Die 70. Internationalen Filmfestspiele, die Berlinale, werden am 20. Februar mit der Independent-Komödie "My Salinger Year" eröffnet. Deutschlandfunk Kultur berichtet täglich von der Berlinale.
"Das Festival braucht keine drastischen Änderungen"
20:52 Minuten
Am 20. Februar beginnt die Berlinale. Einiges wird sich ändern. Mit dem neuen Führungsduo Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek sprechen wir über den neuen Wettbewerb "Encounters", über den Jurypräsidenten Jeremy Irons und die Angst vor dem Coronavirus.
Die 70. Internationalen Filmfestspiele in Berlin liegen in den Händen des neuen Führungsduos Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek. Besucher der Berlinale, die am 20. Februar beginnt und am 1. März endet werden bemerken: Einiges haben die "Neuen" geändert. Unter anderem wird es einen zweiten Wettbewerb geben, "Encounters". Aber auch infrastrukturell wird es Änderungen geben. Neue Spielstätten werden gebraucht und auch neue Sponsoren mussten gefunden werden.
Susanne Burg: Die Berlinale wird 70. Erinnern Sie sich eigentlich beide an Ihren ersten Berlinale-Besuch?
Mariette Rissenbeek: Das muss in 1987 gewesen sein. Damals habe ich für Tobis-Film gearbeitet, und ich denke, wir hatten Filme bei der Berlinale, aber es ist lange her. So im Detail kann ich mich vor allem an eine Berlinale erinnern, wo wir einen Film hatten, "Talk Radio" von Oliver Stone, der auch selber vor Ort war, den ich betreut habe. Das war ganz aufregend. Also die Berlinale ist für mich immer schon mit Filmen und Arbeit zusammen verbunden gewesen.
Susanne Burg: Jetzt natürlich ein bisschen in anderer Funktion. Carlo Chatrian, wie ist es für Sie?
Carlo Chatrian: Zum ersten Mal habe ich die Berlinale 2003 besucht. Ich konnte eigentlich nicht kommen, aber plötzlich ergab sich die Möglichkeit, als akkreditierter Journalist nach Berlin zu reisen. Ich erinnere mich zwar nicht mehr an die ersten Filme, die ich hier gesehen habe, aber an eine ganz spezielle Erfahrung: Ich kam an und holte mir das Programm und war erstmal erschlagen. So viele Filme! So viele Kinos! Und das noch verstreut über die ganze Stadt. Ich dachte mir: Oh mein Gott, wie soll ich das alles schaffen? Aber am Ende war ich erstaunt, wie gut alles organsiert war, und schon nach ein paar Tagen hatte ich mir meinen eigenen Pfad durch das Festival geschlagen, hatte viele Filme gesehen und das war dann auch ein sehr erfüllendes Gefühl.
Patrick Wellinski: Wir hatten das Gefühl, dass der Druck auf Ihnen beiden seitens der Presse immens war, im Hinblick auf radikale Änderungen. Sie führen einen neuen Wettbewerb ein. Hier und da fällt was weg, aber die große Reform bleibt aus. Ist die Berlinale nicht reformierbar?
Die Berlinale ist gut aufgestellt
Carlo Chatrian: Ich glaube, dass die Hoffnung auf eine Revolution oder eine radikale Reform mehr der Wunsch der deutschen Presse war. Als wir beide zur neuen Festivalspitze ernannt wurden, haben wir schnell und deutlich klar gemacht, dass die Berlinale ein gut aufgestelltes Festival ist und keine drastischen Änderungen braucht. Die Qualität der Berlinale schwankt mit der Qualität der Filme. Einige Jahre waren stärker, einige schwächer, aber wir Festivalleiter machen die Filme ja nicht.
Viel wichtiger scheint mir die Pflege der Festivalgeschichte. Es ist das 70. Jubiläum eines Festivals, das es geschafft hat, in seiner Geschichte regelmäßig Werke zu präsentieren, die wir heute als Meilensteine der Filmgeschichte erachten. Die Berlinale war auch immer eine dankbare Plattform für wagemutige Filmemacher und Filmemacherinnen. Und wir hoffen, dass wir mit unserer ersten Ausgabe an diese Tradition anknüpfen können.
