Nino Haratischwili: "Das mangelnde Licht"
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Eine verwundete Gesellschaft
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Nino Haratischwili
Das mangelnde LichtFrankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2022823 Seiten
34,00 Euro
Vier Freundinnen durchleben ihre Jugend in der dramatischen Zeit des Umbruchs in Georgien nach der Perestroika. Jahrzehnte später begegnen sich drei der Frauen bei einer Fotoausstellung ihrer verstorbenen Freundin wieder und blicken zurück.
Man könnte ihn als Roman der Stunde ansehen. Nach „Das achte Leben für Brilka“, eine georgische Familiensaga im 20. Jahrhundert, schreibt Nino Haratischwili in "Das mangelnde Licht“ über die krisengeschüttelte Umbruchzeit im Georgien der 1980/90er-Jahre.
So werden Familienväter, Künstler, junge lebenshungrige Männer dem Konflikt um Abchasien geopfert; Männer, denen zum Teil, wie derzeit in der Ukraine, zum ersten Mal eine Waffe in die Hand gedrückt wird. Und die Autorin zeigt, wie eine von Krieg und Mangel gebeutelte Gesellschaft zunehmend verroht – mafiöse Strukturen, Drogen, Vergewaltigungen, Mord sind allgegenwärtig.
Der ganze Kosmos der georgischen Gesellschaft
In diesem Umfeld erleben vier Mädchen aus der intellektuellen Mittelschicht ihre Jugend: Keto, aus deren Perspektive der Roman erzählt ist, lebt nach dem Tod der Mutter mit ihrem hochgebildeten Vater und ihrem Bruder sowie ihren beiden geliebten Großmüttern in einem Ensemble von Holzhäusern. In deren Bewohnerschaft spiegelt sich sozial und ethnisch der ganze Kosmos der georgischen Gesellschaft.
Dina ist die Tochter einer Restauratorin und wird später als Kriegsfotografin Karriere machen. Ira wird die einzige sein, deren Ehrgeiz sie eines Tages zum Jurastudium in die USA verschlägt und Nene ist die Nichte eines der wichtigsten Kriminellen der Stadt.
Kind im Schneeanzug auf der Leiter
Auf den ersten Seiten wird beschrieben, wie die vier Freundinnen nachts heimlich in den Botanischen Garten von Tbilissieindringen und sich gemeinsam in ein Wasserbecken stürzen. Eine Szene, in der die sehr unterschiedlichen Charaktere schon klare Konturen bekommen und die zugleich symptomatisch ist für ihren Drang nach ganz normalen jugendlichen Abenteuern.
Doch die georgische Realität mit Mangelwirtschaft, Bandenkriminalität und Krieg lässt sich durch die intensive Freundschaft besser ertragen, verschafft ihnen aber auch traumatisierende Erlebnisse. Sie werden Zeuginnen von Morden, Vergewaltigungen, Drogenkonsum, Erpressungen in einer verwundeten Welt.
Die zwangsverheiratete Nene muss erleben, wie ihr Mann ihren Geliebten ermordet. Ketos Bruder kommt zunächst ins Gefängnis, wird später drogensüchtig und landet schließlich in der Psychiatrie. Ein Schlüsselbild für den Mangel ist ein kleines Mädchen, das im Schneeanzug auf einer Leiter sitzt und dort lernt, weil oben die Luft ein wenig wärmer ist.
Wiedersehen bei einer Ausstellung
Es sind tatsächlich Bilder, die dem Roman den Takt geben. Drei der vier Freundinnen treffen sich 2019 in Brüssel bei einer Ausstellung von Fotografien der Kriegsreporterin Dina nach vielen Jahren wieder. Sie, deren Freund und Mentor im Abchasienkrieg starb, hat sich um die Jahrtausendwende selbst umgebracht.
Da war jede der Vier längst ihrer eigenen Wege gegangen. Doch anhand der Bilder, erinnern sich die drei, setzen die Vergangenheit wie ein Puzzle zusammen, finden nach fast 30 Jahren den Schlüssel zu Verletzungen und Geheimnissen, die damals das Ende ihrer Freundschaft besiegelt hatten.
Dabei macht es Nino Haratischwili einem nicht immer leicht zu folgen, zu unvermittelt springt sie oft zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Doch entwickelt der Roman durch seinen prallen Erzählstil einen enormen Sog.