Das Nordsee-Wetter
Deiche und Ufermauern werden in Schleswig-Holstein den Klimawandel nicht verhindern. Der Meeresspiegel steigt langfristig an, die Naturgewalten kratzen jetzt schon sichtbar an den Inseln. Zudem erlebt die Nordsee zurzeit die intensivste Wärmephase seit 130 Jahren.
Gutes Wetter hat Gäste auf die Hamburger Hallig gelockt. Umgeben von Salzwiesen ragt sie wie eine Halbinsel ins Wattenmeer hinein, vor Hochwasser geschützt durch einen meterhohen gras bewachsenen Deich. Zu Fuß sind die Besucher die vier Kilometer vom Festland herüber gewandert. Oder mit dem Auto über die schmale Betonpiste gerumpelt. Jetzt sitzen sie vor der reetgedeckten Gastwirtschaft an Holztischen, vor sich eine Tasse Kaffee oder einen Teller Bratkartoffeln mit Matjesfilet. Vor ihren Augen erstreckt sich die weite Wattlandschaft: eine der fruchtbarsten Regionen der Erde, Kinderstube vieler Fischarten und Drehscheibe des Vogelzuges. Das Wattenmeer erstreckt sich von den Niederlanden entlang der deutschen Nordseeküste bis hinauf nach Dänemark – rund 8000 Quadratkilometer Meeresgrund unter dem Einfluss des Gezeitenwechsels. Große Teile davon stehen heute unter Schutz.
Graugrüner Schlick soweit das Auge reicht, geriffelt durch Wasser und Wind, von Pfützen und Wasserläufen durchzogen.
Eine trostlose Wüste. Aber nur auf den ersten Blick. Martin Kühn hat Schuhe und Socken ausgezogen. Vorsichtig stapft der Ranger vom "Nationalpark deutsches Wattenmeer" über den Meeresboden. Rutschig ist er an einigen Stellen, fest an anderen. Dann wieder sinkt man bis zum Knie in den grauen Matsch. Martin Kühn bleibt stehen und beugt sich hinab.
"Ja, ganz nach Goethe eigentlich: ‚Ich sehe, was ich weiß’. Wenn man es denn erst einmal erkannt hat, was das ist, sieht man es ganz häufig. Was ich zeigen will ist hier der Bäumchenröhrenwurm."
Mit bloßem Augen kaum zu erkennen, ragt etwas aus dem Boden, das wie die Borsten eines winzigen Pinsels aussieht. Martin Kühn gräbt mit zwei Fingern, fördert ein schlauchartiges Gebilde zutage, kaum fünf Zentimeter lang.
"Was wir hier sehen, ist die Wohnröhre des Bäumchenröhrenwurms. So sieht die aus ..."
Eine Schutzhülle aus Sand und Bruchstücken von Muscheln, geschaffen von einem Lebewesen, das mit feinen Tentakeln im Nordseewasser nach Nahrung angelt. Auch ringsum wimmelt der schlammige Boden nur so von Leben. Hunderttausende winziger Kieselalgen leben hier auf jedem Quadratmeter. Sie bilden einen bräunlichen Überzug auf dem Boden und dienen anderen Organismen als Nahrungsgrundlage – Wattschnecken und vielen Muschelarten, Krebsen und Krabben. Auch für Vögel ist der Tisch im Watt reich gedeckt. Draußen am Wassersaum folgen Möwen und Austernfischer, Rotschenkel und Brachvögel dem ablaufenden Wasser.
"Bis in die 80er Jahren hinein haben wir die Nordsee als Müllkippe benutzt. Wir haben ja Dünnsäure verklappt. Wir haben mit Schiffen Sondermüll auf der Nordsee verbrannt. Das waren ja enorme Einträge von Schadstoffen! Es wurde über die Flüsse Abwasser eingeleitet, mit Cocktails, die wirklich äußerst gefährlich waren. Wir haben über die Landwirtschaft DDT eingetragen bekommen. Also, wir haben die Nordsee als Müllkippe benutzt."
Helmut Grimm hat jahrelang das Nationalpark-Amt geleitet. Er hat den Protest gegen die Gründung des Schutzgebietes vor 20 Jahren erlebt – aber auch, wie seitdem nach und nach die Vorbehalte der Küstenbewohner schwanden. Inzwischen betrachten die meisten den Nationalpark nicht mehr als Hindernis, sondern als Chance für die Region – auch, weil ein Ausgleich gelungen ist zwischen den wirtschaftlichen Interessen auf der einen Seite und den Erfordernissen eines strengen Naturschutzes auf der anderen. Das gilt für die Landwirte, aber etwa auch für die Muschelfischerei.
"Wir haben in Zusammenarbeit mit den Muschelfischern vor Jahren schon ein Konzept entwickelt, dass sie bestimmte Flächen nutzen können, wo sie die Muscheln züchten, während sie Wild-Muscheln nicht mehr anlanden dürfen. Dass heißt, wir haben die Miesmuschelfischerei auf ganz bestimmte Gebiete begrenzt. Das ist ein Kompromiss, der auch von Naturschützern und Nutzern akzeptiert wird – und von den Nutzern sogar für gut befunden wird, weil sie Planungssicherheit haben."
