Das politische Leben in Schleswig-Holstein nach Barschel
Obwohl eine Zusammenarbeit zwischen CDU und SPD nach der Barschel-Affäre über Jahre hinweg undenkbar war, hält das schwarz-rote Bündnis in Schleswig-Holstein trotz zwischenzeitlicher Regierungskrise. 20 Jahre nach dem Skandal ist das tiefe Misstrauen zwischen den Parteien allmählich gewichen.
Der schleswig-holsteinische Landtag im Jahre 2007 – am Rednerpult steht Ministerpräsident Peter Harry Carstensen.
Carstensen, der CDU-Landesvorsitzende, ist der erste gewählte Ministerpräsident der CDU seit Uwe Barschel und gibt hier eine Regierungserklärung ab. Kurz darauf geht SPD-Landeschef Ralf Stegner ans Mikrofon.
Der SPD-Landesvorsitzende tritt nicht etwa zu einer Erwiderung an – er will die Regierungserklärung – mit eigenen Akzenten - ergänzen. Denn CDU und SPD in Schleswig-Holstein bilden eine Koalition. Trotz regelmäßiger Krisen hält sie bisher. Eine solche Zusammenarbeit der beiden großen Parteien wäre in den 70er und 80er Jahren kaum vorstellbar gewesen, erinnert sich Günter Neugebauer. Er gehörte für die SPD zunächst lange der Ratsversammlung in Rendsburg an und sagt über die damalige Stimmung im Lande:
"SPD und CDU standen sich wie Feinde gegenüber, nun muss man berücksichtigen, der CDU-Landesverband war im Spektrum der Union der rechteste Verband und die schleswig-holsteinische SPD stand ziemlich links, und die CDU hatte ja über mehr als 30 Jahre die Regierungsverantwortung inne, also sie behandelte uns schlechter als man die Vettern vom Lande behandelt."
1979 wurde Günter Neugebauer für die SPD erstmals in den Landtag gewählt. Nun bekam er die Macht der regierenden CDU direkt zu spüren:
"Also wir hatten natürlich kein Akteneinsichtsrecht und ich kann mich noch an viele Sitzungen des Finanzausschusses erinnern, in dem wir eine Frage gestellt hatten an die Regierung, und sich dann sofort der Sprecher der CDU-Fraktion im Finanzausschuss zu Wort meldete und den Antrag stellte, dass die Regierung die Frage nicht beantworten muss. Dafür bekam sie natürlich eine Mehrheit und unsere Fragen wurden nicht beantwortet, aber auch im Parlament, muss ich gestehen, gab es kaum zwischenmenschliche Beziehungen, nicht einmal nach den Tagungen traf man sich zu einem Bier."
In dieser Ausgangslage sah sich Ministerpräsident Uwe Barschel von dem Sozialdemokraten Björn Engholm herausgefordert. Der Journalist Peter Höver, damals wie heute Berichterstatter über schleswig-holsteinische Landespolitik, sagt zu dieser Konstellation:
"Man kann diese Affäre, glaube ich, nur verstehen über die zwei unterschiedlichen Charaktere, Uwe Barschel und Björn Engholm. Uwe Barschel: ich glaube das schlagendste Zitat dazu ist jenes, was im Untersuchungsausschuss gefallen ist, wo er nämlich seine Sekretärin gefragt hat: Glauben Sie an Gott? Wollen Sie etwa, dass die Sozialdemokraten hier die Macht übernehmen? – also ein Spitzenpolitiker und Ministerpräsident, der offenbar vom Ehrgeiz so zerfressen war, so um seine Macht fürchtete angesichts dieses Herausforderers Björn Engholm, dass er jedes Maß politisch verloren hat."
Nach dem Tode Uwe Barschels und dem Bekanntwerden der Machenschaften aus seiner Staatskanzlei heraus saß der Schock in allen Parteien tief. Man machte sich Gedanken über den Umgang mit Macht und über die Kontrolle von Macht – und einigte sich ungewöhnlich schnell darauf zu handeln, so Landtagskorrespondent Höver.