Mariette Rissenbeek: Ja, wir haben uns natürlich am Anfang auch Gedanken gemacht, wir wissen aber, dass hunderttausende Berliner interessiert sind, ins Kino zu gehen, und wir glauben auch deshalb, dass man eine gewisse Palette an Filmen anbieten muss, um auch die Möglichkeit zu geben, dass das Publikum sich bestimmten Themen annimmt und sich mit bestimmten Filmschaffenden auseinandersetzt. Also es wäre ja schade, das einzugrenzen.
Jede Sektion will innovative Filme zeigen
Susanne Burg: Zum "Encounters"-Wettbewerb: Es soll eine Plattform für den innovativen Film sein, aber ist das nicht die Definition der "Forum"-Sektion, entstanden vor 50 Jahren als Reaktion auf einen fundamentalen Richtungsstreit auf der Berlinale? Damit ist das Forum ein Ort gewesen zum Beispiel für Bela Tarr oder Ulrike Ottinger, die ja dieses Jahr die Berlinale-Kamera bekommt. Da es das Forum als unabhängige Sektion weiterhin gibt: Was unterscheidet einen "Forum"-Film von einem "Encounters"-Film?
Carlo Chatrian: Ich denke, jede Berlinale-Sektion möchte innovative Filme zeigen. Es wäre fatal, wenn das nicht so wäre. Wir haben uns mit "Encounters" für einen zweiten Wettbewerb entschieden, weil wir spüren, dass eine gewisse Art des Kinos eine neue Plattform braucht. Das "Forum" ist ja kein Wettbewerb, ganz im Gegenteil. Die "Forum"-Filme stehen nicht in einem kompetitiven Verhältnis zueinander. Wie der Name "Forum" es andeutet, geht es in der Sektion darum einen Ort zu schaffen, an dem Filmemacher und Filmemacherinnen ihre Werke in einen größeren Kotext stellen. Wir haben das auch nochmal mit der neuen "Forum"-Leiterin Christina Nord besprochen.
Für das "Encounters"-Programm ist das Ziel ein anderes. Dieser Wettbewerb soll helfen, eine größere Öffentlichkeit für gewisse Filme zu erreichen. Manchmal handelt es sich dabei um unbekannte Filmemacher und Filmemacherinnen, dann wieder um bekannte, die völlig neue Wege der Produktion beschreiten. Dann geht es um Filme, die sehr gut sind, aber vielleicht unter dem Erwartungsdruck des Bären-Wettbewerbs zusammenbrechen würden. Es soll also ein Ort werden für eine gewisse Art der Filmproduktion, die jenseits der klassischen Wege entsteht, aber eine immer größere Bedeutung für das globale Filmemachen bekommt. Außerdem ermutigt uns das Profil von "Encounters", diese Art der Filme selber stärker zu suchen. Das könnte auch ein Gewinn für die anderen Sektionen sein, wie das Panorama oder Forum, weil die jeweiligen Sektionsleiter sich noch konzentrierter damit auseinandersetzen müssen, was sie selber zeigen wollen.
"Konstruktive Auseinandersetzung" mit Corona
Patrick Wellinski: Es heißt ja immer: Die ganze Stadt wird zum Festival während der Berlinale. Dieses Jahr gilt das ganz besonders, weil es einige infrastrukturelle Probleme gab und gibt. Ein großes Kino ist weggebrochen. Sie mussten alternative Sichtungsstätten finden. Ein Hauptsponsor war abgesprungen. Jetzt heißt es, dass wegen des Coronavirus viele Filmeinkäufer aus Südostasien dem European film market fernbleiben. Es wirkt so ein wenig, als hätte man Ihnen beiden die Schlüssel zu einem großen Haus übergeben, das an allen Ecken und Enden zerfällt und marode ist?
Mariette Rissenbeek: Nein, das Gefühl habe ich nicht. Es sind sehr aktuelle Themen. Also gerade das Coronavirus hat natürlich niemand absichtlich in die Welt gesetzt, und es wäre jetzt nicht schön, zu denken, dass man das erfunden hat, um uns zu strafen. Also ich denke, dass wir uns mit dem Coronavirus sehr konstruktiv auseinandersetzen, die Menschen auch dafür sensibilisieren, was man eventuell beachten soll, wenn man ins Kino geht oder die Leute, die am Einlass stehen noch mal dafür zu sensibilisieren, wenn sie denken, es gibt eine kranke Person, was ist damit zu tun. Also wir werden da sicher unseren Beitrag leisten, dass es im Berlinale-Umfeld nicht zu großer Ansteckungsgefahr kommt. Dass manche asiatische Gäste nicht anreisen können, hängt natürlich damit zusammen, dass in ihrer Region eine größere Ansteckungsgefahr ist und sie einfach nicht reisen dürfen. Auch das ist aber was, was man nicht kontrollieren kann. Es hätte auch andere Gründe geben können, warum man nicht reisen darf. Also das würde ich jetzt nicht als eine Art Strafe bezeichnen.