Heute aber kämpfen die Fischer mit Problemen ganz anderer Art. Seit einigen Jahren gehen die Bestände an Miesmuscheln rapide zurück, stockt auch die natürliche Vermehrung. Dabei sind Miesmuscheln im Grunde besonders fleißig, wenn es um ihre Fortpflanzung geht, erzählt Rainer Borcherding von der Schutzstation Wattenmeer in Husum.
"Es gibt männliche und weibliche. Und die geben im Frühjahr, Ende März etwa, ihre Geschlechtszellen ins Wasser ab. Ein Muschelweibchen kann fünf Millionen bis zu zwölf Millionen Eier produzieren und die Männchen entsprechend Millionen von Spermien. Die treffen sich dann da. Im Frühjahr hat man pro Kubikzentimeter Wattenmeerwasser ein Miesmuschel-Ei – oder eine Larve herumschwimmen."
Seit einigen Jahren aber macht sich die Miesmuschel rar – und zwar nicht nur entlang der Nordseeküste in Deutschland, Holland und Dänemark. Auch in Norwegen und Irland beobachten Fischer seit längerem, dass der Lebenszyklus der Miesmuscheln aus den Fugen gerät. Die Folgen des Klimawandels – im Wattenmeer sind sie bereits mit Händen zu greifen. Die Nordsee ist wärmer geworden. Miesmuscheln aber brauchen kalte Winter, um sich erfolgreich fortzupflanzen. Denn eisige Temperaturen halten Jungkrebse, Garnelen und andere natürliche Feinde so lange von den seichten Zonen im Wattenmeer fern, bis die Muschellarven im Frühjahr zu groß sind, um gefressen zu werden. Nach warmen Wintern dagegen, klagt Biologe Borcherding, verputzten Krebse und Seesterne die Babymuscheln fast restlos. Schlimmer noch - inzwischen würden auch die verbliebenen Elternmuscheln beginnen, zu vergreisen.
"Fakt ist, eine Miesmuschel wird nur höchstens sechs, acht, zehn Jahre alt. Und jetzt haben wir seit zehn Jahren keine Fortpflanzung mehr gehabt. Die Muscheln sind an vielen Stellen dabei, wegzusterben."
Dafür erobert eine andere Muschelart derzeit das Wattenmeer, die ursprünglich von den Küsten Japans und Koreas stammt: die Pazifische Auster. Vor gut fünfzehn Jahren fanden Forscher die ersten wilden Exemplare im Watt vor der Nordseeinsel Sylt. In den heißen Sommern 2003 und 2004 vermehrte sie sich explosionsartig. Heute bevölkert sie Muschelbänke und Molen mit bis zu 1000 Tieren pro Quadratmeter. In List, ganz im Norden der Insel, kann man sie probieren. "Gut kauen", empfiehlt Bine Pöhner in der Probierstube der Firma Dittmeyer. Dann erst käme der zart-nussige Geschmack der Sylter Royal zu voller Geltung.
"Die Pazifische Felsenauster hat sich als sehr robust erwiesen und fühlt sich hier in dem Klima sehr wohl. Das Wattenmeer ist ja ein Biotop, auch von den Naturschützern stark beäugt, fernab von Wasserschifffahrtsstraßen oder Schwerindustrie. Und das Wattenmeer ist sehr nährstoffreich. Die Auster ist ja ein Filtertier und filtert sich die ganzen Nährstoffe aus dem Wasser raus."
Seit 20 Jahren züchtet die Firma Austern im Sylter Watt. Das Geschäft brummt. Bis zu 20.000 Schalentiere verschickt das Unternehmen Tag für Tag an Gourmets in ganz Deutschland – in zünftige Bastkörbchen zwischen Reet gebettet und sorgfältig verschnürt. Gütesiegel Schleswig-Holstein inklusive. Der Zuchterfolg ist das eine, die Ausbreitung wilder Austern im Watt etwas anderes. Lange galt die Nordsee als zu kalt für die Fortpflanzung der Exotin. Dass sie in zwischen drauf und dran ist, die heimische Miesmuschel als vorherrschende Tierart abzulösen, führen Experten auf die Klimaerwärmung zurück – eine Entwicklung, die Carsten Pusch vom Naturschutzbund NABU Sorgen macht, seit es die Austernzucht auf Sylt gibt.
"Zur Überraschung aller haben schon einige Jahre später die ersten Brutfälle eingesetzt. Die Auster hat sich ausgebreitet, macht das wohl auch in den letzten Jahren vor allem ganz stetig und hat mittlerweile schon große Flächen besiedelt. Natürlich nicht das ganze Wattenmeer! Aber es gibt, ausgehend von den Zuchtanlagen in List, doch etliche Flächen Wattenmeer, die stark besiedelt sind."
Wird die Pazifische Auster die Miesmuschel im Wattenmeer vollständig verdrängen? Wie stark werden die Veränderungen auch andere Tier- und Pflanzenarten betreffen? Viele Fragen dieser Art bleiben derzeit noch unbeantwortet. Fest steht hingegen, dass mit dem weltweiten Schiffsverkehr immer mehr exotische Arten eingeschleppt werden. Und sich dann dauerhaft ansiedeln, wenn die Umweltbedingungen nach ihrem Geschmack sind. Geht es allerdings um die Abwägung zwischen möglichen ökologischen Folgen des Klimawandels auf der einen und ihrem möglichen wirtschaftlichen Nutzen auf der anderen Seite, hat die Kieler Landesregierung ihre Prioritäten längst festgelegt. Christian Seyffert vom Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt jedenfalls gibt sich entschlossen, alle neuen Chancen zu ergreifen.