"Schleswig-Holstein, der Landtag, die Politik, die Regierung haben durchaus Konsequenzen gezogen. Es gab in den 80er Jahren noch eine große Verfassungsreform hier in Schleswig-Holstein, die Rechte des Parlaments sind gestärkt worden, die Rechte der einzelnen Abgeordneten sind gestärkt worden, die Rechte des Landtages eben auch gegenüber der Regierung, die Minderheitenrechte im Untersuchungsausschuss sind gestärkt worden, also da sind eine ganze Menge politischer, verfassungsrechtlicher Konsequenzen gezogen worden, die auch die Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Regierung gestärkt hat."
Sozialdemokrat Günther Neugebauer gehörte dem ersten Barschel-Untersuchungsausschuss an. Die dort gewonnenen Erkenntnisse haben für ihn maßgeblich zu den Veränderungen der demokratischen Spielregeln beigetragen:
"Wir waren schon sehr erschrocken, in welcher Weise es eine Zusammenarbeit zwischen der Mehrheitsfraktion und der Regierungsarbeit gegeben hat, und die Landesgeschäftsstelle der CDU war eigentlich draußen vor, der Wahlkampf wurde aus der Staatskanzlei betrieben. Ich denke, dass das eine Lehre ist, an der wir uns noch immer orientieren, dass man hier eine strikte Trennung einzuhalten hat."
Und diese Trennung ist zumindest nach Überzeugung von Grünen-Fraktionschef Karl-Martin Hentschel in Schleswig-Holstein heute selbstverständlich.
"Früher wurden Wahlkämpfe aus der Staatskanzlei heraus gemacht – gibt es in anderen Ländern auch, habe ich mir sagen lassen - in Schleswig-Holstein ist das mittlerweile verpönt. Da wird auch drauf geachtet im Alltag."
Und das ist aus Sicht von Anke Sporendonk auch nötig. Sie wünscht sich noch mehr Distanz zwischen Regierung und Parteien.
"Also ich behaupte, dass auch heute Informationen zwischen der Regierung und den regierungstragenden Fraktionen fließen - nicht so wie damals, aber natürlich fließen Informationen hin und her, und ich behaupte auch, dass Informationen dazu genutzt werden, Reden vorzubereiten, Stellungnahmen vorzubereiten. Das ist eine Aufgabe, die nie erledigt ist, das ist Teil unserer politischen Wirklichkeit, dass man immer gegen an gehen muss, und da helfen bessere Strukturen, klare Strukturen, und die haben wir in Schleswig-Holstein. Wir müssen sie nur nutzen, wir müssen sie mit Leben erfüllen."
Im Großen und Ganzen sind die Oppositionsparteien in Schleswig-Holstein aber mit ihren heutigen Rechten zufrieden. Karl-Martin Hentschel von den Grünen spricht sogar von einem Kulturbruch in der gesamten Gesellschaft, den er maßgeblich auf die Diskussionen nach der Barschel-Affäre zurückführt.
"Zum Beispiel gab es früher eine Bannmeile ums Parlament. Als wir demonstriert haben in den 70er Jahren, da mussten wir hier 200 Meter vom Landeshaus entfernt am Zaun stehen und konnten das Landeshaus nur aus der Ferne sehen. Die Brokdorf-Demonstration – da wurden Demonstranten noch richtig als Staatsfeinde angesehen. Heute haben wir das Verständnis, dass die Polizei deeskalierend wirken soll bei Demonstrationen, und ich glaube, dass Schleswig-Holstein hier auch in der demokratischen Kultur ein bisschen Vorbild geworden ist für andere Bundesländer."
