Das Märchen von den Ringen als Werkstatt
Am Hamburger Thalia-Theater hat der Regisseur Nicolas Stemann einen neuen Text von Elfriede Jelinek namens "Abraumhalde Nathan" in seine Inszenierung von "Nathan der Weise" integriert - ein Lessing also mit Jelinek-Einschüssen.
Da hatte sich die neue Leitung am Hamburger Thalia Theater für dieses Wochenende einen echten Schwerpunkt gesetzt – zunächst kam aus Köln die jüngste Uraufführung eines Textes von Elfriede Jelinek ins Haus; "Die Kontrakte des Kaufmanns", in Köln schon im Juni inszeniert vom Jelinek-Spezialisten Nicolas Stemann. Dazu sollte derselbe Regisseur "Nathan der Weise" erarbeiten, Gotthold Ephraim Lessings großes Weltversöhnungsmärchen. Obendrein sandte schließlich Jelinek noch ein paar weitere Texte, die sie "Abraumhalde Nathan" nannte und die ursprünglich heute Abend den Schluss der Trilogie bilden sollten – nun sind sie Teil (und Kommentar) in der "Nathan"-Inszenierung selbst.
Ein pures Wunder eigentlich, dass hier keiner die Flucht ergreift – fast eine geschlagene halbe Stunde lang ist nämlich dieser "Nathan" zu Beginn ein Hörbuch. Aus dem Bühnenhimmel war ein Lautsprecher herabgerauscht in den fast leeren Raum, eine gute alte Flüstertüte, und zu Kerzenlicht vom siebenarmigen Leuchter sprachen körperlose Stimmen Lessings Text, wie er geschrieben steht, erst eine Szene, dann noch eine, dann die nächste ... und es ging viel, wirklich viel Zeit ins Land, bis hinter dem durchsichtigen Vorhang hinten die Körper des sprechenden Personals sichtbar wurden, an Mikrofonen wie mit der Hörbuch-Einspielung des ewigen Klassikers beschäftigt.
Wieder also (und sehr konsequent!) eins dieser Nicolas-Stemann-Arrangements, die immer auch mit der Distanzierung des Theaters von sich selbst hantieren – und erst wenn das im Brand von Nathans Haus fast verkohlte Mädchen Recha ins Irrationale verfällt und am Ende des ersten Lessing-Aktes den rettenden Tempelherren, einen "Feind" in dieser Welt, nicht nur im übertragenen Sinn, sondern WIRKLICH für einen Engel hält, lässt Stemann das Spiel im Spiel wirklich beginnen.
Dann mischt sich Elfriede Jelinek ein – und mit Material aus dem "Abraumhalde"-Text vertrackterweise auch das uralte, eben gar nicht modern reflektierte Bild vom Juden. Ein Nathan wie frisch aus dem Schtetl ist das, mit Kaftan, Bart und Gebetsschal. Ausgerechnet dieser Vorzeit-Jude unterbricht das liebliche Märchen von der völker- und Religionen verbindenden Macht der Ringe, die (wie die verfeindeten Religionen) doch immer und für alle gleich und am schönsten sind; und dazu auffordern, diese erlösende Schönheit nicht zu behaupten, sondern tatkräftig zu beweisen!
Ab jetzt machen sich mit Jelinek all die Weis- und Wahrheiten breit auf der Bühne, die Fakt für Fakt belegen, wie wenig Erfolg dieser fundamentalen Aufklärung nach Lessing-Manier beschieden war über die Jahrhunderte: mit raffgierigen Gaunern des Kapitals bis zu den unterschiedlich fundamentalistischen Religionen – Papst Benedikt, Osama Bin Laden, Alan Greenspan, Ex-Chef der US-Notenbank, alle per Maske aus Pappmaché über Schauspielerköpfe gestülpt. Wenn dieses Pandämonium voller Maschinengewehre und Jungfrauen für Märtyrer endlich verflogen ist, ist es der "alte", konventionelle "Nathan", der Lessings Geschichte zu Ende erzählt; das heißt: fast – denn er stirbt, bevor er die hinterhältige, von Lessing verordnete Schlusspointe setzt; die ja Retter und Gerettete zu Bruder und Schwester und damit jede andere Liebe als die unter Geschwistern unmöglich macht. Perfide – Versöhnung ist möglich in Lessings Welt, Liebe nicht.
Diese ziemlich traurige Erkenntnis bleibt (der alte Nathan ist ja nicht mehr) wieder dem schlau reflektierenden Kollektiv der hörspielenden Zeitgenossen vorbehalten – und bis zur letzten Spielsekunde strotzt diese Nathan-Werkstatt damit vor intelligenten, klug organisierten Wendungen, Um- und Abwegen, und zwar ohne dass sie dabei zum literatur- und religionswissenschaftlichen Oberseminar verkommen würde.
Stemanns Team nimmt die verschiedensten Fäden im Spiel auf, entzerrt sie und fügt sie "wie neu" zusammen, der Regisseur "greift ein", verändert und organisiert, stellt dabei aber (wie zu Anfang mit Staunen zu hören) den originalen Text aus, und fast nichts als ihn. Die interpretierende Inszenierung deutet und erweitert mit dieser Deutung den Horizont – Jelineks Text zeigt in aller Bruchstückhaftigkeit, und genau so nervend wortspielerisch wie immer, den Müll, die Städte und den Tod; auf diesem schlammigen Ursuppengrund der vor Elend und Ekel strotzenden Weltgeschichte kann Nathan bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag das Märchen von den Ringen erzählen – nie siegt die Vernunft, immer das Leid und der Schmerz.