Susanne Burg: Wie ist es eigentlich zu erklären, dass das größte Festival dieses Landes, eines der ältesten der Welt, im 70. Jahr in der deutschen Hauptstadt keine gesicherte Infrastruktur hat? Ein Versagen der Kulturpolitik?
Rissenbeek:: Das ist eine schwierige Frage, um die so glatt zu beantworten. Ich denke, die Berlinale ist deshalb auch so speziell, weil sie fast eine halbe Million Zuschauer holt. Das heißt, eine einzelne Stätte würde für eine halbe Million Zuschauer nie reichen, weshalb wir unbedingt auch weitere Spielstätten brauchen und nicht nur den Berlinale-Palast. Gleichzeitig ist ein Berlinale-Palast mit 1.600 Zuschauern, den man hat, der muss auch 52 Wochen im Jahr bespielt werden und kann nicht nur zwei Wochen im Jahr bespielt werden. Also da gibt es in einer Stadt andere Notwendigkeiten als vielleicht in einem Ort am Meer, wo man einen Festivalpalast hat, der auch als Messepalast benutzt wird, aber der in einem Ort stattfindet, wo überhaupt niemand ein Kinoticket kaufen kann. Also das sind schon sehr unterschiedliche Ausgangsmöglichkeiten. Klar, wir haben uns Gedanken gemacht, wie können wir uns das künftig vorstellen, gibt es andere Modelle, aber wir haben noch keine konkreten Ideen entwickelt, aber wir werden uns damit beschäftigen.
In den 1950ern waren Filme vor allem ein Produkt
Patrick Wellinski: Carlo Chatrian, Sie schreiben ja auch einen Blog. Sie beschreiben darin zum Beispiel, wie Bela Tarr bei den Wiener Festwochen sich an einer Art Renaissance des Kinos versucht in einer Performance mit dem Titel "Missing People". Da ist die Grenze zur Installationskunst verwischt. Sie zeigen sich begeistert. Gehört das Kino nach 120 Jahren Geschichte ins Museum und nicht in den Berlinale Palast?
Carlo Chatrian: Ich glaube daran, dass das Kino an beiden Orten seine Berechtigung hat. Das Kino ist ja mittlerweile eine etablierte Kunst. Wenn Sie sich an die 1950er Jahre erinnern, da sprach man nicht von Kinokunst, man betonte Film als Produkt, als etwas, das man herstellen kann. Man dachte eher industriell. Umso wichtiger ist, dass das Kino auch in Museen stattfindet und dort an die Anfänge erinnert. Heute ist das sogar noch viel wichtiger, wenn wir uns überlegen, dass Filmmaterial ja so fragil ist und die Fragen nach dem Umgang mit dem Filmerbe essentiell sind.
Auf der anderen Seite ist diese Fragilität auch die große Stärke des Kinos. Die Kinokunst ist fluid. Kino kann überall sein, und das spiegelt unsere Zeit wunderbar wieder. Kino und Film finden überall statt. Die Frage, die über allem schwebt: Was ist das Kino? Ist es die Geschichte, die wir im Kinosaal sehen, oder ist es etwas ganz anderes? Mich beschäftigen diese Fragen sehr, und die Berlinale sollte ein Ort sein, an dem viele Antwortmöglichkeiten auf diese Frage präsentiert und diskutiert werden. Wir zeigen ja auch Kunstprojekte und andere Produktionen, die nicht gemacht wurden, um sie im klassischen Kino zu zeigen. Wir zeigen sie dennoch im Kino, um die intensivste Seherfahrung zu ermöglichen. Wir wissen aber auch, dass viele der Berlinale-Filme nach dem Festival nicht im Kino gezeigt werden, sondern auf anderen Verbreitungswegen ihr Publikum erreichen. Wir dürfen nicht in Schwarz und Weiß denken. Kino ist deshalb so aufregend, weil es vieles auf einmal sein kann.
