"Das müssen die Jüngeren machen"

Günter Grass im Gespräch mit Joachim Scholl · 10.10.2011
Er würde eine Wahlkampf-Tour wegen seines Alters nicht mehr durchstehen, sagt der Literaturnobelpreisträger Günter Grass, der in dieser Woche 84 wird. Gerade ist ein Buch über seinen legendären Einsatz für Willy Brandt 1969 erschienen, der damals zum Machtwechsel führte.
Joachim Scholl: 32.000 Kilometer im VW-Bus, 60 meist überfüllte Veranstaltungen, circa 60.000 Zuhörer – das war die rein statistische Bilanz einer ganz besonderen Reise, die Günter Grass 1969 quer durch Deutschland führte: Wahlkampf für die SPD, für Willy Brandt. Jetzt gibt es eine Dokumentation dieser Reise, das Buch "Günter Grass auf Tour für Willy Brandt. Die legendäre Wahlkampfreise 1969". Und passend im Willy-Brandt-Haus der SPD in Berlin treffen wir den Nobelpreisträger, willkommen im Deutschlandradio Kultur, Günter Grass!

Günter Grass: Guten Tag!

Scholl: Ihre Reise fand im Rahmen der sogenannten Sozialdemokratischen Wählerinitiative statt, ein Zusammenschluss von linken Intellektuellen, ja, die was machen wollten für die SPD, die der Partei helfen wollten. Aber gleichzeitig nicht als SPD-Mitglieder, sondern als Wähler. Was hat Sie damals bewogen, für, wie Sie schrieben oder sagten damals, zwei Monate den Schreibtisch abzuschließen und sich dann auf die Socken zu machen?

Grass: Ja, einen demokratischen Machtwechsel. Ich hatte ja nun als junger Mensch die Adenauer-Ära erlebt mit all den Nachkommenschaften aus der Nazi-Zeit, inklusive Staatssekretär Globke. Und jetzt gab es eine Große Koalition, was nicht gut war für die demokratischen Verhältnisse. Und die Zielsetzung war Ablösung dieser Großen Koalition durch eine sozialliberale. Das war schwer genug und auch innerhalb der SPD umstritten, manche wollten die Große Koalition fortsetzen, wir setzten eben auf den Wechsel. Und das war der Motor. Und sicher war das eben auch eine Generationserfahrung. Ich glaube, unserer Generation war durchaus bewusst, wie fragil die Demokratie noch war in der Bundesrepublik, inwieweit wir noch eine Schuldemokratie hatten. Und schon die ersten Übergriffe et cetera, die es gegeben hat und Skandale, und dagegen wollten wir angehen. Und dann kam noch hinzu, dass, der Studentenprotest zerlief sich. Es gründeten sich K-Gruppen, das Sektiererhafte begann, die Leute waren enttäuscht, ein Teil von ihnen, weil sie eine Revolution haben wollten, und dabei blieben nur Reformen, allenfalls Reformen übrig. Und dann habe ich mit einigen Studenten ab der Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten im Bundesgebiet Wählerinitiativen aufgebaut. Und diese Studenten kamen aus dem Studentenprotest, die wollten eine Veränderung.

Scholl: Sie hatten schon Wahlkampferfahrung, 1965 sind Sie ebenfalls auf eigene Faust, selbstfinanziert, auf Tour gegangen für die SPD, und aus dieser Zeit gibt es ein bislang unbekanntes Tondokument, das jetzt auch veröffentlicht wurde, der Mitschnitt einer Rede in Cloppenburg vom 14. September 1965. Hören wir mal, wie es da zuging:

O-Ton Tondokument

Scholl: Günter Grass live im September 1965 in Cloppenburg. In Ihrem "Tagebuch einer Schnecke", dem Roman über Ihr Wahlkampfengagement von 1969, darin habe ich diesen Satz gefunden: "Die Münsterlandhalle in Cloppenburg dient üblicherweise dem Eierhandel. Manchmal träume ich von ihr und erwache heiser." Es flogen ja tatsächlich Eier 1965, ja ...

Grass: ... Eier und Tomaten, ja ...

Scholl: Hatten Sie nicht Angst, dass sich solche Szenen 1969 wiederholen?

Grass: Ja, ich bin ja '69 wieder dort gewesen, da war sie auch voll, die Münsterlandhalle, und es war ruhig. Und hinterher stellte ich zu meinem Erstaunen fest, dass es eine Juso-Gruppe gab, Jungsozialistengruppe. Hinterher, nach der Veranstaltung, haben wir in einem kleinen Lokal gegessen und dann kamen zwei dieser Jusos zu mir und sagten, wir müssen das gestehen, wir gehörten vor vier Jahren zu den Eierwerfern. Also offenbar hat vielleicht der Rede Inhalt, aber auch vielleicht das Standvermögen des Redners die Jungens überzeugt.