Ok, das ist nicht wirklich neu – aber in der Beweisführung schlagend. Und merkwürdig: Sogar den einzig gültigen Einwand gegen seine Art von Theater, dass es nämlich so seelen- und persönlichkeitslos sei, entkräftet Stemann wie nebenbei – wenn neben dem prachtvollen Kollektiv der Hörspiel-Performance die zwei Alten, Katharina Matz und Christoph Bantzer, plötzlich sprechen wie von vorvorgestern, überbetont und hoch emotional, und fast zu Tränen rühren. Mit Worten, die Lessing schrieb vor 230 Jahren – "Nathan" in Hamburg: ein Ereignis.
Info:
Thalia Theater Hamburg
Ein pures Wunder eigentlich, dass hier keiner die Flucht ergreift – fast eine geschlagene halbe Stunde lang ist nämlich dieser "Nathan" zu Beginn ein Hörbuch. Aus dem Bühnenhimmel war ein Lautsprecher herabgerauscht in den fast leeren Raum, eine gute alte Flüstertüte, und zu Kerzenlicht vom siebenarmigen Leuchter sprachen körperlose Stimmen Lessings Text, wie er geschrieben steht, erst eine Szene, dann noch eine, dann die nächste ... und es ging viel, wirklich viel Zeit ins Land, bis hinter dem durchsichtigen Vorhang hinten die Körper des sprechenden Personals sichtbar wurden, an Mikrofonen wie mit der Hörbuch-Einspielung des ewigen Klassikers beschäftigt.
Wieder also (und sehr konsequent!) eins dieser Nicolas-Stemann-Arrangements, die immer auch mit der Distanzierung des Theaters von sich selbst hantieren – und erst wenn das im Brand von Nathans Haus fast verkohlte Mädchen Recha ins Irrationale verfällt und am Ende des ersten Lessing-Aktes den rettenden Tempelherren, einen "Feind" in dieser Welt, nicht nur im übertragenen Sinn, sondern WIRKLICH für einen Engel hält, lässt Stemann das Spiel im Spiel wirklich beginnen.
Dann mischt sich Elfriede Jelinek ein – und mit Material aus dem "Abraumhalde"-Text vertrackterweise auch das uralte, eben gar nicht modern reflektierte Bild vom Juden. Ein Nathan wie frisch aus dem Schtetl ist das, mit Kaftan, Bart und Gebetsschal. Ausgerechnet dieser Vorzeit-Jude unterbricht das liebliche Märchen von der völker- und Religionen verbindenden Macht der Ringe, die (wie die verfeindeten Religionen) doch immer und für alle gleich und am schönsten sind; und dazu auffordern, diese erlösende Schönheit nicht zu behaupten, sondern tatkräftig zu beweisen!
Ab jetzt machen sich mit Jelinek all die Weis- und Wahrheiten breit auf der Bühne, die Fakt für Fakt belegen, wie wenig Erfolg dieser fundamentalen Aufklärung nach Lessing-Manier beschieden war über die Jahrhunderte: mit raffgierigen Gaunern des Kapitals bis zu den unterschiedlich fundamentalistischen Religionen – Papst Benedikt, Osama Bin Laden, Alan Greenspan, Ex-Chef der US-Notenbank, alle per Maske aus Pappmaché über Schauspielerköpfe gestülpt. Wenn dieses Pandämonium voller Maschinengewehre und Jungfrauen für Märtyrer endlich verflogen ist, ist es der "alte", konventionelle "Nathan", der Lessings Geschichte zu Ende erzählt; das heißt: fast – denn er stirbt, bevor er die hinterhältige, von Lessing verordnete Schlusspointe setzt; die ja Retter und Gerettete zu Bruder und Schwester und damit jede andere Liebe als die unter Geschwistern unmöglich macht. Perfide – Versöhnung ist möglich in Lessings Welt, Liebe nicht.
Diese ziemlich traurige Erkenntnis bleibt (der alte Nathan ist ja nicht mehr) wieder dem schlau reflektierenden Kollektiv der hörspielenden Zeitgenossen vorbehalten – und bis zur letzten Spielsekunde strotzt diese Nathan-Werkstatt damit vor intelligenten, klug organisierten Wendungen, Um- und Abwegen, und zwar ohne dass sie dabei zum literatur- und religionswissenschaftlichen Oberseminar verkommen würde.
Stemanns Team nimmt die verschiedensten Fäden im Spiel auf, entzerrt sie und fügt sie "wie neu" zusammen, der Regisseur "greift ein", verändert und organisiert, stellt dabei aber (wie zu Anfang mit Staunen zu hören) den originalen Text aus, und fast nichts als ihn. Die interpretierende Inszenierung deutet und erweitert mit dieser Deutung den Horizont – Jelineks Text zeigt in aller Bruchstückhaftigkeit, und genau so nervend wortspielerisch wie immer, den Müll, die Städte und den Tod; auf diesem schlammigen Ursuppengrund der vor Elend und Ekel strotzenden Weltgeschichte kann Nathan bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag das Märchen von den Ringen erzählen – nie siegt die Vernunft, immer das Leid und der Schmerz.
Ok, das ist nicht wirklich neu – aber in der Beweisführung schlagend. Und merkwürdig: Sogar den einzig gültigen Einwand gegen seine Art von Theater, dass es nämlich so seelen- und persönlichkeitslos sei, entkräftet Stemann wie nebenbei – wenn neben dem prachtvollen Kollektiv der Hörspiel-Performance die zwei Alten, Katharina Matz und Christoph Bantzer, plötzlich sprechen wie von vorvorgestern, überbetont und hoch emotional, und fast zu Tränen rühren. Mit Worten, die Lessing schrieb vor 230 Jahren – "Nathan" in Hamburg: ein Ereignis.
Info:
Thalia Theater Hamburg