Für den Politikwissenschaftler Prof. Joachim Krause von der Universität Kiel war die Barschel-Affäre allerdings allenfalls der Anlass für eine ohnehin anstehende Weiterentwicklung der Demokratie:
"Ich denke, die Verfassungsänderungen haben in Schleswig-Holstein stattgefunden wie in anderen Bundesländern, sie haben ja auch etwas damit zu tun gehabt, dass auf dem Höhepunkt der Barschel-Affäre die Mehrheitsverhältnisse hier ja sehr knapp waren und umstritten waren und die Landesregierung ja vor allem weiter regieren konnte nach der alten Landessatzung, ohne neu im Amt bestätigt zu werden. Dies sind Dinge, die sind gemacht worden, um klare Mehrheitsverhältnisse zu haben, dass sind aber eher normale Anpassungsvorgänge, die alle Länderverfassungen und auch das Grundgesetz in den letzten Jahrzehnten durchgemacht haben."
In Schleswig-Holstein aber gab es noch eine andere Diskussion – der Umgang mit dem politischen Gegner sollte sich ändern. Darüber war man sich über Parteigrenzen hinweg einig, sagt Werner Kalinka, Landtagsabgeordneter der CDU.
"Es war ja eine Gesamtfolgerung aus Affäre, aus Geschehnissen und sicherlich auch dem tragischen Ende insgesamt, dass man sich sagte, Politik darf so nicht sein, große Vorsätze, dass man mit anderen Umgangsformen miteinander umgehen sollte – das war eigentlich ja das Bild, das damals die Diskussionen aus meiner Erinnerung geprägt hat."
Die Absicht war erkennbar – aber dabei blieb es nach Ansicht Kalinkas auch:
"Es sind damals nach der Affäre viele heere Grundsätze verkündet und aufgestellt worden. Ich glaube, dass man sich schon bemüht hat, ein bisschen sorgsamer miteinander umzugehen, dass man auch manchmal im Hinterkopf hat: aufpassen, da dürfen manche Dinge nicht über eine Grenze gehen oder eskalieren. Aber andererseits muss ich sagen: in dem täglichen praktischen Leben ist es in der Politik wie in anderen Bereichen – richtig tiefgreifend hat sich aus meiner Sicht keine Veränderung ergeben."
Nach dem Tode Barschels verschlechterte sich das Verhältnis zwischen CDU und SPD zunächst noch weiter - vor allem, als der erste Untersuchungsausschuss die Machenschaften von Barschels Medienreferenten Pfeiffer gegen Engholm im Detail aufdeckte und keine Zweifel an der Urheberschaft Barschels hatte. Thomas Stritzl war damals neu für die CDU in den Landtag gekommen. Er erlebte einen deutlichen Stimmungsumschwung, als der zweite Untersuchungsausschuss zu anderen Ergebnissen kam:
"Nachdem durch den zweiten Untersuchungsausschuss klar gestellt worden ist, dass es keine strengen Beweise gibt, die die Mitwisserschaft oder Täterschaft von Uwe Barschel persönlich auf die behaupteten Machenschaften nachweisen können, hat eines aufgehört, was davor leicht war: dass SPD-Ortsvereine CDU-Ortsvorsitzende aufgefordert haben, sich öffentlich zu entschuldigen für das was als Machenschaften Uwe Barschel zu Unrecht zugeschrieben wurde. Spätestens seit dem zweiten Untersuchungsausschuss ist diese moralische Keule gegen die CDU nicht mehr geschwungen worden. Seit diese Ergebnisse klar sind und auf dem Tisch liegen, hat sich das da deutlich entspannt."
Die schleswig-holsteinische CDU sprach nicht mehr von einer Barschel-Affäre, sondern von einer Pfeiffer-Affäre. Die Lage der CDU hatte sich verbessert – nicht aber das Verhältnis zwischen CDU und SPD. Denn nunmehr fühlten sich die Christdemokraten betrogen, weil Engholm verschwiegen hatte, früher von den Machenschaften Pfeiffers gewusst zu haben und weil SPD-Landeschef Günter Jansen später 40.000 Mark an Pfeiffer zahlte – Geld, das er in einer Schublade aufbewahrte, weshalb der zweite Untersuchungsausschuss auch Schubladen-Ausschuss genannte wurde. Ministerpräsident Engholm trat nun – fünfeinhalb Jahre nach dem Tode Barschels - von allen Ämtern zurück. Der CDU-Landtagsabgeordnete Kalinka erklärt die anschließende Reserviertheit der Christdemokraten gegenüber den Sozialdemokraten in Schleswig-Holstein:
"Es ist eigentlich doch nur sehr schwer nachvollziehbar, wenn man über Jahre – angesichts der heeren Grundsätze – daran festgehalten hat, die Unwahrheit weiter im Raum stehen zu lassen. Und dass dann später bekannt wurde, dass Pfeiffer dann auch noch Geld bekommen hat von denen, denen er geschadet haben soll, das ist schon eine besondere Merkwürdigkeit im Rahmen dieser Affäre."
