Der Wolf – der unheimlich Nahe
Der Wolf ist dem Menschen ein treuer Begleiter, wenn auch ein aus skeptischer Distanz beobachteter. Davon künden die Sagen und Märchen, die antiken Philosophien und sogar die Psychoanalyse. Im Wolf erblicken wir uns selbst. Und wir erschaudern wohlig.
In Kulturgedächtnis und Ideenwelt steht der Wolf schon seit jeher für das Unheimliche. Bei "Peter und der Wolf" verschlingt er die Ente an einem Stück, und nicht nur die Ente, auch den jungen Peter hätte er gern mit Haut und Haar verschluckt. Bis in Großmutters Bett schleicht er sich, um dem unschuldigen Rotkäppchen aufzulauern. Und selbst Kreide frisst er, um die sieben Geißlein zu täuschen.
Die Welt der Sagen und Märchen
Schon lang treibt Isegrim sein Unwesen in der Welt der Sagen und Märchen. Im Alten Testament erscheint er sogar als das durch und durch Böse, als falscher Prophet und als hinterlistiger Fiesling im Schafspelz. Und schon im alten Griechenland schleicht er sich auf leisen Pfoten an die Schutzbefohlenen heran – des Nachts, wenn alle schlafen.
Platon warnt deshalb: "Die Regierenden sollen zusehen, welcher Ort in der Stadt zum Lagern am geeignetsten ist, von wo aus sie den von außen Kommenden abwehren, wenn ein Feind wie ein Wolf die Herde angreifen sollte."
Der Bürger im Tier
Der Wolf ist uns also schon lange unheimlich - unheimlich nah. Doch nah ist er uns nicht nur als bedrohlicher Nachbar und Wegekreuzer, sondern auch auf einer anderen Ebene, denn so ein Wolfsleben in freier Natur ähnelt verblüffend dem des Helden im bürgerlichen Bildungsroman dem Helden also, der durch Jugend-, Wander- und Meisterjahre gehen muss, um schließlich erwachsen und ein guter Bürger zu werden.
Den trauten Kreis seines Rudels muss der echte Wolf als Jungtier nämlich verlassen. Er muss ausziehen, einsame Kilometer hinter sich bringen, durch Steppen und Wälder ziehen. Er wird auf fremde Artgenossen stoßen, wird sich beweisen müssen und wird schließlich die Liebe finden, wird sich paaren und ein eigenes Rudel gründen. Kurzum: So ein Wolfsleben lässt sich erzählen, wie eine Coming-of-Age-Geschichte, an deren Ende das bürgerliche Familienleben steht.
Das Heimische im Unheimlichen
Wenn uns so ein Wolfsleben auch auf diese Weise so vertraut ist, warum taucht er dann so oft als das Bedrohliche, das Unheimliche auf? "Es mag zutreffen, daß das Unheimliche das Heimliche-Heimische ist", schreibt Sigmund Freud.
Unheimlich ist uns nicht das Fremde, Unbekannte, meint der Analytiker, sondern das, was zu uns gehört, was wir aber verdrängen. Gerade eine doppelte Nähe zu uns macht den Wolf besonders unheimlich: Er lauert in der Nähe des Hauses und auch seine Lebensweise ist der unseren nah.
Die Wiederkehr des Verdrängten
Ein berühmtes Diktum des Staatstheoretikers Thomas Hobbes löst vollends das Rätsel: "Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf." Denn was wir gern verdrängen, steht ganz am Anfang der Gesellschaft: die ständige Bedrohung. Der Staat soll sie einhegen; ganz bannen kann er sie nicht, und so verdeckt die bürgerliche Fassade die heimliche Gefahr: Die ständige Möglichkeit eines hinterhältigen Überfalls. Denn eins bleibt wahr: In jedem Menschen steckt auch ein Wolf.
Wenn wir ihn des Nachts also heulen hören, gruseln wir uns vor uns selbst.