Zu Hause im Vergessen
Im niederländischen Städtchen Hogeweyk gibt es eine Wohnsiedlung, die nach den Regeln von Demenzkranken funktioniert. Dort teilen sich mehrere alte Menschen eine Wohnung - jede an das einstige Leben der Bewohner angepasst.
"Okay, gehen wir rund hier in de Hogeweyk. Jetzt stehen wir hier auf Theaterplatz. Wir denken, dass es wichtig ist für Menschen mit tief Demenzkrankheit, dass sie irgendwo leben, wo sie das normale Leben weitersetzen können… draußen ist es für unsere Bewohner nicht gut, dort versteht man nicht, was die Menschen mit Demenzkrankheit haben möchten, was die meinen,… ja, es wäre schön, wenn die Gesellschaft eine gute Platz für Menschen mit schwere Demenzkrankheit wäre, aber das ist nicht so, noch nicht, vielleicht."
Auf den ersten Blick wirkt in de Hogeweyk alles ganz normal. Es ist ein schöner Tag, die Sonne scheint und viele Bewohner der Siedlung flanieren durch die Gegend. Über den Theaterplatz mit plätschernden Brunnen geht es in die Einkaufsstraße, die hier Boulevard heißt. Dort gibt es einen Friseursalon, eine Praxis für Krankengymnastik, ein Café, einen Supermarkt, einen Reparaturservice und ein Veranstaltungsbüro für allerlei Aktivitäten: Vom gemeinsamen Backen über Bingo, Ikebana, Schwimmen und Wandern bis zum wöchentlichen Treff des königstreuen Oranje-Vereins.
"Es ist ein ganz normale Wohnviertel, aber ja, was nicht normal ist, ist, dass man nicht alleine draußen kann, aber das ist wie kleine Kinder auch, ich habe ein, wie nennt man das, Enkelsohn, ein Kleinkind, …er ist 15 Monaten alt, er kann auch nicht alleine auf die Straße gehen, das ist zu gefährlich, ich bin für ihn verantwortlich. Und das ist hier auch so."
Sieben verschiedene Lebensstile
Yvonne van Amerongen hat das Wohnprojekt für Demenzkranke vor 20 Jahren mit aus der Taufe gehoben. 60 Fragen müssen die Bewohner oder ihre Angehörigen vor dem Einzug in de Hogeweyk beantworten. Das Ergebnis ordnet dem Bewerber einen von sieben verschiedenen Lebensstilen zu, die die Bevölkerungsgruppen in der niederländischen Gesellschaft repräsentieren sollen. Wer früher zum Beispiel gerne ins Theater, zu Konzerten oder Kunstausstellungen ging, ist in der kulturellen Wohngruppe richtig. Außerdem gibt es städtische, handwerkliche, vornehme und häusliche Wohngruppen. Sogar für Niederländer, die aus der ehemaligen Kolonie Indonesien stammen oder eine Zeit ihres Lebens dort verbracht haben, gibt es ein eigenes Domizil.
"Henk de Rooy ist mein Name und ich versuche, hier in der Wohnung immer mit anzupacken. Ein bisschen aufräumen oder abwaschen oder zumindest das Geschirr in die Spülmaschine stellen, einfach Initiative ergreifen, damit hier alles rund läuft. Den ganzen Tag still zu sitzen, das ist nichts für mich. Wir tanzen auch manchmal, ich und die fünf Frauen, das ist lustig."
Mit 78 Jahren ist Henk de Rooy einer der jüngsten Bewohner in de Hogeweyk. Das Durchschnittsalter beträgt 84. Er ist gut beieinander heute Morgen, sagt seine Betreuerin, aber das kann in einer halben Stunde schon wieder anders sein. Was zählt ist der Moment. Ihm gefällt es hier – mit einer kleinen Einschränkung:
"Ich vermisse nur meine Freiheit, logisch. Ich kann nicht alleine nach draußen, denn dann verlaufe ich mich. Das muss man akzeptieren, und das war am Anfang ein bisschen schwierig. Aber es geht eben nicht anders, denn wenn ich rausgehe, dann weiß ich nicht, ob ich hierhin oder dahin laufen muss. Dann bekomme ich Angst. Aber sonst ist alles prima."
Den Weg zu seinem Zimmer zu finden, ist für Henk de Rooy jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung. Zögernd setzt er sich in Bewegung. Andere Richtung, ruft die Betreuerin. Der alte Mann stutzt, bleibt abrupt stehen und macht kopfschüttelnd eine Kehrtwendung. An seiner Zimmertür hängen als Orientierungshilfe ein Foto und sein Name in Großbuchstaben.