"Kino muss nicht nur unterhalten"
Patrick Wellinski: Bleiben wir mal bei dieser Grenzziehung Museum und Kino. Sie zeigen einen Film von Ilya Khrzhanovsky im Wettbewerb. Ein Film, der aus über 1.000 Stunden Filmmaterial entstanden ist: "DAU. Natasha". Ursprünglich sollte das "DAU"-Filmprojekt ja als große, mehrtätige Installation stattfinden. Das ist aus vielen Gründen gescheitert und beschäftigte die Feuilletons. Im Special zeigen Sie dann noch "DAU. Degeneration", acht Kapitel, gut sechs Stunden. Ist das "DAU"-Projekt für Sie ein Beispiel für das Kino des 21. Jahrhunderts?
Carlo Chatrian: Es ist sehr schwer für mich, Ihnen da eine abstrakte, allgemeingültige Antwort darauf zu geben, weil wir im Auswahlkomitee unsere Entscheidungen immer anhand der Diskussion an einem konkreten Film treffen. Es ist auch gar nicht meine Rolle, die Frage zu beantworten, wo das Kino in zehn Jahren stehen wird. Als künstlerischer Leiter habe ich so eine seltsame Sandwichposition. Ich muss schnell reagieren, aber ich reagiere auf Werke, die bereits entstanden sind und nicht auf Filme, die erst entstehen werden. Was ich über die Filme des "DAU"-Projekts sagen kann, ist, dass wir davon unglaublich begeistert waren, und dann hatten wir große Bedenken, und dann hatten wir manchmal ein wenig Angst vor diesen wuchtigen Bilderwelten, aber auch das ist etwas, das ich vom Kino erwarte. Kino muss nicht nur unterhalten oder glücklich machen.
Der Wettbewerbsfilm "DAU. Natasha" ist – ich weiß nicht, ob das deutsche Wort es ganz trifft –, er ist "stark", im Sinne eines heftigen Sturms, der über einen hinwegfegt, alles aufrütteln kann und den Zuschauer zwingt, sich dazu zu verhalten. Als Filmfestival mussten wir die Entscheidung treffen, ob und wo wir den Film zeigen. "DAU. Natasha" konnte man ja vor ein paar Monaten als Teil einer größeren Installation sehen, und wir mussten entscheiden, wie wir damit umgehen wollen. Wir wissen, dass wir den klassischen Wettbewerb mit diesem Beitrag etwas arg stretchen, aber wir sind überzeugt, dass man sich mit diesen Bildern auseinandersetzen muss.
Und ja, für mich ist dieser Film vielleicht ja auch eine Möglichkeit eines anderen Kinos. Wenn wir uns "DAU" genauer ansehen, dann wissen wir, dass Regisseur Khrzanovsky an die Grenzen gegangen ist. Er hatte unfassbar viel Geld zur Verfügung. Keiner weiß, woher das eigentlich kommt, und vielleicht wollen wir das gar nicht wissen, aber so eine Summe besitzt kaum eine Filmproduktion. Ganz im Gegenteil: Die meisten Filme, die entstehen, haben sehr wenig Geld zur Verfügung. Und wofür hat er das Geld verwendet? Er baut eine ganze Stadt, dann zerstört er diese Stadt. Er hat Schauspieler und berühmte Menschen eingeladen, in dieser Stadt zu wohnen, um wie Häftlinge in einem totalitären Universum zu leben. Das alles hat mehrere Jahre gedauert. Dann er das ganze gefilmt. Es ist etwas eimaliges in der Kinogeschichte, und wir wollten Teile davon zeigen, auch als Geschenk an die Stadt Berlin, weil "DAU" ja ursprünglich hier stattfinden sollte.
Susanne Burg: Wenn es heißt, wie jetzt auch wieder: Wo ist das große Unterhaltungskino auf der Berlinale, dann meinen die meisten Kritiker damit das Hollywood-Kino. Hat der große Gewinn von "Parasite" bei den Oscars nun nicht gezeigt, dass das moderne Unterhaltungskino längst nicht mehr nur aus Hollywood kommen muss?
Carlo Chatrian: Die Tatsache, dass "Parasite" einen Oscar als "Bester Film" gewonnen hat, ist ein großartiges Signal aus Hollywood, vor allem weil Hollywood als uneinnehmbare Festung gilt. Diese Preise sind ein Zeichen der Öffnung. Es ist auch eine Ehrung für einen Film, der ohne weltweit anerkannte Stars funktioniert und der nicht auf Englisch gedreht wurde. Das ist ein tolles Zeichen auch an uns, weil wir in Europa vielleicht merken, dass wir eine größere Star-Obsession an den Tag legen als Hollywood.