Das gegenseitige Misstrauen zwischen CDU und SPD hat nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Prof. Krause lange angehalten und war auch noch im Jahre 2005 zu spüren. Vier Mal war Heide Simonis bei der Wahl zur Ministerpräsidentin gescheitert, obwohl SPD, Grüne und Südschleswigscher Wählerverband eine Mehrheit von einer Stimme gehabt hätten – dann verhandelten CDU und SPD über eine Große Koalition. An der Basis gab es zum Teil Vorbehalte – in einigen SPD-Ortsvereinen hieß es, man könne doch nicht mit der Barschel-Partei koalieren. Prof. Krause sagt:
"Ich würde nicht sagen 'die Barschel-Partei', aber es war eine Partei, die sozusagen belastet war, und umgekehrt hat natürlich auch in der CDU mancher gesagt, dies ist immer noch die Partei, die Björn Engholm lange an der Macht gehalten hat. Also es war – ich kann das sagen als jemand, der lange außerhalb Schleswig-Holsteins gelebt hat und dann nach Schleswig-Holstein gekommen ist – erstaunlich, wie stark hier noch die Differenzen zwischen den Parteien auch viele Jahre nach der Barschel-Affäre waren. Das hat sich geändert in den letzten Jahren, besonders seit beide Parteien seit 2005 sozusagen in der Pflicht sind, eine Große Koalition zu bilden. Ich glaube, das war eine heilsame Erfahrung, dass man gemeinsam in die Pflicht genommen ist und dass man gemeinsame Ziele und Interessen hat. Das ist nicht immer einfach, weil ja beide unterschiedliche Pole im politischen Spektrum abdecken, aber ich denke mal, dass die normale Zusammenarbeit wieder da ist, denn das war lange nicht normal."
Ganz ähnliche Beobachtungen hat der Journalist Peter Höver gemacht:
"Die Verletzungen, die auf beiden Seiten vorgekommen sind, haben sich bis in die späten 90er Jahre hinein sichtbar – auch für uns Journalisten – fortgesetzt. Es gab Ressentiments, es gab Abgrenzungen zwischen den beiden großen Volksparteien, also die Verletzungen haben noch lange nachgewirkt. Und wir waren alle – kommen wir in die jetzige Zeit – überrascht, dass CDU und SPD hier eine Große Koalition gebildet haben. Aber vielleicht liegt auch die Krise, die wir im Moment erleben, diese Krise der Großen Koalition, tief begraben auch in Vergangenheiten – da trauen sich Parteien, da trauen sich Politiker von Parteien nicht wirklich über den Weg."
Der Politikwissenschaftler Prof. Krause sieht allerdings andere Gründe für die jüngste Koalitionskrise. SPD-Landeschef Ralf Stegner hatte sie ausgelöst, als er wiederholt einen scharfen Ton gegenüber dem Koalitionspartner CDU anschlug und als Konsequenz als Innenminister aus dem Kabinett Carstensen ausscheiden musste:
"Die jetzigen Querelen halte ich für eine ganz normale Entwicklung im Rahmen einer Großen Koalition. Die SPD hat das Problem, dass ihr die Linkspartei im Genick sitzt, und – das wissen wir aus allen Großen Koalitionen – dass dann auf der linken Seite die SPD abbröckelt. Insofern kann ich verstehen, dass da Nervosität ist, und dass Herr Stegner diesen Schritt gemacht hat. Denn jede Partei muss sich doch irgendwie gegenüber ihrer Wählerschaft profilieren und kann nicht nur mit den Erfolgen einer Großen Koalition aufwarten."
