Jesus als Streikführer auf der Tomatenplantage
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Milo Rau dreht einen Jesus-Film. In "Das Neue Evangelium" geht es aber weniger um Religion als um soziale Verwerfungen. Jesus ist schwarz und wird von Yvan Sagnet gespielt, der auf einer italienischen Tomatenplantage einen Streik organisiert hat.
Milo Rau: "Azione!"
"Action" heißt "Azione" – und schon brüllen die Statisten los. Sie spielen den wütenden Mob, der Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung folgt. Seine Jünger haben sich untergehakt, um die Massen zurückzuhalten. Jesus trägt stumm sein Kreuz. Sein Gewand ist blutdurchtränkt und trotzdem wird er mit der Peitsche geschlagen.
"Wenn bei uns Jesus gefoltert wird, dann wird ein schwarzer Jesus gefoltert", erklärt Milo Rau. Dann ist das eine Metapher für Rassismus, für ein System, das hier den Reichtum Europas schafft, die Landwirtschaft in Italien, die durch Sklavenarbeit funktioniert, weil Hände die Tomaten und Mandarinen pflücken müssen. Doch diese konkrete Szene wird in historischen Kostümen gespielt.
Die Bibel neu interpretiert
Die Dreharbeiten gelten als öffentliche Performance. Ein paar Schaulustige stehen am Straßenrand – aber nicht allzu viele. Matera ist in diesem Jahr europäische Kulturhauptstadt. Der Veranstaltungskalender ist prall gefüllt. Touristengruppen wälzen sich durch die engen Gassen. Doch die meisten wollen die Sassi sehen – Höhlenwohnungen, die schon lange zum Weltkulturerbe gehören. Dass Milo Rau in seinem Film die Bibel neu interpretiert, wissen die wenigsten.
"An der Peripherie des Römischen Reiches gibt es eine Region, wo Zersprengte leben, wo also quasi eine Mafiastruktur ist, wo die Besatzungsmacht da ist und mit den großen landwirtschaftlichen Betrieben zusammenarbeitet. Das ist die Situation, die im Neuen Testament beschrieben ist. Dagegen erhebt sich ein Sozialrevolutionär, sammelt Leute aus den Drop-outs der Gesellschaft. Mit denen greift er das System an. Scheitert, wird gekreuzigt. Die Botschaft verbreitet sich aber", sagt der Regisseur.
Jesus als politischer Aktivist
Jesus ist für Milo Rau kein religiöser Heilsbringer, sondern ein politischer Aktivist. Er hat die Rolle mit Yvan Sagnet besetzt, der vor 8 Jahren den bisher größten Streik in der italienischen Landwirtschaft organisierte. Sagnet stammt aus Kamerun und arbeitete auf einer Tomatenplantage in Apulien.
"Ein Erntehelfer verdient dort 20 bis 25 Euro für 14 Stunden Arbeit. Davon werden noch 5 Euro für Hin- und Rückfahrt abgezogen und 5 Euro für Essen und Trinken. Wenn du nicht schnell genug bist, verdienst du weniger. Ich bin damals mit 4 Euro pro Tag nach Hause gekommen", erzählt Sagnet.
Nach dem Streik wurden in Italien die Gesetze verschärft, doch da viele Afrikaner illegal im Land sind, sind sie der Willkür ihrer Arbeitgeber nach wie vor ausgeliefert. "Die Tomate ist ein Symbol der Ausbeutung. Das ist ein Produkt, das oft von Flüchtlingen geerntet wird, die wie Sklaven arbeiten. Die Tomaten sind aber auch ein Symbol für den Kapitalismus. Da wird Profit auf Kosten der Menschen gemacht", so der Schauspieler.
Kritik an großen Handelsketten wie Lidl
Yvan Sagnet klagt nicht in erster Linie die Landwirte an, sondern die großen Handelsketten, die die Preise diktieren. Im Film zerstampfen Jesus und seine Jünger Tomaten, die an einen großen Discounter geliefert werden sollen. Die biblische Geschichte wird ins Heute geholt.
Milo Rau hat viele Rollen mit Laiendarstellern aus Matera besetzt. Der Bürgermeister spielt Simon, der Jesus hilft, sein Kreuz zu tragen, der Polizeichef ist ein römischer Offizier. Das hat in der regionalen Presse für Aufmerksamkeit gesorgt. Für die öffentlichen Filmdrehs an diesem Wochenende sind auch internationale Journalisten angereist. Und darauf kommt es dem Regisseur an.
"Das einzige, was bei dieser Art von zivilgesellschaftlicher Sache entscheidet ist, dass Leute auf einen aufmerksam werden, sich solidarisieren, dass ein Bewusstsein stattfindet, dass immer mehr Leute sagen: 'Es geht nicht, dass die Leute auf Plantagen arbeiten, die Lidl beispielsweise beliefern, wo die Leute keine Verträge haben.' Das Gesetz gibt es ja. Aber das Gesetz muss umgesetzt werden", fordert Rau.
Es geht nicht um schöne Bilder, sondern um die Botschaft
Milo Rau denkt wie ein Aktivist. Da gerät die Kunst fast ins Hintertreffen. In seinem Film geht es nicht um schöne Bilder, sondern um eine klare Botschaft. "Im Grunde mache ich auch immer das Gleiche, immer unter einem anderen Namen, in einer anderen Region, mit teilweise anderen Leuten. Wie vielleicht jeder Künstler. Ich mache im Grunde diese Darstellung von sozialen, politischen Gewaltverhältnissen. Das ist mein Thema. Ob es die Coltan-Mine im Kongo ist oder die Goldraffinerie in der Schweiz, der Supermarkt in Deutschland oder die Tomatenplantage in Italien – das ist für mich eine große Geschichte", sagt der 42-Jährige.
Doch Rau stellt die Verhältnisse nicht nur dar, sondern initiiert auch reale politische Kampagnen – aktuell die Rivolta della Dignitá – die Revolte der Würde, die sich für ein Bleiberecht für Migranten und faire Arbeitsbedingungen einsetzt. Am kommenden Donnerstag wird es in Rom ein erstes Treffen dieser Kampagne geben, mit Kirchenvertretern und Politaktivisten aus ganz Italien. Kunst, die so unmittelbar in politische Aktionen umschlägt ist selten. Milo Rau hat es wieder einmal geschafft.