Das poetische Raunen eines Landes
Christoph Buchwald und Klaus Wagenbach wagten das Experiment, 100 Gedichte als das Bleibende einer Epoche vorzuschlagen. Mit ihrer Auswahl wollen sie keinen DDR-Kanon begründen. Sie nennen es die "Neubesichtigung eines ererbten Geländes".
Rainer Kirsch "2005".
"Unsre Enkel werden uns dann fragen:/Habt ihr damals gut genug gehasst?/Habt ihr eure Schlachten selbst geschlagen/Oder euch den Zeiten angepasst?"
"Was bleibet aber, stiften die Dichter", prognostizierte Friedrich Hölderlin im Jahr 1803. Welchen Dichtern aber wird das Wort erteilt, wenn sich die Verhältnisse grundlegend ändern? Welchem Ton wird man nach-hören?
"Und sie werden jede Zeile lesen/Ob in vielen Worten eines ist/Das noch gilt, und das sich nicht vergisst"
Heißt es in Rainer Kirschs Gedicht "2005". 1962 mit prophetischer Neugier geschrieben, ist es von der Zeitenwende längst eingeholt worden und doch noch immer aktuell.
Christoph Buchwald und Klaus Wagenbach wagten das Experiment, 100 Gedichte als das Bleibende einer Epoche vorzuschlagen. Mit ihrer Auswahl wollen sie keinen Kanon begründen. Sie nennen es die "Neubesichtigung eines ererbten Geländes".
Bertolt Brecht "Zwei Buckower Elegien"
"Und ich dachte immer: die allereinfachsten Worte/Müssen genügen. Wenn ich sage, was ist/Muß jedem das Herz zerfleischt sein"
Zu Wort kommen Bertolt Brecht, Johannes R. Becher, Inge und Heiner Müller, Volker Braun und Adolf Endler. Aber auch jene, die wie Peter Huchel, Heinar Kipphardt, Sarah Kirsch das Land verließen. Oder wie Helga M. Novak und Wolf Biermann ausgebürgert wurden.
Wolf Biermann "Warte nicht auf beßre Zeiten"
"Wartet nicht auf beßre Zeiten/Wartet nicht mit eurem Mut/Gleich dem Tor, der Tag für Tag/An des Flusses Ufer wartet/Bis die Wasser abgeflossen"
Die Herausgeber stöberten nicht im Fundus der Lyrik aus vier Jahrzehnten, um sensationelle Entdeckungen zu machen. Das Streitbare und die Verweigerung, DDR-Typisches, galt es zu entdecken. "100 Gedichte aus der DDR" fängt das hoffnungsvoll offensive sowie resignative poetische Raunen eines Landes ein, in dem solch Sprechen zum Alltag gehörte und doch zum Verrat und Verbrechen werden konnte.
Erich Arendt "Nach dem Prozeß Sokrates" von 1967
"Worte/gedreht und/gedroschen: Hülsen/gedroschen, der/zusammengekehrte Rest./Gehend im Kreis/der erschoßnen Gedanken/- wie war/doch der Atem groß -/halt versiegelt den Mund, dass/der Knoten/Blut/nicht Zeugnis ablege!"
Die Anordnung der Gedichte folgt nicht dem Diktat einer strikten Chronologie. Ein Gedicht als historischen Beweis auszuwählen, käme seiner Entmündigung gleich.
Die Auswahl gliedert sich in vier thematische Abteilungen, die von einem Prolog und Epilog eingefasst sind: "Auferstanden aus Ruinen", "Das Aufbegehren und die Macht", "Die Geräusche meines Lands" und "Proben des Grenzfalls".
Unter "Das Aufbegehren und die Macht" findet sich Johannes Bobrowskis Gedicht "Sprache" von 1963.
"Sprache/abgehetzt/mit dem müden Mund/auf dem endlosen Weg/zum Hause des Nachbarn"
Eine größere Zeitspanne als die der Existenz des DDR-Staates kommt somit ins Blickfeld. In Inge Müllers Gedicht "Wir" lässt sich die kalte Ideologie faschistischer Vergangenheit nicht abschütteln. Sie krallt sich fest und diktiert die Gegenwart.