Scholl: 1969 waren Sie auf jeden Fall schon ein literarischer Weltstar, als Autor der "Blechtrommel", von "Katz und Maus" und "Hundejahre", die ganze Welt kannte Sie. Das Titelblatt des "Spiegel" vom August 1969 zierte Ihr Porträt, Literat Grass im Wahlkampf, das Echo war enorm, überfüllte Säle überall. Kamen die Leute eigentlich mehr, um den Autor, den weltberühmten Autor, auch den damals noch skandalumwitterten Autor Grass zu sehen, oder seine Wahlreden zu hören?

Grass: Ja, es hat eine Umfrage gegeben und die haben festgestellt, dass, glaube ich, zwei Drittel, wenn ich mich nicht täusche, deswegen gekommen sind, des Autors wegen. Aber sicher auch, weil man diese üblicherweise ablaufenden Wahlkundgebungen satthatte. Und die Form, in der das bei mir stattfand – und ich habe auch mit dem Publikum diskutiert, ich bin solchen Sachen nicht ausgewichen –, das war relativ neu und hat sicher ein Publikum angezogen, das normalerweise nicht in Wahlveranstaltungen geht.

Scholl: Welche Rolle spielte der Kanzlerkandidat Willy Brandt? Sie hatten ein sehr gutes Verhältnis zu ihm, es gibt viele Bilder, etliche Bilder, die Sie in angeregtem Dialog zeigen. Er war natürlich so eine Figur, auf die auch die Jugend sozusagen ausgerichtet war. War es eigentlich mehr ein Wahlkampf für Willy Brandt als für die SPD?

Grass: Es war schon sehr stark auf Willy Brandt fixiert, aber es spielten natürlich also auch bei diesem Wahlkampf, zum Beispiel Karl Schiller spielte eine große Rolle. Und es ging damals um die Aufwertung der D-Mark, das war ein großes Thema gewesen und Streit innerhalb der Großen Koalition. Aber sicher dominierte Willy Brandt und das hat sich bei der nachfolgenden Wahl noch mehr bestätigt. Es kommt sicher dazu, dass Brandt auch mit seiner Biografie, wie der als 19-, 20-Jähriger '33 die Situation erkannt hat, in den Widerstand gegangen ist, dann emigriert ist, zurückgekommen ist, dann diffamiert wurde nach seiner Rückkehr in Deutschland, insbesondere durch Konrad Adenauer. Das waren alles Dinge, die sich den jungen Leuten auch mitteilten, und die ich auch angesprochen habe im Wahlkampf. Und es kommt etwas hinzu, was ... In all den Reden habe ich auf diese neue Politik von Willy Brandt hingewiesen, mit der anderen Seite zu sprechen, die Politik der kleinen Schritte zu wagen. Und zwar immer im Hinblick auf dann doch vielleicht eines Tages mögliche Vereinigung der beiden deutschen Staaten, was für viele damals überhaupt kein Thema war. Man begnügte sich, da am 17. Juni Kerzen ins Fenster zu stellen, man sprach von seinen Brüdern und Schwestern im Osten und damit hatte es sich. Die Hallstein-Doktrin blockierte alles. Dagegen war diese Politik von Willy Brandt gesetzt, und das sprach schon das Publikum an.

Scholl: Man kann ja sagen, Ihr Einsatz hat sich gelohnt, die SPD legte bei der Wahl die entscheidenden Prozentpunkte zu, um dann mit der FDP eine Koalition zu bilden. Was würden Sie sagen, haben Sie Willy Brandt zum Kanzler gemacht, Herr Grass?

Grass: Nein, wir haben kräftig dazu beigetragen. Und da die Mehrheit sehr knapp war und hinterher auch bröckelte, weil FDP-Abgeordnete zur CDU übergingen, war das sicher mit entscheidend.

Scholl: In diesem Zusammenhang habe ich jetzt auch durch die Dokumentation erfahren, was ich wirklich nicht wusste: Der berühmte Satz "Mehr Demokratie wagen", den man ja so mit Willy Brandt assoziiert, der stammt von Ihnen?

Grass: Also, ich kann das, der Satz "Mehr Demokratie wagen", ich kann das nicht terminieren. Aber da in meinen Reden die Tendenzen auch von Formulierungen her mehr und mehr darauf hinzulief, ist es gut möglich. Ich bin noch vor wenigen Tagen in der Eifel gewesen, in Bad Münstereifel, und da gibt es in der Nähe einen Ort, an dem Willy Brandt die Regierungserklärung geschrieben hat. Und wie das bei ihm üblich war, hat er ein paar Leute eingeladen, dazu gehörte ich, die an dem Text mitgearbeitet haben, Vorschläge gemacht haben. Und da wird das wahrscheinlich mit hineingeflossen sein.

