"Das parlamentarische System würde eminent geschwächt"
Der ehemalige Präsident der Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, warnt davor, dass große Koalitionen als Dauerlösung das parlamentarische System schwächen. Ein Parlament mit einer derart schwachen Opposition entspreche "nicht dem Idealbild einer parlamentarischen Demokratie".
Nana Brink: In den letzten Tagen ist ja fast ausschließlich darüber berichtet worden, wann wer mit wem sprechen wird, also Schwarz mit Rot und Schwarz mit Grün, wie lange sprechen sie, können sie am Ende miteinander und was würde das für uns bedeuten? Am Ende, so jedenfalls sagen es die Whistleblower im politischen Berlin, wird es wohl auf eine Große Koalition hinauslaufen, am Montag treffen sie sich ja wieder. Und was wird das für eine, mit einer Union, die knapp an der absoluten Mehrheit vorbeigeschrammt ist, einer CSU, die vor Kraft kaum laufen kann, und einer zwar gerupften SPD, aber alle zusammen genommen lassen die Opposition im Bundestag, die dann nur noch aus Grünen und Linken besteht und bei 20 Prozent liegt, doch arg dünn aussehen! Professor Hans-Jürgen Papier, bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, den haben wir interviewt. Und ich habe ihn als Erstes gefragt, ob der CDU-Vize Thomas Strobl, der ja kürzlich gesagt hat, die Große Koalition wäre ein riesiger Elefant im Plenarsaal des Bundestages, was das für die Opposition in unserem Parlament bedeuten würde?
Hans-Jürgen Papier: Ja, also, dem Idealbild einer parlamentarischen Demokratie entspräche das mit Sicherheit nicht. Zwar setzt eine vitale parlamentarische Demokratie voraus, dass die Regierung über eine handlungsfähige Mehrheit im Parlament verfügt, aber das Parlament ist ja nicht nur ein Organ, das die Regierung zu wählen hat und Gesetzesbeschlüsse zu fassen hat, sondern das Parlament hat eben auch die Regierungstätigkeit zu kontrollieren. Und da ist natürlich eine Opposition, die zum Beispiel unter 25 Prozent der Mandate liegt, relativ schwach. Wichtige Kontrollrechte der Opposition hängen davon ab, dass mindestens ein Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages von dieser Opposition aufgebracht werden können, was ja dann ersichtlich nicht der Fall wäre. Zum Beispiel die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, beantragen können sie einen solchen Ausschuss natürlich immer, aber sie können es eben nicht verlangen, wenn sie nicht dieses Quorum erreichen. Außerdem muss man ja sehen, dass eine Regierungskoalition, die über diese Stärke verfügt, natürlich vor allen Dingen auch das Grundgesetz ändern kann, wofür eine Zweidrittelmehrheit nötig ist. Sie kann auch die weitere Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union und vergleichbare zentrale politische Maßnahmen durchsetzen. Auch hierfür ist die Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich. Also, eine Opposition, die weit darunter liegt, kann das im Grunde nicht verhindern. Das sind schon auch rechtliche Schwächen, sage ich mal, einer solchen Großen Koalition.
Brink: Wird dann dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes nicht angst und bange dabei?
Papier: Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir eine Große Koalition in Deutschland haben, es wäre die dritte in der Geschichte der Bundesrepublik. Und ich würde mal so sagen, wenn Große Koalitionen ein vorübergehendes Phänomen darstellen und nicht zur Regel werden, sind sie zwar keine gute Lösung, aber sie sind bei bestimmten politischen Gegebenheiten wahrscheinlich unvermeidbar. Jedenfalls ist eine Große Koalition dann in meinen Augen immer noch besser als die Lösung einer Minderheitsregierung, die nicht auf eine gesicherte parlamentarische Mehrheit sich stützen kann. Und bei einer solchen Lösung einer Minderheitsregierung schwebt, ich sage mal, immer das Damoklesschwert der frühzeitigen Auflösung des Bundestages und von Neuwahlen. Und das können wir in Anbetracht der anstehenden zu bewältigenden Aufgaben in der nächsten Legislaturperiode eigentlich auch nicht so recht vertragen.
Brink: Aber das hört sich so ein bisschen an wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Denn was Sie aufgezeigt haben, was denn passieren kann mit so einer starken schwarz-roten Regierung dann, also dass Untersuchungsausschüsse nicht mehr unbedingt zwar beantragt, aber nicht mehr eingesetzt werden können, Verfassung geändert wird, das ist doch schon fundamental!