"Wir, sagte einer, der dazugehört/Sind die verlorne Generation/Sie haben uns um unsre Ration geprellt/Das uns Zustehende war schon verteilt/Wir wurden mit der Lügenflasche aufgezogen/Gefüttert mit dem Brei der Heuchelei/Gezüchtigt mit der Peitsche der Vergangenheit/Geängstigt mit dem Teufel an der Wand."
Wer bei der Lektüre des Buches eine dissonante Stimmenvielfalt entdecken konnte, wird von der Hörbuchfassung enttäuscht sein. Für 100 Gedichte nur zwei Schauspieler zu verpflichten, vermag zu überzeugen, wenn dabei der Reichtum an Poetologien hörbar gemacht wird. Hier erweist es sich als Fehler.
Während Axel Prahl zwar Brüche aufzeigt und auch ein Beiseitesprechen mit leisen Zwischentönen intoniert, interpretiert Katharina Thalbach vielfach munter drauflos. Sarkastische Anspielungen und doppelter Wortsinn, vor allem bei den jüngeren Lyrikern, werden verschenkt.
Dabei ist es die feine Ironie Thomas Rosenlöchers oder der verzweifelt kühne Ton Kurt Drawerts, der in den Bann zieht und die Spannung zwischen den Lyrikergenerationen offenbart. Auch Barbara Köhlers eigenwillige Totentanzvision "Rondeau Allemagne" ist ein Beispiel dafür.
"Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd,/Mit einer Liebe, die mich über Grenzen treibt,/Zwischen den Himmeln. Sehe jeder, wo er bleibt;/Ich harre aus im Land und geh ihm fremd."
Da kann nur der Ratschlag gegeben werden, die 100 Gedichte nicht hintereinander zu konsumieren. Oder angeregt von der kenntnisreich erstellten Auswahl, die Buchwald und Wagenbach da präsentieren, wieder zum Buch zu greifen.
Besprochen von Carola Wiemers
Christoph Buchwald, Klaus Wagenbach (Hg.): 100 Gedichte aus der DDR
Gelesen von Katharina Thalbach und Axel Prahl
Patmos Verlag, Düsseldorf 2009
2 CDs, 141 Minuten, 19,95 Euro
"Unsre Enkel werden uns dann fragen:/Habt ihr damals gut genug gehasst?/Habt ihr eure Schlachten selbst geschlagen/Oder euch den Zeiten angepasst?"
"Was bleibet aber, stiften die Dichter", prognostizierte Friedrich Hölderlin im Jahr 1803. Welchen Dichtern aber wird das Wort erteilt, wenn sich die Verhältnisse grundlegend ändern? Welchem Ton wird man nach-hören?
"Und sie werden jede Zeile lesen/Ob in vielen Worten eines ist/Das noch gilt, und das sich nicht vergisst"
Heißt es in Rainer Kirschs Gedicht "2005". 1962 mit prophetischer Neugier geschrieben, ist es von der Zeitenwende längst eingeholt worden und doch noch immer aktuell.
Christoph Buchwald und Klaus Wagenbach wagten das Experiment, 100 Gedichte als das Bleibende einer Epoche vorzuschlagen. Mit ihrer Auswahl wollen sie keinen Kanon begründen. Sie nennen es die "Neubesichtigung eines ererbten Geländes".
Bertolt Brecht "Zwei Buckower Elegien"
"Und ich dachte immer: die allereinfachsten Worte/Müssen genügen. Wenn ich sage, was ist/Muß jedem das Herz zerfleischt sein"
Zu Wort kommen Bertolt Brecht, Johannes R. Becher, Inge und Heiner Müller, Volker Braun und Adolf Endler. Aber auch jene, die wie Peter Huchel, Heinar Kipphardt, Sarah Kirsch das Land verließen. Oder wie Helga M. Novak und Wolf Biermann ausgebürgert wurden.