Bitte nicht falsch verstehen: Ich denke, Stars sind sehr wichtig, für das Kino und für Festivals, aber alles ist eine Frage der Perspektive: Was ist denn ein Star für das koreanische Publikum? Was ist ein Star für das Publikum eines afrikanischen Landes? Wir haben Stars auf der 70. Berlinale, und wir haben auch Stars aus Hollywood. Ich bin auch sehr glücklich darüber, dass wir mit "Onward" einen Pixar-Film zeigen dürfen, weil die Berlinale das ganze Spektrum des Kinos abbilden sollte. Und wenn wir die "DAU"-Projekte zeigen oder den Found-Footage-Film "Irradiated" von Rithy Panh, dann sollten wir auch Pixar zeigen oder "Pinocchio" mit Roberto Benigni, der ein klassischer Familienfilm ist. Die Berlinale ist ja groß genug, dass da jeder Film seinen Platz findet.
"Jeremy Irons ist offen für Meinungen anderer"
Patrick Wellinski: Wir wollten nochmal auf die Kontroverse um die Ernennung von Jeremy Irons zum Jurypräsidenten zu sprechen kommen. Seine teils konservativen, teils reaktionären Ansichten und Äußerungen zu Frauen und sexuellen Minderheiten gelten als kaum hinnehmbar. Hatten Sie mit den ablehnenden öffentlichen Reaktionen gerechnet?
Mariette Rissenbeek: Also uns war es schon bewusst, dass die öffentliche Debatte nach "MeToo" natürlich sehr viel sensibilisiert ist, als das vielleicht vor fünf oder sechs Jahren der Fall war. Gleichzeitig glauben wir fest daran, dass Jeremy Irons, dadurch, dass er auch schon sehr schnell nach seinen etwas unüberlegten Äußerungen gesagt hat, dass das gar nicht seiner Grundhaltung entspricht und er ein paar unüberlegte Äußerungen gemacht hat, waren wir eigentlich der Meinung, dass man ihn dann auch als einen Jurypräsidenten gut sehen kann, auch weil wir wissen – und das hat Carlo auch aus seiner Erfahrung –, dass Jeremy jemand ist, der sich auch gern mit seinen Jurymitgliedern austauscht, sehr offen ist für Meinungen anderer.
Susanne Burg: Ihr Kollege, Herr Chatrian, Alberto Barbera in Venedig wurde für die Einladung von Roman Polanskis Film "Intrige" letztes Jahr heftig angegriffen. Gibt es inzwischen eine Art Konsens, dass Menschen mit reaktionären und politisch unkorrekten Haltungen und Äußerungen – manchmal auch Taten – keinen Platz auf Filmfestivals haben, egal ob als Jurypräsident oder Regisseur oder Schauspieler?
Carlo Chatrian: Wie drückt sich ein Künstler aus? Passiert das über die Aussagen in Interviews oder geschieht das eher durch und mit seiner Arbeit? Das ist doch die zentrale Frage. Wir leben zudem in einer Welt, in der jedes Wort gespeichert wird, und alles kann aus dem Kontext zitiert und anders verwendet werden, und jeder kann diese Aussagen finden und benutzen. Nichts wird vergessen. Aber für mich drückt sich ein Künstler allein durch seine Arbeit aus, und das gilt auch für Jeremy Irons. Zum Beispiel sein Spiel in "Die Unzertrennlichen" oder "M. Butterfly" drückt zu keinem Zeitpunkt nur einen reaktionären Gedanken aus. Ich verstehe aber auch, dass die Öffentlichkeit zurzeit eine erhöhte Sensibilität ausweist und dass im Zuge dessen das Kino als Hilfsmittel genutzt wird, um ein höheres Bewusstsein für Ungerechtigkeiten und Minderheiten zu erzeugen. Ich möchte das mit der Ernennung von Irons als Jurypräsidenten nicht im Geringsten unterwandern.
Gleichzeitig frage ich mich aber, welchen Einfluss so etwas auf den Auswahlprozess der Filme hat. In meiner Auswahlkommission streiten und beurteilen wir ausschließlich den gesehenen Film, denn dieser Film muss für sich stehen. Wir könnten einen Film auf der Berlinale zeigen, ohne den Regisseur dabei zu haben oder die Schauspieler. Der Film muss sich selbst behaupten. Kino ohne Filme ist unmöglich, und das fehlt mir in der Debatte. Manchmal sind alle so sehr damit beschäftigt alles zu kommentieren, was um einen Film herum passiert, dass niemand mehr genau auf die Bilder schaut. Das Drumherum ist wichtig und politisch korrekt, aber das eigentliche Werk wird ignoriert. Das halte ich für einen Fehler.