Papier: Das ist es, auf jeden Fall. Auf der anderen Seite wird man sogar sagen müssen, die politischen Folgen sind dabei ja noch gar nicht zum Ausdruck gebracht worden! Sie müssen bedenken, dass jedenfalls dann, wenn eine Große Koalition quasi zur Regel werden sollte im parlamentarischen System der Bundesrepublik, das parlamentarische System als solches wirklich eminent geschwächt würde. Die Politik würde, ich sage es mal etwas salopp, entparlamentarisiert werden. Das heißt, die politischen Auseinandersetzungen würden sich dann weitgehend verlagern auf eine außerparlamentarische Opposition, was wiederum extremistische Parteien, sei es im linken, sei es im rechten Lager, stärken würde. Die Wahlbeteiligung der Bürger würde weiter absinken, wir würden dann letztlich das parlamentarische System, wie ich schon sagte, erheblich schwächen. Es kommt hinzu, dass die Neigung großer Mehrheiten im Parlament zu, ich sage mal, parteipolitischer Ämterpatronage zunehmen würde. Wir haben Vergleiche in anderen Staaten Europas, in denen Große Koalitionen gewissermaßen zur Tradition gehören, wo wir genau diese Entwicklungen verzeichnen können. Also, man darf nicht nur auf die rechtlichen Konsequenzen abstellen, über die wir zunächst gesprochen hatten, sondern man muss natürlich auch den politischen Preis Großer Koalitionen in Rechnung stellen.
Brink: Ich möchte trotzdem noch einmal bei den verfassungsrechtlichen Konsequenzen bleiben! Muss man da nicht Ausnahmeregeln schaffen? Also, der neue Fraktionschef der Linken Gregor Gysi hat das ja gemacht, der hat gesagt, wir müssen einfach das Quorum nicht beachten. Also, es muss möglich sein zum Beispiel, auch schon mit 20 Prozent einen Untersuchungsausschuss dann auch einzusetzen.
Papier: Ich meine, auch eine schwache oder dieses Quorum nicht erfüllende Opposition kann natürlich einen Untersuchungsausschuss beantragen …
Brink: Aber sie kann ihn nicht einsetzen, sie braucht immer …
Papier: Sie kann ihn nicht verlangen, sie kann sich gegen den Willen der Mehrheit nicht durchsetzen. Aber auf der anderen Seite …
Brink: Muss man das dann nicht ändern?
Papier: Ich muss Ihnen offen sagen, ich bin eigentlich gegen eine allzu schnelle Ad-hoc-Änderung des Grundgesetzes. Ich glaube, dass man an diesen bewährten Strukturen unserer Verfassung nicht rütteln sollte, nur weil im gegenwärtigen Zustand vielleicht einiges dafür spräche. Die Verhältnisse werden sich auch wieder ändern, und davon gehe ich jeweils aus und das hoffe ich auch, weil, wie gesagt, das Idealbild der parlamentarischen Demokratie eigentlich eine dauerhafte Große Koalition wirklich nicht verträgt.
Brink: Professor Hans-Jürgen Papier, bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichtes. Schönen Dank für das Gespräch!
Papier: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hans-Jürgen Papier: Ja, also, dem Idealbild einer parlamentarischen Demokratie entspräche das mit Sicherheit nicht. Zwar setzt eine vitale parlamentarische Demokratie voraus, dass die Regierung über eine handlungsfähige Mehrheit im Parlament verfügt, aber das Parlament ist ja nicht nur ein Organ, das die Regierung zu wählen hat und Gesetzesbeschlüsse zu fassen hat, sondern das Parlament hat eben auch die Regierungstätigkeit zu kontrollieren. Und da ist natürlich eine Opposition, die zum Beispiel unter 25 Prozent der Mandate liegt, relativ schwach. Wichtige Kontrollrechte der Opposition hängen davon ab, dass mindestens ein Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages von dieser Opposition aufgebracht werden können, was ja dann ersichtlich nicht der Fall wäre. Zum Beispiel die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, beantragen können sie einen solchen Ausschuss natürlich immer, aber sie können es eben nicht verlangen, wenn sie nicht dieses Quorum erreichen. Außerdem muss man ja sehen, dass eine Regierungskoalition, die über diese Stärke verfügt, natürlich vor allen Dingen auch das Grundgesetz ändern kann, wofür eine Zweidrittelmehrheit nötig ist. Sie kann auch die weitere Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union und vergleichbare zentrale politische Maßnahmen durchsetzen. Auch hierfür ist die Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich. Also, eine Opposition, die weit darunter liegt, kann das im Grunde nicht verhindern. Das sind schon auch rechtliche Schwächen, sage ich mal, einer solchen Großen Koalition.