"Wir haben ja nicht die Absicht, unbedingt zum europäischen Austernzuchtzentrum zu werden – das vielleicht nicht. Aber wir wollen gerne den Bereich Marine Aquakultur stärken in Schleswig-Holstein. Weil wir denken, dass das eine Zukunftschance für das Land auch in Zukunft sein könnte. Von daher ist es nicht ausgeschlossen, dass sich hier eine Umwegrendite gerade dadurch für das Land entwickelt."
Ein Vertrag gestattet es dem Unternehmen Dittmeyer inzwischen, die wilden Austern im Watt auch kommerziell zu nutzen. Zunächst für eine begrenzte Zeit und unter behördlicher Aufsicht. In dieselbe Richtung weisen Gedankenspiele rund um die sinkenden Miesmuschelbestände. Saatmuscheln könnten im Wattenmeer künstlich gezüchtet werden – und zwar in den Salzwasserseen hinter dem Deich. Im Prinzip kein Problem, so der Biologe Rainer Borcherding von der Schutzstation Wattenmeer in Husum.
"Man kann technisch mit ein paar Miesmuscheln in einem Wassertank Millionen von Eiern erzeugen, die man dann zur Ansiedelung an Schnüren ermuntert. Da kann man dann aus den ein Millimeter kleinen Jungmuschellarven Jungmuscheln heranzüchten, die man dann mit einem Zentimeter Größe draußen auf die Kulturflächen schmeißen kann."
Einen entsprechenden Antrag der Muschelfischer prüft derzeit die örtliche Naturschutzbehörde. Die Fischer sehen darin den Einstieg in die marine Aquakultur. Umweltschützer wie Ingo Ludwichowski vom NABU dagegen fürchten erhebliche Eingriffe in bisher geschützte Gebiete.
"Die jetzige Situation bedeutet, dass man noch einmal über den Vertrag, der schon erhebliche Zugeständnisse vom Naturschutz verlangt hat, hinausgeht und weitere Bereiche, die bislang ungestört geblieben sind, in die Nutzung mit einbezieht und damit den Naturschutz massiv beeinträchtigt."
Nicht nur Tiere und Pflanzen sind von den Folgen des Klimawandels betroffen. Auch die Menschen entlang der Küsten von Nord- und Ostsee, auf den Inseln und Halligen bekommen sie längst unmittelbar zu spüren. Ein Bild davon kann man sich in Hörnum machen, an der Südspitze Sylts. Als hier vor elf Jahren ein Strandlokal in den Dünen eröffnete, stand das Gebäude noch 17 Meter von der Abbruchkante entfernt. Die ist mittlerweile auf drei bis vier Meter herangerückt, die Nordsee inzwischen zum Greifen nah. Hier kann selbst der Urlauber ermessen, was die Einheimischen schon länger beschäftigt: Sylt, dieses Bollwerk des Festlands, ist gefährdet, die Insel jedenfalls in ständiger Bewegung. Karsten Reise, vom Alfred-Wegner Institut für Polar- und Meeresforschung in List, beschäftigt sich seit langem mit diesem Thema.
"Solange es die Insel Sylt gibt, wird sie vom Meer umgeformt, weil der Meeresspiegel eine variable Größe ist. In den letzten Jahrhunderten ist er stetig angestiegen. Und wir wissen, dass er in Zukunft noch schneller steigen wird. Damit entwickelt die Nordsee Kräfte gegenüber den Sandbänken und Inseln, denen die Wellen begegnen, formt sie um, verschiebt sie. Und Sylt ist eine der Inseln an der schleswig-holsteinischen Küste, die zu weit nach vorne ragt. Und das Meer arbeitet daran, sie mit den Nachbarinseln auf eine Reihe zu bringen."
Im Grunde erlebt die Insel Jahr für Jahr das gleiche Schauspiel – eine Art von Krieg, den Mensch und Meer gegeneinander führen. Im Winter reißt die See Hunderttausende Kubikmeter Sand mit sich fort, im Sommer dann werden sie mit Hilfe von Baggerschiffen und schwerem Gerät wieder aufgeschüttet. "Futter vorwerfen" nennen das die Insulaner. Sie setzten darauf, das gierige Meer zufrieden zu stellen, bevor es ab Oktober wieder zu stürmen und zu nagen beginnt. So geht das schon seit 25 Jahren. Dieses Jahr aber scheint alles anders zu sein. Zwar waren die Stürme nicht heftiger als ehedem, aber häufiger, die Verluste größer denn je. Unmittelbar vor Westerland gibt es keinen Strand mehr, bei Flut klatscht die Brandung direkt an die Mauern der Uferpromenade. Drei Stunden haben sie einst gebraucht, um die Südspitze der Insel zu umwandern, klagt Heidi Koppe, die hier eine Ferienwohnung besitzt. Heute reiche die Hälfte der Zeit.