Henk de Rooy weiß, dass seine Frau nicht mehr lebt, aber die Fragen, wann sie gestorben ist und wie lange er schon in de Hogeweyk wohnt, sind für ihn schwer zu beantworten. Wie alles, was mit der Erinnerung der jüngsten Vergangenheit zu tun hat. Hilflos und ein wenig beschämt wendet er sich an die Altenpflegerin.
Joke weiß das bestimmt, sagt er. "Ne Joke, wie lange wohne ich schon hier?"
Drei Jahre, sagt Joke, die mit Nachnamen van Putten heißt und die Wohnung von Henk de Rooy und seinen fünf Mitbewohnerinnen tagsüber betreut. Eine sportliche Frau, Mitte, Ende 40, mit einem strubbeligen Kurzhaarschnitt und fröhlich blitzenden Augen, die statt eines weißen Kittels Jeans und T-Shirt trägt. Auch wenn sie außerhalb von de Hogeweyk lebt, ist Joke van Putten für die Wohngruppe eine feste Bezugsperson.
"Einige der Damen und auch der Herr, die erkennen mich wieder. Sie wissen wie ich aussehe, manche kennen sogar meinen Namen. Für andere ist es vielleicht ein Gefühl von Bekanntheit. Manchen stelle mich jeden Tag aufs Neue vor: Ich bin die Schwester, ich helfe Ihnen gerne, finden Sie das in Ordnung?"
Umgebung an Menschen anpassen
Joke van Putten ist eine von 250 festangestellten und 150 freiwilligen Helfern, die mit ganz alltäglichen Beschäftigungen versuchen, die verwirrten alten Menschen aus ihrer krankheitsbedingten Starre zu reißen. Für Henk de Rooy ist heute ein guter Tag. Er weiß, wo er ist und warum. Und hatte eine Antwort auf fast alle Fragen.
"Bis er gebeten wurde, sein Zimmer zu zeigen. Da lief er vorhin in die vollkommen falsche Richtung, war komplett desorientiert und wusste nicht, wo sein Schlafzimmer ist. Manchmal kommt er auch morgens ins Wohnzimmer und fragt sich: Gott, wo bin ich hier? Dann muss man ihn eben ins Hier und Jetzt zurückholen, ihm erklären, dass er in de Hogeweyk ist, bis er sagt, oh ja, jetzt weiß ich’s wieder."
Die Devise von de Hogeweyk lautet: Wenn der Mensch sich nicht mehr an seine Umgebung anpassen kann, muss sich die Umgebung dem Menschen anpassen. Dementsprechend wurde die Siedlung konstruiert. Es gibt es keine Hürden, die die Bewohner nicht bewältigen können. Türen öffnen sich wie von Geisterhand und auch der Fahrstuhl kommt von selbst, denn er hat einen Sensor. Er hat auch Knöpfe, die man drücken kann. Muss man aber nicht, denn sobald jemand den Fahrstuhl betritt, fühlt er das Gewicht und bringt die Person die eine Etage nach oben oder unten.
"Was mir gefällt, ist, dass ich den Menschen hier auf meine Art begegnen kann. Sie wohnen hier, aber sie leben in ihrer eigenen Welt und ich bin ein Teil dieser Welt. Das finde ich sehr schön. Ich mag dieses freie Arbeiten, und dass die Menschen hier nicht in einem Standard-Pflegeheim wohnen, sondern in einer echten Siedlung, wo sie sich frei bewegen können. Wie Henk de Rooy, der mit seiner Freundin gerne durch die Siedlung läuft. Er schiebt dann den Rollstuhl, so machen sie zu zweit einen Spaziergang. Dass sie sich frei bewegen können, das finde ich wirklich schön."
Tagsüber stehen bis auf die Eingangspforte alle Türen offen; abends, wenn die Leute ins Bett gehen oder Fernsehen gucken, werden die Wohnungstüren abgeschlossen. Der Nachtdienst überwacht akustisch, ob alles in Ordnung ist und betritt die Wohnungen nur, wenn es nötig ist. Die positiven Auswirkungen sind durchaus spürbar und messbar. In de Hogeweyk sind die Bewohner seltener krank, insgesamt ruhiger und bekommen weitaus weniger Psychopharmaka als im alten Pflegeheim, das bis 2006 auf dem Gelände stand.
"Damals habe ich gesehen im Altbau, das war ganz normal, dass man den ganzen Tag lang Menschen schreien hörte usw. und jetzt ist das nicht so, wenn jemand schreit, dann ist das sogleich etwas, dass wir alle denken, oh, was ist geschehen, was ist, es ist sehr bemerkenswürdig, dass jemand schreit."
Für Yvonne van Amerongen ist ein möglichst gewohnter Lebensstil die wichtigste Voraussetzung für das Wohlbefinden dementer Menschen. Möglichst viel aus ihrem alten Leben soll sich in den Wohnungen wiederfinden. Ein Radio soll aussehen wie ein Radio, eine Kaffeekanne wie ein Kaffeekanne und die Klobrillen sind schwarz, wie die meisten Bewohner sie noch von früher kennen, und nicht so wie heute üblich weiß.