Auch für den CDU-Abgeordneten Kalinka sind die derzeitigen Diskussionen oder auch Streitereien in der Großen Koalition kein Indiz für ein nach wie vor durch die Barschel-Pfeiffer-Affäre belastetes Verhältnis:
"Politik heißt ja nicht Harmonie um der Harmonie willen, sondern Politik heißt, dass man für die Menschen aus seiner Sicht den bestmöglichen Vorschlag macht. Und das bedeutet auch den Wettbewerb der Argumente, der Meinungen. Wenn Politik eine positive Streitkultur ist, dann ist dieses finde ich auch überhaupt nicht zu beanstanden. Und alle die glauben, dass politische Debatten Harmonie-Veranstaltungen sein sollten, die werden auf Dauer ohnehin nicht zu vernünftigen Wegen kommen."
Eines ist in der politischen Szene Schleswig-Holsteins jedenfalls anders als vor zwei oder drei Jahrzehnten: wie Günter Neugebauer von der SPD berichtet hat, war es für viele Landtagsabgeordnete damals ungewöhnlich, sich mit jemandem aus dem anderen, aus dem feindlichen Lager auf ein Bier zu treffen. Das hat sich geändert, sagt Neugebauer:
"Ich glaube nicht, dass das die Barschel-Affäre gewesen ist, die zu einem Umdenken geführt hat, aber es sind neue Generationen dabei, die ein anderes Miteinander pflegen, und in dem politischen Mitstreiter, Mitbewerber nicht den Feind, sondern den Andersdenkenden sehen."
Thomas Stritzl von der CDU bestätigt den neuen Umgang miteinander:
"Das Verhältnis heute zwischen CDU- und SPD-Abgeordneten ist entspannt, von unserer Seite oder von meiner Seite her, muss ich sagen, sind über die Zeit sehr nette Kontakte auch zur SPD gewachsen."
Persönliche Freundschaften über alle Fraktionsgrenzen im Landtag hinweg hat Ekkehard Klug von der FDP ausgemacht:
"Das hilft natürlich auch. Das trägt dann mal über eine Zeit, wo es dann mal etwas heftigere Debatten hin und her gibt. Die gibt’s natürlich nach wie vor, muss es ja auch im Parlament geben, aber so, wie es wohl damals gewesen ist, wo doch eher die Feindschaft im Vordergrund stand, das ist so heute schon gar nicht mehr denkbar, glaube ich."
Auch Werner Kalinka von der CDU stellt fest, dass der heutige Umgang miteinander lockerer ist:
"Ich glaube, dass grundsätzlich früher die härtere ideologische Auseinandersetzung bei den Abgeordneten eine Rolle gespielt hat. Heute werden die Dinge pragmatischer gesehen und weniger in der Härte der Auseinandersetzung ausgetragen."
Der persönliche Umgang der Abgeordneten verschiedener Lager ist weniger verkrampft, die Rechte der Opposition sind gestärkt und auch der Journalismus hat sich gewandelt, sagt der Landtagskorrespondent Peter Höver - selbstkritisch:
"Wir haben heute hier in Schleswig-Holstein eine deutlich kritischere Medienlandschaft, eine, die den Mächtigen durchaus auf die Finger klopft. Früher hat man eher auf dem Schoß gesessen."
Der SPD-Abgeordnete Günter Neugebauer schildert das aus seiner Erinnerung:
"Es gab eine Art Hofberichterstattung. Die Chefredakteure und Herausgeber wurden von Zeit zu Zeit in eine sogenannte Astor-Runde – benannt nach einem Kieler Hotel – geladen, in der sie also 'Weisungen' – in Tütelchen sage ich es mal – entgegenzunehmen hatten, und Stoltenberg und auch Barschel konnten sich eigentlich alles leisten und wurden nicht dafür kritisiert."