"Die Leute, die hier wohnen, die bisher immer gesagt haben: ach, hier passiert schon nichts; die spüren schon ein bisschen, das reicht, die haben wirklich Angst. Manche Leute, die direkt in der Kersig-Siedlung ganz am Ende wohnen, die überlegen schon, ob sie nicht im Winter irgendwann aus ihrem Haus rausgehen, weil sie Angst haben, dass das Wasser irgendwann zur Tür rein läuft."
Die Landesregierung reagiert prompt: im kommenden Jahr will sie die Mittel für die Sandvorspülungen auf über sechs Millionen Euro nahezu verdoppeln. Die Durchhalteparole aus Kiel lautet: Ein notwendiger Kraftakt - zum Schutze der Menschen, ihrer Häuser, der vielen Sommergäste. Einen verlorenen Kampf nennt dagegen Meeresforscher Karsten Reise den Plan.
"Für Sylt wie auch für andere strandige Küsten gilt eigentlich, dass wir auf Dauer eigentlich keine Chance haben, die Position, die eine solche Insel, die ein solcher Strand hat, zu halten. Wir müssen uns da wirklich planerisch auf einen Rückzug einstellen."
Angesichts steigender Meeresspiegel schlägt Karsten Reise vor, den Stellungskrieg gegen die Kräfte des Meeres aufzugeben und auf eine beweglichere Strategie zu setzen.
"Wenn die Nordsee daran arbeitet, die Insel Sylt zu verschieben, kann man sich überlegen, wie weit man das einfach akzeptiert und mit den Kräften der Natur geht. Man könnte den Sand auch auf die andere Seite der Insel, auf die geschützte Seite, auf die Leeseite spülen. Dort würde er viele Jahrzehnte liegen bleiben. Dann würde man wohl akzeptieren, dass die Insel auf der anderen Seite verliert. Aber auf der anderen Seite hätte man ein Polster geschaffen, das sich dann auch wiederum nutzen ließe."
Der geordnete Rückzug hätte natürlich gravierende Folgen. In den nächsten 300 Jahren würde die Insel um etwa 300 Meter in Richtung Küste wandern. Im Hauptort Westerland müsste ein Teil der 9300 Einwohner auf die andere Seite der Insel umziehen – mitsamt ihrer Häuser, Straßen und Cafés. Als "Blödsinn" quittiert die Bürgermeisterin von Westerland solche Gedankenspiele. Ein Stück weiter im Norden schüttelt auch der Bürgermeister von Kampen, Harro Johannsen, nur mit dem Kopf.
"Für mich völlig inakzeptabel, das diese Lösung angedacht wird. Die Sicherung der Westküste hat Vorrang vor allen anderen Überlegungen. Insofern kann ich mich mit diesem Vorschlag, auch wenn er wissenschaftlich erforscht ist, nicht anfreunden und werde dem auch nicht näher treten können."
Professor Reise, ein schmaler Mann mit silbernem Seemannsbart, zuckt mit den Schultern. So wie bisher gehe es schlicht nicht weiter. Seit zehn Jahren redet er so. Und steht damit in Sylt und andernorts, jedenfalls was die Politik betrifft, auf verlorenem Posten. An seiner Seite weiß er dagegen Achim Daschkeit, der an der Kieler Universität Küstengeografie betreibt.
"Es ist ganz offensichtlich, dass wir es auch in den nächsten Jahrhunderten mit einem steigenden Meeresspiegel zu tun haben werden, der andere Größenordnungen haben wird, als wir uns jetzt vorstellen können. Wenn wir für die nächsten 3000 Jahre das Abschmelzen des grönländischen Eises bedenken – und das sieht im Moment alles danach aus – dann könnte sich der Meeresspiegel um insgesamt sechs bis sieben Meter erhöhen. Und dann wäre natürlich Sylt wie auch viele andere Nordseeinseln gar nicht mehr zu halten. Da kann man auch nicht mehr Deiche gegen an bauen, kann auch nicht mehr dagegen vorspülen."
Auf lange Sicht sehen Wissenschaftler wie Karsten Reise auch die Menschen entlang der Küste ihre Häuser wieder auf erhöhten Warften bauen, untereinander mit Brücken und Dämmen verbunden. In dieser teils amphibischen Landschaft könnten sie Fische züchten oder Algen, statt Felder zu bestellen. Mit der Dynamik der Natur leben statt sich mit Beton gegen sie zu wehren - in Kiel kann Umwelt- und Landwirtschaftsminister Christian von Boetticher solche Visionen nur belächeln.
"Dann ziehen wir uns alle hinter Hamburg zurück, hinter die Elbe. Und wenn wir uns ganz sicher seien wollen für die nächsten 500 bis 1000 Jahre, vielleicht bis zur nächsten Eiszeit, gehen wir in den Harz oder noch weiter nach Süden. Das kann man natürlich vorschlagen. Nein, bei allem Respekt vor wissenschaftlicher Meinung, kommt diese Alternative für uns nicht in Betracht!"