Scholl: Ich glaube, die SPD würde sich freuen, wenn Sie 2013 noch mal so eine Tour machen würden. Vielleicht nicht ganz so ausführlich, aber es wäre schon schön, den Literaturnobelpreisträger Günter Grass wieder auf der Seite zu haben. Was müsste passieren in der SPD oder was würde Sie reizen vielleicht, noch mal in dieser Form ...

Grass: Wir haben damals aus unserer Praxis heraus ein Papier an die Partei geschrieben und aufgesetzt und der SPD vorgeschlagen, sich zu öffnen den Bürgern gegenüber. Bei der Kandidatenaufstellung, bei bestimmten Entscheidungen nicht nur das innerhalb der Parteigremien zu beschließen. Und das ist bei Herbert Wehner, der ja ein Zuchtmeister war innerhalb der Partei, der hat zugehört, das fand ein positives Echo bei ihm. Und er hat sich aber im Parteirat und noch in anderen Gremien nicht durchsetzen können. Und jetzt wird das von Sigmar Gabriel und anderen in der SPD wieder aufgegriffen und ich finde es richtig so. Die SPD kann nur im Bündnis mit den Grünen das, was notwendig ist, zu einem demokratischen Machtwechsel kommen, wenn sie die Wähler, die Sympathisanten ihrer Partei, auch wenn sie ein kritisches Verhältnis zur Partei ihrer Wahl haben, wenn sie die mitnehmen, wenn sie die direkt ansprechen und wenn sie auf die auch hören. Und das ist sicher nicht mehr so oder genau so zu machen, wie wir das '69 gemacht haben und später gemacht haben. Da wird man eine Form für finden müssen und das müssen Jüngere machen. Ich war damals knapp über 40 und gut bei Kräften, heute, glaube ich, würde ich das nicht mehr schaffen.

Scholl: In dieser Woche feiern Sie Geburtstag, Ihren 84. 1969 standen Sie im 42. Jahr, genau 42 Jahre ist diese legendäre Reise jetzt her. Wenn Sie gerade die jüngeren Autoren ansprechen, Günter Grass, man sieht von diesem Engagement, wie es die Schriftsteller in den 60er-Jahren – das waren nicht nur Sie, das war Heinrich Böll, das war Siegfried Lenz, das war Martin Walser, das war eine ganze Generation von Schriftstellern, die auch wirklich politisch waren, politisch schrieben, die Essays schrieben, auf die Straße gingen –, davon ist eigentlich wenig geblieben oder hat sich wenig fortgesetzt. Sind die Zeiten, sind die politischen Zeiten, sind unsere politischen Zeiten so sehr, so viel anders als damals, dass sich eigentlich das Intellektuelle, also gerade vonseiten der Schriftsteller dieses Engagement so wenig regt?

Grass: Ich meine, Sie kommen ja aus einer Rundfunkanstalt und wissen sicher Bescheid, was in den letzten Jahren so in den Medien gelaufen ist. Quer durch die Feuilletons wurden die Schriftsteller, wenn sie wagten, politisch den Mund aufzumachen, gescholten. Das würde den Stil verderben et cetera und all diese Warnungen. Ich habe auf solche Warnungen nie gehört. Ich habe, meine Motivation stand klar. Aber es ist sicher so, dass eine Vielzahl jüngerer Autoren sich haben einschüchtern lassen. Sie müssen das überwinden. Sie müssen das überwinden und müssen das aushalten. Es tun ja einige, also wenn ich an Juli Zeh denke oder an die Eva Menasse und Kumpfmüller, und da gibt es eine ganze Reihe Autoren, die das durchaus tun. Und ich meine damit auch nicht nur Schriftsteller. Ich habe mein Engagement motiviert als Bürger dieses Staates, dieser Gesellschaft, in dieser Gesellschaft, und das ist für mich das Ausschlaggebende. Das kommt einfach aus der Erfahrung auch meiner Generation, denn wir sind alle gebrannte Kinder der Nazi-Zeit gewesen und haben uns hinterher fragen müssen, woran ist die Weimarer Republik gescheitert? Sie ist unter anderem daran gescheitert, dass nicht genügend Bürger sich engagiert haben, sich schützend vor diese ohnehin schwach begründete Republik gestellt haben.

Scholl: Günter Grass über seinen Wahlkampf 1969, jetzt nachzulesen in der Dokumentation "Günter Grass auf Tour für Willy Brandt", herausgegeben von Kai Schlüter, erschienen im Christoph Links Verlag, 240 Seiten hat der Band mit vielen Fotos, er kostet 24,90 Euro. Günter Grass, herzlichen Dank für das Gespräch!

Grass: Gern geschehen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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