Das Schwein – der unheimliche Doppelgänger des Menschen
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In Beleidigungen und Sprichwörtern schlägt sich nieder, wie der Mensch über das Schwein denkt – es gilt als maßlos, unhygienisch und lüstern. Ein Bild, das sich im Laufe der Zeit stark gewandelt hat und zeigt: Das Schwein ist dem Menschen näher, als man glaubt.
Das Schwein: Wir verabscheuen es – und erkennen uns doch darin wieder. Wir beschimpfen andere als Schwein – und verschenken zugleich Glücksschweine, füllen Sparschweine und lassen die 'drei kleinen Schweinchen' unseren Kindern eine Lektion in Leistungsethik geben: Nur das fleißige Ferkel ist sicher vor dem Wolf.
Die Zwiespältigkeit in unserem Bild vom Schwein reicht weit zurück, sagt der Wiener Kulturwissenschaftler Thomas Macho: "Das Schwein ist das liminale Tier schlechthin, das heißt, es existiert an der Schwelle: Es ist nicht im Haus, es ist aber auch nicht das reine Wildtier, es ist dazwischen. Und von daher ist das Schwein sowohl ein Sinnbild des Kultivierten als auch des noch erhaltenen Wilden; und sprengt so ein bisschen die traditionelle Grenzziehung zwischen Natur und Kultur."
Ein Symbol der Fruchtbarkeit
In der griechischen Antike herrschte zunächst ein positives Bild der Schweine vor: Im Demeterkult etwa galt das Schwein als Symbol der Fruchtbarkeit. Und in den berühmten Tierfabeln des griechischen Dichters Äsop zeichnen sich Schweine ausnahmslos durch Klugheit, Maß und Voraussicht aus.
Ambivalenter wird es bei Platon. In seiner 'Politeia' skizziert er einen 'Schweinestaat', der allein zur arbeitsteiligen Bedürfnisbefriedigung da ist – und der auf den ersten Blick geradezu idyllisch wirkt:
"Dann werden [die Bürger] schmausen und Wein dazu trinken, bekränzt und die Götter preisend, und fröhlich miteinander verkehren und nicht mehr Kinder zeugen, als sie ernähren können." (Platon)
Aber was in diesem Idyll fehlt, ist jegliche Philosophie – weshalb aus Platons Sicht der 'Schweinestaat' unweigerlich über kurz oder lang in einen dekadenten 'Luxusstaat' übergeht. Mit anderen Worten: Der Schweinestaat hat keine Zukunft.
Wie wirkmächtig dieses Bild des gedankenlosen Schweins bis in die Moderne ist, beweist unter anderem der englische Philosoph John Stuart Mill, wenn er schreibt: "Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein." (Stuart Mill)
Schweinisches Dasein - arglose Fröhlichkeit?
Die arglose Fröhlichkeit und Unmittelbarkeit, die Schweinen da zugeschrieben wird, erscheint trotzdem als attraktiv. Und so wundert es nicht, dass der römische Dichter Horaz sich selbst als 'Schwein' bezeichnet hat – und zwar 'aus der Herde Epikurs', des großen Philosophen der Lustbejahung.
Selbst der griechische Philosoph Plutarch – eigentlich ein Anhänger Platons – kommt nicht umhin, das Verheißungsvolle eines 'schweinischen' Daseins anzuerkennen, wenn er Homers Odyssee eine entscheidende Wendung hinzufügt: Die Zauberin Kirke, auf deren Insel Odysseus strandet, verwandelt dessen Männer in Schweine. Und bei Plutarch fühlen sie sich als solche anscheinend ziemlich wohl. Mindestens ein Schwein sträubt sich gegen die Rückverwandlung:
"Wie die Kinder die Arzneimittel scheuen, so sträubst du dich vor deiner Verwandlung und willst uns noch überreden, die reichlichen Genüsse, in denen wir leben, zu verlassen und mit dir aus dem Lande zu gehen, nachdem wir wieder zu Menschen geworden wären, dem mühseligsten Geschöpfe von Allem das lebt." (Plutarch)
An Tugend dem Menschen überlegen
Und in der folgenden Debatte demonstriert das menschliche Schwein mit rhetorischer Finesse, dass Schweine durchaus vernünftig und an Tugend dem Menschen sogar überlegen seien, wie Thomas Macho darlegt: "Das betont etwas, was in der antiken Philosophie durchaus verbreitet war – übrigens manchmal auch schon zu Empfehlungen des Vegetarismus geführt hat, nämlich eine Hochachtung und einen Respekt vor dem Tier, den wir in der industriellen Welt nahezu völlig verlernt haben."
Während Glücks- und Sparschweine noch immer unsere Häuser füllen und Schweinchen Babe und Miss Piggy unsere Sympathie erregen, sind die Tiere selbst unsichtbar geworden – und damit auch die maßlosen Grausamkeiten, die ihnen alltäglich angetan werden.
Ein Spiegel des Menschen
Dabei ist uns das Schwein näher, als wir glauben. Es ist sozial, intelligent und sogar musikalisch. Und seine Schreie vor der Schlachtung gleichen menschlichen Schreien. "Das Schwein ist in der Hinsicht tatsächlich der Andere des Menschen, sein unheimlicher Doppelgänger", so Thomas Macho.
Im Schwein erkennt (und spiegelt) der Mensch sich selbst – was er fürchtet, was er sehnt und was er an sich selbst verabscheut. Vielleicht ist es gerade diese unheimliche Ähnlichkeit, die uns vom Schwein entfremdet hat – und uns doch immer wieder zu ihm zurücktreibt.