Beim Thema Küstenschutz setzt der Politiker auf alte Strategien: Entlang der Nordsee sollen die Deiche in den nächsten Jahren Stück für Stück um 50 Zentimeter erhöht werden, an der Ostsee um 30 Zentimeter. Auf über 100 Kilometern Länge. Bis zum Ende des Jahrhunderts soll das reichen. Karsten Reise, der Meeresbiologe, hält solche Pläne bestenfalls für kurzsichtig. Den Widerstand gegen den notwendigen Rückzug schreibt er letztlich einem Charakterzug der Einheimischen zu, die seit Jahrhunderten auch vom Kampf mit und gegen die Kräfte des Meeres geprägt worden sind.
"Man sagt eben auch: Wer nicht will dicken, der muss wicken – das ist auch im übertragenen Sinn: Man muss sich wehren gegen das Meer. Und nur, wer das tut, der hat auch ein Anrecht darauf, an der Küste zu wohnen. Und wenn ich dann für eine nachgiebigere Haltung plädiere, dann ist das ein Tabubruch."
Graugrüner Schlick soweit das Auge reicht, geriffelt durch Wasser und Wind, von Pfützen und Wasserläufen durchzogen.
Eine trostlose Wüste. Aber nur auf den ersten Blick. Martin Kühn hat Schuhe und Socken ausgezogen. Vorsichtig stapft der Ranger vom "Nationalpark deutsches Wattenmeer" über den Meeresboden. Rutschig ist er an einigen Stellen, fest an anderen. Dann wieder sinkt man bis zum Knie in den grauen Matsch. Martin Kühn bleibt stehen und beugt sich hinab.
"Ja, ganz nach Goethe eigentlich: ‚Ich sehe, was ich weiß’. Wenn man es denn erst einmal erkannt hat, was das ist, sieht man es ganz häufig. Was ich zeigen will ist hier der Bäumchenröhrenwurm."
Mit bloßem Augen kaum zu erkennen, ragt etwas aus dem Boden, das wie die Borsten eines winzigen Pinsels aussieht. Martin Kühn gräbt mit zwei Fingern, fördert ein schlauchartiges Gebilde zutage, kaum fünf Zentimeter lang.
"Was wir hier sehen, ist die Wohnröhre des Bäumchenröhrenwurms. So sieht die aus ..."
Eine Schutzhülle aus Sand und Bruchstücken von Muscheln, geschaffen von einem Lebewesen, das mit feinen Tentakeln im Nordseewasser nach Nahrung angelt. Auch ringsum wimmelt der schlammige Boden nur so von Leben. Hunderttausende winziger Kieselalgen leben hier auf jedem Quadratmeter. Sie bilden einen bräunlichen Überzug auf dem Boden und dienen anderen Organismen als Nahrungsgrundlage – Wattschnecken und vielen Muschelarten, Krebsen und Krabben. Auch für Vögel ist der Tisch im Watt reich gedeckt. Draußen am Wassersaum folgen Möwen und Austernfischer, Rotschenkel und Brachvögel dem ablaufenden Wasser.
"Bis in die 80er Jahren hinein haben wir die Nordsee als Müllkippe benutzt. Wir haben ja Dünnsäure verklappt. Wir haben mit Schiffen Sondermüll auf der Nordsee verbrannt. Das waren ja enorme Einträge von Schadstoffen! Es wurde über die Flüsse Abwasser eingeleitet, mit Cocktails, die wirklich äußerst gefährlich waren. Wir haben über die Landwirtschaft DDT eingetragen bekommen. Also, wir haben die Nordsee als Müllkippe benutzt."
Helmut Grimm hat jahrelang das Nationalpark-Amt geleitet. Er hat den Protest gegen die Gründung des Schutzgebietes vor 20 Jahren erlebt – aber auch, wie seitdem nach und nach die Vorbehalte der Küstenbewohner schwanden. Inzwischen betrachten die meisten den Nationalpark nicht mehr als Hindernis, sondern als Chance für die Region – auch, weil ein Ausgleich gelungen ist zwischen den wirtschaftlichen Interessen auf der einen Seite und den Erfordernissen eines strengen Naturschutzes auf der anderen. Das gilt für die Landwirte, aber etwa auch für die Muschelfischerei.
"Wir haben in Zusammenarbeit mit den Muschelfischern vor Jahren schon ein Konzept entwickelt, dass sie bestimmte Flächen nutzen können, wo sie die Muscheln züchten, während sie Wild-Muscheln nicht mehr anlanden dürfen. Dass heißt, wir haben die Miesmuschelfischerei auf ganz bestimmte Gebiete begrenzt. Das ist ein Kompromiss, der auch von Naturschützern und Nutzern akzeptiert wird – und von den Nutzern sogar für gut befunden wird, weil sie Planungssicherheit haben."
Heute aber kämpfen die Fischer mit Problemen ganz anderer Art. Seit einigen Jahren gehen die Bestände an Miesmuscheln rapide zurück, stockt auch die natürliche Vermehrung. Dabei sind Miesmuscheln im Grunde besonders fleißig, wenn es um ihre Fortpflanzung geht, erzählt Rainer Borcherding von der Schutzstation Wattenmeer in Husum.
"Es gibt männliche und weibliche. Und die geben im Frühjahr, Ende März etwa, ihre Geschlechtszellen ins Wasser ab. Ein Muschelweibchen kann fünf Millionen bis zu zwölf Millionen Eier produzieren und die Männchen entsprechend Millionen von Spermien. Die treffen sich dann da. Im Frühjahr hat man pro Kubikzentimeter Wattenmeerwasser ein Miesmuschel-Ei – oder eine Larve herumschwimmen."