Wolf Biermann "Warte nicht auf beßre Zeiten"
"Wartet nicht auf beßre Zeiten/Wartet nicht mit eurem Mut/Gleich dem Tor, der Tag für Tag/An des Flusses Ufer wartet/Bis die Wasser abgeflossen"
Die Herausgeber stöberten nicht im Fundus der Lyrik aus vier Jahrzehnten, um sensationelle Entdeckungen zu machen. Das Streitbare und die Verweigerung, DDR-Typisches, galt es zu entdecken. "100 Gedichte aus der DDR" fängt das hoffnungsvoll offensive sowie resignative poetische Raunen eines Landes ein, in dem solch Sprechen zum Alltag gehörte und doch zum Verrat und Verbrechen werden konnte.
Erich Arendt "Nach dem Prozeß Sokrates" von 1967
"Worte/gedreht und/gedroschen: Hülsen/gedroschen, der/zusammengekehrte Rest./Gehend im Kreis/der erschoßnen Gedanken/- wie war/doch der Atem groß -/halt versiegelt den Mund, dass/der Knoten/Blut/nicht Zeugnis ablege!"
Die Anordnung der Gedichte folgt nicht dem Diktat einer strikten Chronologie. Ein Gedicht als historischen Beweis auszuwählen, käme seiner Entmündigung gleich.
Die Auswahl gliedert sich in vier thematische Abteilungen, die von einem Prolog und Epilog eingefasst sind: "Auferstanden aus Ruinen", "Das Aufbegehren und die Macht", "Die Geräusche meines Lands" und "Proben des Grenzfalls".
Unter "Das Aufbegehren und die Macht" findet sich Johannes Bobrowskis Gedicht "Sprache" von 1963.
"Sprache/abgehetzt/mit dem müden Mund/auf dem endlosen Weg/zum Hause des Nachbarn"
Eine größere Zeitspanne als die der Existenz des DDR-Staates kommt somit ins Blickfeld. In Inge Müllers Gedicht "Wir" lässt sich die kalte Ideologie faschistischer Vergangenheit nicht abschütteln. Sie krallt sich fest und diktiert die Gegenwart.
"Wir, sagte einer, der dazugehört/Sind die verlorne Generation/Sie haben uns um unsre Ration geprellt/Das uns Zustehende war schon verteilt/Wir wurden mit der Lügenflasche aufgezogen/Gefüttert mit dem Brei der Heuchelei/Gezüchtigt mit der Peitsche der Vergangenheit/Geängstigt mit dem Teufel an der Wand."
Wer bei der Lektüre des Buches eine dissonante Stimmenvielfalt entdecken konnte, wird von der Hörbuchfassung enttäuscht sein. Für 100 Gedichte nur zwei Schauspieler zu verpflichten, vermag zu überzeugen, wenn dabei der Reichtum an Poetologien hörbar gemacht wird. Hier erweist es sich als Fehler.
Während Axel Prahl zwar Brüche aufzeigt und auch ein Beiseitesprechen mit leisen Zwischentönen intoniert, interpretiert Katharina Thalbach vielfach munter drauflos. Sarkastische Anspielungen und doppelter Wortsinn, vor allem bei den jüngeren Lyrikern, werden verschenkt.
Dabei ist es die feine Ironie Thomas Rosenlöchers oder der verzweifelt kühne Ton Kurt Drawerts, der in den Bann zieht und die Spannung zwischen den Lyrikergenerationen offenbart. Auch Barbara Köhlers eigenwillige Totentanzvision "Rondeau Allemagne" ist ein Beispiel dafür.
"Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd,/Mit einer Liebe, die mich über Grenzen treibt,/Zwischen den Himmeln. Sehe jeder, wo er bleibt;/Ich harre aus im Land und geh ihm fremd."
Da kann nur der Ratschlag gegeben werden, die 100 Gedichte nicht hintereinander zu konsumieren. Oder angeregt von der kenntnisreich erstellten Auswahl, die Buchwald und Wagenbach da präsentieren, wieder zum Buch zu greifen.
Besprochen von Carola Wiemers
Christoph Buchwald, Klaus Wagenbach (Hg.): 100 Gedichte aus der DDR
Gelesen von Katharina Thalbach und Axel Prahl
Patmos Verlag, Düsseldorf 2009
2 CDs, 141 Minuten, 19,95 Euro