Viel Deutsches im Wettbewerb
Patrick Wellinski: Sie haben zwei deutsche Filme im Wettbewerb. Quer durchs Programm gibt es einige deutsche Filme, aber dennoch nicht ganz so viele wie in den letzten Jahren. Haben Sie sich da durchgesetzt, oder wie groß ist der Druck auf Sie gewesen, möglichst viele deutsche Produktionen zu zeigen?
Mariette Rissenbeek: Also erst mal als German-Films-Vertreterin, die immer versucht hat, deutsche Filme über die ganze Welt zu verteilen, bin ich natürlich zwar einerseits sehr froh, wenn deutsche Filme bei der Berlinale laufen, weil das wirklich eine sehr gute Plattform für die Filme ist, aber gleichzeitig möchte man auch, dass der deutsche Film erwachsen ist und in der ganzen Welt zu sehen ist. Also da wäre ich ein bisschen gespalten. Also ich habe aber den Eindruck, wie Sie schon sagen, dass Carlo mit zwei Filmen im Wettbewerb plus die Produktion "Schwesterlein", die in deutscher Sprache ist und mit Nina Hoss und Lars Eidinger auch sehr prominent deutsch besetzt ist, auf jeden Fall ein starkes deutsches Jahr hat. Ich denke immer, es muss der richtige Film für den Kontext sein, und es macht überhaupt keinen Sinn, an eine Anzahl von Filmen zu denken, wenn die Filme jeder für sich dann nicht an dem richtigen Ort sind.
Carlo Chatrian: Die deutsche Filmindustrie ist dieses Jahr auf der Berlinale verstärkt als Koproduktionspartner präsent. Das ist auch ein sehr starker Aspekt quer durchs ganze Programm. Der iranische Wettbewerbsbeitrag von Muhammad Rassoulof wäre ohne einen deutschen Produzenten nicht im Ansatz möglich gewesen. Das gleiche gilt für den Wettbewerbsfilm von Abel Ferrara. Wenn man sich also das ganze Bild ansieht, merkt man, dass es vielleicht nicht nur darum geht, nach deutschen Regisseuren zu suchen oder nach deutschen Produktionsfirmen. Das ganze Bild ist komplexer und wesentlich diverser. Das ist meiner Ansicht nach ein sehr gutes Zeichen. Wenn Sie mir eine Aussage als Nicht-Deutscher erlauben: Mir fällt auf, dass zu viele deutsche Produktionen sich zu sehr darum bemühen, allein das Heimpublikum zu erreichen, aber wenn man sich entwickeln möchte, sollte man vielleicht beginnen auch an ein anderes, größeres Publikum denken.
Susanne Burg: Warum braucht es aber Ihrer Meinung nach immer noch eine Sektion wie "Perspektive Deutsches Kino"? Wenn es gute deutsche Filme gibt, dann kann man sie doch im Programm zeigen? Es ist schwer vorstellbar, dass in Cannes eine französische Reihe stattfindet oder in Venedig eine Reihe mit italienischen Filmen?
Carlo Chatrian: Ja, andere Festivals haben andere Konzepte, wobei ich erwähnen möchte, dass sowohl Cannes als auch Venedig eine Zeit lang Sektionen hatten, die als Schaufenster für die heimischen Produktionen genutzt wurden. Es ist aber auch wahr, dass beide Festivals darauf mittlerweile verzichten. Wir haben uns gemeinsam mit der Sektionsleiterin Linda Söffker entschieden, an der "Perspektive Deutsches Kino" zu arbeiten. Wir haben die Sektion verkleinert, wollen aber, dass sie weiterhin ein Ort für frische Stimmen im deutschen Kino ist. Das ist auch unsere Pflicht als Berlinale. Wir zeigen auch Debütfilme in anderen Sektionen, aber für mich ist die "Perspektive" kein Ghetto, wie das immer in der Presse genannt wird. Eher ein Inkubator, der es ermöglicht, Regisseuren, Produzenten und einem großen Publikum zusammenzukommen und sich über den deutschen Film zu verständigen.