auf der Retina zu sehen glaubte, handelte es sich allein darum, was man sehen wollte. Tatsächlich ist auf der Retina von Toten kein Bild zu sehen.
Das Bemühen, etwas Bestimmtes sehen zu wollen, führte auch zu Experimenten von Gedanken- und Psychofotografien. Die Augen werden dabei als "Archive" verstanden, in denen etwas aufgehoben ist, was man glaubt lesen zu können. Zugleich zeigt sich in diesen Versuchen, welche Hoffnungen sich mit der Fotografie verbanden, als das Medium noch in den Kinderschuhen steckte. Man traute ihm einiges zu.
Als das Optogramm technisch ad absurdum geführt wurde, entdeckten es die Künste. So Alfred Hitchcock, der einen Film über einen Blinden drehen wollte, dem durch Organverpflanzung die Augen eines Ermordeten implantiert wurden. Dessen wiedererlangte Sehkraft erweist sich allerdings als problematisch, denn den Sehenden verfolgen Bilder, in denen es immer wieder um einen Mord geht. Auf der Retina der implantierten Augen läuft in einer Endlosschleife der "Film" von der Ermordung des Organspenders ab. Von den Pionieren des Films wurde die Kamera als ein mechanisches Auge verstanden. Sie sollte - wie seinerzeit das Optogramm - als Mittel der Aufklärung eingesetzt werden.
Bernd Stiegler gelingt es mit seinem Buch "Belichtete Augen", ein entscheidendes Kapitel in der Geschichte des Sehens zu entfalten. Er zeigt, wie das Auge zum Archiv und zum Schauplatz wurde. Eine augenöffnende und kurzweilig zu lesende Geschichte über die Spuren, die ein visuelles Phänomen hinterlassen hat.
Besprochen von Michael Opitz
Bernd Stiegler: Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
243 Seiten, 19,95 Euro.