Brink: Wird dann dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes nicht angst und bange dabei?
Papier: Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir eine Große Koalition in Deutschland haben, es wäre die dritte in der Geschichte der Bundesrepublik. Und ich würde mal so sagen, wenn Große Koalitionen ein vorübergehendes Phänomen darstellen und nicht zur Regel werden, sind sie zwar keine gute Lösung, aber sie sind bei bestimmten politischen Gegebenheiten wahrscheinlich unvermeidbar. Jedenfalls ist eine Große Koalition dann in meinen Augen immer noch besser als die Lösung einer Minderheitsregierung, die nicht auf eine gesicherte parlamentarische Mehrheit sich stützen kann. Und bei einer solchen Lösung einer Minderheitsregierung schwebt, ich sage mal, immer das Damoklesschwert der frühzeitigen Auflösung des Bundestages und von Neuwahlen. Und das können wir in Anbetracht der anstehenden zu bewältigenden Aufgaben in der nächsten Legislaturperiode eigentlich auch nicht so recht vertragen.
Brink: Aber das hört sich so ein bisschen an wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Denn was Sie aufgezeigt haben, was denn passieren kann mit so einer starken schwarz-roten Regierung dann, also dass Untersuchungsausschüsse nicht mehr unbedingt zwar beantragt, aber nicht mehr eingesetzt werden können, Verfassung geändert wird, das ist doch schon fundamental!
Papier: Das ist es, auf jeden Fall. Auf der anderen Seite wird man sogar sagen müssen, die politischen Folgen sind dabei ja noch gar nicht zum Ausdruck gebracht worden! Sie müssen bedenken, dass jedenfalls dann, wenn eine Große Koalition quasi zur Regel werden sollte im parlamentarischen System der Bundesrepublik, das parlamentarische System als solches wirklich eminent geschwächt würde. Die Politik würde, ich sage es mal etwas salopp, entparlamentarisiert werden. Das heißt, die politischen Auseinandersetzungen würden sich dann weitgehend verlagern auf eine außerparlamentarische Opposition, was wiederum extremistische Parteien, sei es im linken, sei es im rechten Lager, stärken würde. Die Wahlbeteiligung der Bürger würde weiter absinken, wir würden dann letztlich das parlamentarische System, wie ich schon sagte, erheblich schwächen. Es kommt hinzu, dass die Neigung großer Mehrheiten im Parlament zu, ich sage mal, parteipolitischer Ämterpatronage zunehmen würde. Wir haben Vergleiche in anderen Staaten Europas, in denen Große Koalitionen gewissermaßen zur Tradition gehören, wo wir genau diese Entwicklungen verzeichnen können. Also, man darf nicht nur auf die rechtlichen Konsequenzen abstellen, über die wir zunächst gesprochen hatten, sondern man muss natürlich auch den politischen Preis Großer Koalitionen in Rechnung stellen.
Brink: Ich möchte trotzdem noch einmal bei den verfassungsrechtlichen Konsequenzen bleiben! Muss man da nicht Ausnahmeregeln schaffen? Also, der neue Fraktionschef der Linken Gregor Gysi hat das ja gemacht, der hat gesagt, wir müssen einfach das Quorum nicht beachten. Also, es muss möglich sein zum Beispiel, auch schon mit 20 Prozent einen Untersuchungsausschuss dann auch einzusetzen.
Papier: Ich meine, auch eine schwache oder dieses Quorum nicht erfüllende Opposition kann natürlich einen Untersuchungsausschuss beantragen …
Brink: Aber sie kann ihn nicht einsetzen, sie braucht immer …
Papier: Sie kann ihn nicht verlangen, sie kann sich gegen den Willen der Mehrheit nicht durchsetzen. Aber auf der anderen Seite …
Brink: Muss man das dann nicht ändern?
Papier: Ich muss Ihnen offen sagen, ich bin eigentlich gegen eine allzu schnelle Ad-hoc-Änderung des Grundgesetzes. Ich glaube, dass man an diesen bewährten Strukturen unserer Verfassung nicht rütteln sollte, nur weil im gegenwärtigen Zustand vielleicht einiges dafür spräche. Die Verhältnisse werden sich auch wieder ändern, und davon gehe ich jeweils aus und das hoffe ich auch, weil, wie gesagt, das Idealbild der parlamentarischen Demokratie eigentlich eine dauerhafte Große Koalition wirklich nicht verträgt.
Brink: Professor Hans-Jürgen Papier, bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichtes. Schönen Dank für das Gespräch!
Papier: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.