Seit einigen Jahren aber macht sich die Miesmuschel rar – und zwar nicht nur entlang der Nordseeküste in Deutschland, Holland und Dänemark. Auch in Norwegen und Irland beobachten Fischer seit längerem, dass der Lebenszyklus der Miesmuscheln aus den Fugen gerät. Die Folgen des Klimawandels – im Wattenmeer sind sie bereits mit Händen zu greifen. Die Nordsee ist wärmer geworden. Miesmuscheln aber brauchen kalte Winter, um sich erfolgreich fortzupflanzen. Denn eisige Temperaturen halten Jungkrebse, Garnelen und andere natürliche Feinde so lange von den seichten Zonen im Wattenmeer fern, bis die Muschellarven im Frühjahr zu groß sind, um gefressen zu werden. Nach warmen Wintern dagegen, klagt Biologe Borcherding, verputzten Krebse und Seesterne die Babymuscheln fast restlos. Schlimmer noch - inzwischen würden auch die verbliebenen Elternmuscheln beginnen, zu vergreisen.
"Fakt ist, eine Miesmuschel wird nur höchstens sechs, acht, zehn Jahre alt. Und jetzt haben wir seit zehn Jahren keine Fortpflanzung mehr gehabt. Die Muscheln sind an vielen Stellen dabei, wegzusterben."
Dafür erobert eine andere Muschelart derzeit das Wattenmeer, die ursprünglich von den Küsten Japans und Koreas stammt: die Pazifische Auster. Vor gut fünfzehn Jahren fanden Forscher die ersten wilden Exemplare im Watt vor der Nordseeinsel Sylt. In den heißen Sommern 2003 und 2004 vermehrte sie sich explosionsartig. Heute bevölkert sie Muschelbänke und Molen mit bis zu 1000 Tieren pro Quadratmeter. In List, ganz im Norden der Insel, kann man sie probieren. "Gut kauen", empfiehlt Bine Pöhner in der Probierstube der Firma Dittmeyer. Dann erst käme der zart-nussige Geschmack der Sylter Royal zu voller Geltung.
"Die Pazifische Felsenauster hat sich als sehr robust erwiesen und fühlt sich hier in dem Klima sehr wohl. Das Wattenmeer ist ja ein Biotop, auch von den Naturschützern stark beäugt, fernab von Wasserschifffahrtsstraßen oder Schwerindustrie. Und das Wattenmeer ist sehr nährstoffreich. Die Auster ist ja ein Filtertier und filtert sich die ganzen Nährstoffe aus dem Wasser raus."
Seit 20 Jahren züchtet die Firma Austern im Sylter Watt. Das Geschäft brummt. Bis zu 20.000 Schalentiere verschickt das Unternehmen Tag für Tag an Gourmets in ganz Deutschland – in zünftige Bastkörbchen zwischen Reet gebettet und sorgfältig verschnürt. Gütesiegel Schleswig-Holstein inklusive. Der Zuchterfolg ist das eine, die Ausbreitung wilder Austern im Watt etwas anderes. Lange galt die Nordsee als zu kalt für die Fortpflanzung der Exotin. Dass sie in zwischen drauf und dran ist, die heimische Miesmuschel als vorherrschende Tierart abzulösen, führen Experten auf die Klimaerwärmung zurück – eine Entwicklung, die Carsten Pusch vom Naturschutzbund NABU Sorgen macht, seit es die Austernzucht auf Sylt gibt.
"Zur Überraschung aller haben schon einige Jahre später die ersten Brutfälle eingesetzt. Die Auster hat sich ausgebreitet, macht das wohl auch in den letzten Jahren vor allem ganz stetig und hat mittlerweile schon große Flächen besiedelt. Natürlich nicht das ganze Wattenmeer! Aber es gibt, ausgehend von den Zuchtanlagen in List, doch etliche Flächen Wattenmeer, die stark besiedelt sind."
Wird die Pazifische Auster die Miesmuschel im Wattenmeer vollständig verdrängen? Wie stark werden die Veränderungen auch andere Tier- und Pflanzenarten betreffen? Viele Fragen dieser Art bleiben derzeit noch unbeantwortet. Fest steht hingegen, dass mit dem weltweiten Schiffsverkehr immer mehr exotische Arten eingeschleppt werden. Und sich dann dauerhaft ansiedeln, wenn die Umweltbedingungen nach ihrem Geschmack sind. Geht es allerdings um die Abwägung zwischen möglichen ökologischen Folgen des Klimawandels auf der einen und ihrem möglichen wirtschaftlichen Nutzen auf der anderen Seite, hat die Kieler Landesregierung ihre Prioritäten längst festgelegt. Christian Seyffert vom Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt jedenfalls gibt sich entschlossen, alle neuen Chancen zu ergreifen.
"Wir haben ja nicht die Absicht, unbedingt zum europäischen Austernzuchtzentrum zu werden – das vielleicht nicht. Aber wir wollen gerne den Bereich Marine Aquakultur stärken in Schleswig-Holstein. Weil wir denken, dass das eine Zukunftschance für das Land auch in Zukunft sein könnte. Von daher ist es nicht ausgeschlossen, dass sich hier eine Umwegrendite gerade dadurch für das Land entwickelt."
