Gegenwartsliteratur

Politisch, engagiert und vielstimmig

Porträt von Mithu Sanyal, die eine rot-orangene Jacke trägt und mit einem Buch in der Hand lachend vor einer schwarzen Tür steht.
Mithu Sanyal und andere Schriftsteller*innen forderte das Amt einer oder eines Parlamentspoet*in. Doch ist ein solcher Posten zeitgemäß? © Getty Images / Thomas Lohnes
Gedanken von Katharina Herrmann |
Früher gaben Schriftsteller wie Heinrich Böll dem Bürgertum in politischen Fragen Orientierung. Heute gibt es nicht mehr das eine „Gewissen der Nation“. Die Literaturszene zeigt sich pluralistischer, beobachtet die Kritikerin Katharina Herrmann.
Vor etwa einem Jahr, am 3. Januar 2022, wagten die drei Schriftsteller*innen Mithu Sanyal, Dmitrij Kapitelman und Simone Buchholz einen Vorstoß: Sie forderten, für den Deutschen Bundestag das Amt einer oder eines Parlamentspoet*in einzurichten. Aufgabe dieser Person sollte es sein, „die Politik poetischer und die Poesie politischer“ zu machen.
Gegen Ende des Jahres 2022 erfolgte eine ähnliche, wenn auch nicht auf ein Amt abzielende Forderung: In einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ trauerte der Publizist Hilmar Klute um das Verschwinden des Typs eines politisch engagierten Schriftstellers wie Heinrich Böll, der „Gewissen einer Nation“ gewesen sei, sich kompromisslos und radikal in seinem literarischen Werk wie darüber hinaus für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt habe.
Ist also die deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu wenig politisch? Mischt sie sich zu wenig ein, erheben Schriftsteller*innen zu selten die Stimme, wenn es um politische Fragestellungen geht?

Alles andere als unpolitisch

Ein Blick auf das vergangene Jahr beantwortet diese Frage deutlich. Da unterzeichneten etwa im April mehrere Schriftsteller*innen wie Robert Seethaler, Martin Walser und Juli Zeh einen offenen Brief an Olaf Scholz, in dem ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine gefordert wurde. Nur wenige Tage später reagierten etliche Schriftstellerkolleg*innen wie Maxim Biller, Daniel Kehlmann, Eva Menasse und Antje Rávik Strubel mit einem weiteren Offenen Brief, in dem diese nun Olaf Scholz zu zügigen Waffenlieferungen an die Ukraine ermutigten.
Heftige Reaktionen löste eine prokommunistische Positionierung der Lyrikerin Elisa Aseva aus, Kim de l’Horizon gewann für „Blutbuch“ den Buchpreis und nutzte die Dankesrede für eine Solidaritätsbekundung mit den Frauen im Iran, die von der Tagesschau deutschlandweit sichtbar gemacht wurde. Fatma Aydemir erzählte in ihrem Gesellschaftsroman „Dschinns“ von Themen, die den politischen Diskurs der Gegenwart prägen: von Migration, Rassismus, Gender, sozialem Aufstieg.
Robert Menasse veröffentlichte mit „Die Erweiterung“ einen Roman, der sich explizit mit europäischer Politik beschäftigt. Daniela Dröscher analysierte in ihrem Roman „Lügen über meine Mutter“ Diskriminierung aufgrund von Gender und Klassenzugehörigkeit, und Uwe Tellkamps politisch rechter Positionierung wurden zum Erscheinen seines neuen Romans „Der Schlaf in den Uhren“ mehrere Leitartikel im Feuilleton und eine mehrteilige Dokumentation im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gewidmet.
Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ist offensichtlich nicht unpolitisch, und das eben nicht nur deswegen, weil letztlich alles immer irgendwie politisch ist, sondern vor allem deswegen, weil sich viele Schriftsteller*innen offen und mit medialer Sichtbarkeit politisch positionieren. Dabei sind alle Positionen des politischen Spektrums vertreten.

Keine Definitionsmacht des Bildungsbürgertums

Was also fehlt Schriftsteller*innen, die eine Parlamentspoet*in oder einen neuen Heinrich Böll fordern? Ihnen fehlt das, was auch denjenigen fehlt, die das Ende von Volkskirche und Volksparteien betrauern: die Wirkmacht und Sichtbarkeit großer Instanzen, die große Teile der Gesellschaft erreichen und repräsentieren. Ihnen fehlt die Definitionsmacht des verschwundenen Bildungsbürgertums. All dies ist in einer pluralisierten Gesellschaft mit einer komplexen medialen Öffentlichkeit aber nicht mehr zu haben. Es gibt nicht mehr das eine „Gewissen der Nation“ – weder in der Literatur, noch anderswo.
Stattdessen gibt es politische Vielstimmigkeit und lebhaft, mitunter auch scharf geführte Debatten, auch unter Schriftsteller*innen. Denn der pluralen Gesellschaft, in der wir leben, entspricht genau die plurale literarische Landschaft, von der wir lesen. Genauso repräsentiert Literatur Demokratie.

Katharina Herrmann studierte evangelische Theologie und Germanistik, ist Literaturbloggerin auf kulturgeschwaetz.de, freie Kritikerin und Deutschlehrerin.

Eine Frau mit Brille schaut in die Kamera: die Kritikerin und Buchbloggerin Katharina Herrmann
© privat
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