Auch Mittellose können in Hogeweyk wohnen
In der Wohnung der sogenannten upper class ist der Esstisch mit langstieligen Weingläsern und schweren Stoffservietten eingedeckt. An der Decke hängen zwei elegante Kristallleuchter. Obwohl es hier deutlich schicker aussieht, liegt das Budget wie in allen Wohnungen pro Person bei 5200 Euro im Monat und damit genauso hoch wie in anderen niederländischen Pflegeheimen. Die zahlt zunächst einmal komplett der Staat, so dass auch mittellose Menschen in de Hogeweyk wohnen können. Wer vermögend ist oder Angehörige hat, die gut verdienen, muss allerdings einen Teil der Kosten übernehmen.
Im indonesischen Haus sind die Wände fröhlich gelb, orange und hellgrün gestrichen, auf Sofas und Sesseln liegen bunte Kissen. Überall stehen Pflanzen und Kunstgewerbegegenstände aus der alten Heimat der Bewohner. Es duftet nach Reis und frischem Koriander. Im Winter, erzählt die Managerin, sei es hier zwei Grad wärmer als in den anderen Häusern, weil die Bewohner gern barfuß laufen. Eine hagere, alte Frau döst eingesunken im Sessel. In den Armen eine Babypuppe, die sie fest umschlungen hält.
Im hauseigenen Sportclub sitzt ein gutes Dutzend alter Frauen und Männer im Kreis. Sie stampfen mit den Füßen und werfen, schießen und schubsen sich einen riesigen Gummiball zu. Nur einer hat keine Lust und will lieber ein Päckchen Zigaretten kaufen. Der ehrenamtliche Helfer, ein kräftiger junger Mann, hat reichlich Mühe ihn davon abzuhalten und wieder auf den Stuhl zu bugsieren. Die Gymnastiklehrerin versucht, den alten Herrn zu beschwichtigen.
Bewegung und Beschäftigung sind das A und O in de Hogeweyk. Denn wer rastet, der rostet. Laut einer Untersuchung kommen Demenzkranke in den Niederlanden durchschnittlich nur 96 Sekunden am Tag an die frische Luft. 96 Sekunden. Das sind weniger als zwei Minuten. Zu wenig, um das Gehirn auf Trab zu halten. Auch wenn es bei dieser Krankheit keine Aussicht auf Genesung gibt, können Bewegung und ein aktives Leben den Prozess verlangsamen.
"Aktiv sein ist sehr wichtig für das Gehirn,…darum ist bewegen und bewegen und frische Luft natürlich noch besser so wichtig und auch ist bewegen, Aktivität ist wichtig für die ähm spieren, wie nennt man das, …Muskeln, dass die gut bleiben, dass man fit bleibt und …wir sehen sehr viele Menschen herumlaufen und die bleiben fit, weil sie das wirklich jeder Tag machen."
Bereits 2004 starteten die Niederlande ein nationales Demenzprogramm. Mit 57 Pilotprojekten sollte ein bedarfsgerechtes Pflegeangebot geschaffen werden, das den Wünschen und unterschiedlichen Bedürfnissen der Patienten entspricht. Ein weiteres Ziel war, die Beratung und Unterstützung von pflegenden Angehörigen zu verbessern. Mit 3,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts sind die Niederlande in Europa allerdings auch Spitzenreiter bei den öffentlichen Ausgaben für die Altenpflege. In Deutschland, wo wesentlich mehr Senioren zuhause betreut werden, betragen sie gerade mal ein Prozent.
"Eine schwierige Frage, die viele aus der Familie und dem Bekanntenkreis stellen, ist: Gefällt es Deiner Mutter dort? Darauf gibt es eigentlich gar keine Antwort. Ich weiß nicht, ob sie sich überhaupt der Tatsache bewusst ist, dass sie hier lebt. Ich habe schon den Eindruck, dass es ihr gut geht, aber das wichtigste ist, dass es eine sichere Umgebung für sie ist."
sagt Ruud Isaak, der mit seiner Mutter Minnie, die er liebevoll Müss nennt, durch de Hogeweyk schlendert.
"Ich habe versucht, so gut es geht für meine Mutter zu sorgen. Aber als sie eines Nachts um drei in ihrer Unterhose draußen in der Kälte stand, war das einfach das Zeichen, dass man keine Kontrolle mehr hat."
Wenn es Dir zu lange dauert, sag Bescheid, dann laufen wir weiter.
Wir hören auch gleich auf zu reden, sagt Ruud Isaak zu seiner Mutter und dann:
Das seien die Momente, wo man merkt, es geht nicht länger.