Ein Vertrag gestattet es dem Unternehmen Dittmeyer inzwischen, die wilden Austern im Watt auch kommerziell zu nutzen. Zunächst für eine begrenzte Zeit und unter behördlicher Aufsicht. In dieselbe Richtung weisen Gedankenspiele rund um die sinkenden Miesmuschelbestände. Saatmuscheln könnten im Wattenmeer künstlich gezüchtet werden – und zwar in den Salzwasserseen hinter dem Deich. Im Prinzip kein Problem, so der Biologe Rainer Borcherding von der Schutzstation Wattenmeer in Husum.
"Man kann technisch mit ein paar Miesmuscheln in einem Wassertank Millionen von Eiern erzeugen, die man dann zur Ansiedelung an Schnüren ermuntert. Da kann man dann aus den ein Millimeter kleinen Jungmuschellarven Jungmuscheln heranzüchten, die man dann mit einem Zentimeter Größe draußen auf die Kulturflächen schmeißen kann."
Einen entsprechenden Antrag der Muschelfischer prüft derzeit die örtliche Naturschutzbehörde. Die Fischer sehen darin den Einstieg in die marine Aquakultur. Umweltschützer wie Ingo Ludwichowski vom NABU dagegen fürchten erhebliche Eingriffe in bisher geschützte Gebiete.
"Die jetzige Situation bedeutet, dass man noch einmal über den Vertrag, der schon erhebliche Zugeständnisse vom Naturschutz verlangt hat, hinausgeht und weitere Bereiche, die bislang ungestört geblieben sind, in die Nutzung mit einbezieht und damit den Naturschutz massiv beeinträchtigt."
Nicht nur Tiere und Pflanzen sind von den Folgen des Klimawandels betroffen. Auch die Menschen entlang der Küsten von Nord- und Ostsee, auf den Inseln und Halligen bekommen sie längst unmittelbar zu spüren. Ein Bild davon kann man sich in Hörnum machen, an der Südspitze Sylts. Als hier vor elf Jahren ein Strandlokal in den Dünen eröffnete, stand das Gebäude noch 17 Meter von der Abbruchkante entfernt. Die ist mittlerweile auf drei bis vier Meter herangerückt, die Nordsee inzwischen zum Greifen nah. Hier kann selbst der Urlauber ermessen, was die Einheimischen schon länger beschäftigt: Sylt, dieses Bollwerk des Festlands, ist gefährdet, die Insel jedenfalls in ständiger Bewegung. Karsten Reise, vom Alfred-Wegner Institut für Polar- und Meeresforschung in List, beschäftigt sich seit langem mit diesem Thema.
"Solange es die Insel Sylt gibt, wird sie vom Meer umgeformt, weil der Meeresspiegel eine variable Größe ist. In den letzten Jahrhunderten ist er stetig angestiegen. Und wir wissen, dass er in Zukunft noch schneller steigen wird. Damit entwickelt die Nordsee Kräfte gegenüber den Sandbänken und Inseln, denen die Wellen begegnen, formt sie um, verschiebt sie. Und Sylt ist eine der Inseln an der schleswig-holsteinischen Küste, die zu weit nach vorne ragt. Und das Meer arbeitet daran, sie mit den Nachbarinseln auf eine Reihe zu bringen."
Im Grunde erlebt die Insel Jahr für Jahr das gleiche Schauspiel – eine Art von Krieg, den Mensch und Meer gegeneinander führen. Im Winter reißt die See Hunderttausende Kubikmeter Sand mit sich fort, im Sommer dann werden sie mit Hilfe von Baggerschiffen und schwerem Gerät wieder aufgeschüttet. "Futter vorwerfen" nennen das die Insulaner. Sie setzten darauf, das gierige Meer zufrieden zu stellen, bevor es ab Oktober wieder zu stürmen und zu nagen beginnt. So geht das schon seit 25 Jahren. Dieses Jahr aber scheint alles anders zu sein. Zwar waren die Stürme nicht heftiger als ehedem, aber häufiger, die Verluste größer denn je. Unmittelbar vor Westerland gibt es keinen Strand mehr, bei Flut klatscht die Brandung direkt an die Mauern der Uferpromenade. Drei Stunden haben sie einst gebraucht, um die Südspitze der Insel zu umwandern, klagt Heidi Koppe, die hier eine Ferienwohnung besitzt. Heute reiche die Hälfte der Zeit.
"Die Leute, die hier wohnen, die bisher immer gesagt haben: ach, hier passiert schon nichts; die spüren schon ein bisschen, das reicht, die haben wirklich Angst. Manche Leute, die direkt in der Kersig-Siedlung ganz am Ende wohnen, die überlegen schon, ob sie nicht im Winter irgendwann aus ihrem Haus rausgehen, weil sie Angst haben, dass das Wasser irgendwann zur Tür rein läuft."
Die Landesregierung reagiert prompt: im kommenden Jahr will sie die Mittel für die Sandvorspülungen auf über sechs Millionen Euro nahezu verdoppeln. Die Durchhalteparole aus Kiel lautet: Ein notwendiger Kraftakt - zum Schutze der Menschen, ihrer Häuser, der vielen Sommergäste. Einen verlorenen Kampf nennt dagegen Meeresforscher Karsten Reise den Plan.
"Für Sylt wie auch für andere strandige Küsten gilt eigentlich, dass wir auf Dauer eigentlich keine Chance haben, die Position, die eine solche Insel, die ein solcher Strand hat, zu halten. Wir müssen uns da wirklich planerisch auf einen Rückzug einstellen."
Angesichts steigender Meeresspiegel schlägt Karsten Reise vor, den Stellungskrieg gegen die Kräfte des Meeres aufzugeben und auf eine beweglichere Strategie zu setzen.
"Wenn die Nordsee daran arbeitet, die Insel Sylt zu verschieben, kann man sich überlegen, wie weit man das einfach akzeptiert und mit den Kräften der Natur geht. Man könnte den Sand auch auf die andere Seite der Insel, auf die geschützte Seite, auf die Leeseite spülen. Dort würde er viele Jahrzehnte liegen bleiben. Dann würde man wohl akzeptieren, dass die Insel auf der anderen Seite verliert. Aber auf der anderen Seite hätte man ein Polster geschaffen, das sich dann auch wiederum nutzen ließe."
Der geordnete Rückzug hätte natürlich gravierende Folgen. In den nächsten 300 Jahren würde die Insel um etwa 300 Meter in Richtung Küste wandern. Im Hauptort Westerland müsste ein Teil der 9300 Einwohner auf die andere Seite der Insel umziehen – mitsamt ihrer Häuser, Straßen und Cafés. Als "Blödsinn" quittiert die Bürgermeisterin von Westerland solche Gedankenspiele. Ein Stück weiter im Norden schüttelt auch der Bürgermeister von Kampen, Harro Johannsen, nur mit dem Kopf.
"Für mich völlig inakzeptabel, das diese Lösung angedacht wird. Die Sicherung der Westküste hat Vorrang vor allen anderen Überlegungen. Insofern kann ich mich mit diesem Vorschlag, auch wenn er wissenschaftlich erforscht ist, nicht anfreunden und werde dem auch nicht näher treten können."
Professor Reise, ein schmaler Mann mit silbernem Seemannsbart, zuckt mit den Schultern. So wie bisher gehe es schlicht nicht weiter. Seit zehn Jahren redet er so. Und steht damit in Sylt und andernorts, jedenfalls was die Politik betrifft, auf verlorenem Posten. An seiner Seite weiß er dagegen Achim Daschkeit, der an der Kieler Universität Küstengeografie betreibt.
"Es ist ganz offensichtlich, dass wir es auch in den nächsten Jahrhunderten mit einem steigenden Meeresspiegel zu tun haben werden, der andere Größenordnungen haben wird, als wir uns jetzt vorstellen können. Wenn wir für die nächsten 3000 Jahre das Abschmelzen des grönländischen Eises bedenken – und das sieht im Moment alles danach aus – dann könnte sich der Meeresspiegel um insgesamt sechs bis sieben Meter erhöhen. Und dann wäre natürlich Sylt wie auch viele andere Nordseeinseln gar nicht mehr zu halten. Da kann man auch nicht mehr Deiche gegen an bauen, kann auch nicht mehr dagegen vorspülen."
Auf lange Sicht sehen Wissenschaftler wie Karsten Reise auch die Menschen entlang der Küste ihre Häuser wieder auf erhöhten Warften bauen, untereinander mit Brücken und Dämmen verbunden. In dieser teils amphibischen Landschaft könnten sie Fische züchten oder Algen, statt Felder zu bestellen. Mit der Dynamik der Natur leben statt sich mit Beton gegen sie zu wehren - in Kiel kann Umwelt- und Landwirtschaftsminister Christian von Boetticher solche Visionen nur belächeln.
"Dann ziehen wir uns alle hinter Hamburg zurück, hinter die Elbe. Und wenn wir uns ganz sicher seien wollen für die nächsten 500 bis 1000 Jahre, vielleicht bis zur nächsten Eiszeit, gehen wir in den Harz oder noch weiter nach Süden. Das kann man natürlich vorschlagen. Nein, bei allem Respekt vor wissenschaftlicher Meinung, kommt diese Alternative für uns nicht in Betracht!"
Beim Thema Küstenschutz setzt der Politiker auf alte Strategien: Entlang der Nordsee sollen die Deiche in den nächsten Jahren Stück für Stück um 50 Zentimeter erhöht werden, an der Ostsee um 30 Zentimeter. Auf über 100 Kilometern Länge. Bis zum Ende des Jahrhunderts soll das reichen. Karsten Reise, der Meeresbiologe, hält solche Pläne bestenfalls für kurzsichtig. Den Widerstand gegen den notwendigen Rückzug schreibt er letztlich einem Charakterzug der Einheimischen zu, die seit Jahrhunderten auch vom Kampf mit und gegen die Kräfte des Meeres geprägt worden sind.
"Man sagt eben auch: Wer nicht will dicken, der muss wicken – das ist auch im übertragenen Sinn: Man muss sich wehren gegen das Meer. Und nur, wer das tut, der hat auch ein Anrecht darauf, an der Küste zu wohnen. Und wenn ich dann für eine nachgiebigere Haltung plädiere, dann ist das ein Tabubruch."