So etwas gebe es heute nicht mehr. Vieles hat sich also seit der Barschel-Pfeiffer-Affäre und zum Teil vielleicht durch die Affäre geändert – nachhaltig, glaubt Günter Neugebauer.
"Für mich ist wesentlich, dass wir Lehren daraus gezogen haben, dass eine enge Verquickung zwischen Partei und Regierungsamt sich nie wiederholen darf, dass man in dem politischen Mitstreiter nie den politischen Feind sehen will, den man mit – ja – mit Stasi-Methoden bekämpft, wie das hier damals der Fall gewesen ist."
Werner Kalinka von der CDU will dennoch nicht völlig ausschließen, dass sich derartige Machenschaften in der schleswig-holsteinischen Landespolitik eines Tages wiederholen könnten:
"Vor menschlichem Fehlverhalten ist niemand gefeit. Also zu sagen, es könne eine bestimmte Situation nie im Leben wieder eintreten, habe ich Probleme mit, dieses so sicher zu prognostizieren. Ich glaube aber, dass das Bewusstsein dafür, dass jemand aus einer Staatskanzlei oder aus welcher Behörde auch immer, einem Ministerium, so etwas nicht treiben darf, dass beispielsweise dieses Bewusstsein nachhaltiger geschärft ist."
Auch Ekkehard Klug von der FDP hält eine Wiederholung nicht für unmöglich:
"Die Regierungsmacht birgt immer das Risiko, dass sie missbraucht werden kann, und je stärker die Regierungsmacht ist – und in einer Großen Koalition ist sie natürlich gewaltig, wenn man sieht, dass 59 von 69 Abgeordneten von der Regierungsseite gestellt werden – die Gefahr ist nicht grundsätzlich auszuschließen. Ich glaube aber, heute wären die Akteure sicherlich vorsichtiger, weil sie natürlich aus Erfahrung wissen, dass Missbrauch von Regierungsmacht auch ans Licht kommen kann und dass man das nicht unter der Decke halten kann. Man muss schon aufpassen, dass das dann tatsächlich nicht passiert."
Für Karl-Martin Hentschel von den Grünen ist die Kontrolle durch eine aufmerksame Öffentlichkeit die wichtigste Voraussetzung dafür, dass sich eine derartige Affäre nicht wiederholt:
"Damals glaubte die regierende Partei, dass dieses Land ihnen gehört. Ich glaube das hat sich grundlegend geändert, und dafür spielt auch die Presse eine wichtige Rolle – die Journalisten. Denn dass das damals so möglich war, lag natürlich an allen Akteuren. Das lag am Parlament, das lag an der Regierung, das lag daran, dass die Öffentlichkeit mitgespielt hat. Ich glaube, so lange die Öffentlichkeit dort ein anderes Bewusstsein hat, wird sich das nicht wiederholen."
Vielleicht hat die heutige öffentliche Aufmerksamkeit ja auch die Große Koalition in Schleswig-Holstein dazu gebracht, ihre zahlenmäßige Übermacht nicht zu sehr auszuspielen. Sie hat versprochen, der Opposition in bestimmten Fällen freiwillig Stimmen abzugeben. Denn um beispielsweise eine namentliche Abstimmung im schleswig-holsteinischen Landtag durchzusetzen, brauchen die Antragsteller 18 Stimmen. FDP, Grüne und SSW haben aber gemeinsam nur 10 Stimmen. Zu Beginn ihrer Großen Koalition hatten CDU und SPD versprochen, bei einem solchen Antrag der Opposition die fehlenden Stimmen aus ihren Reihen zu beschaffen – bisher haben sie sich daran gehalten.
Carstensen, der CDU-Landesvorsitzende, ist der erste gewählte Ministerpräsident der CDU seit Uwe Barschel und gibt hier eine Regierungserklärung ab. Kurz darauf geht SPD-Landeschef Ralf Stegner ans Mikrofon.
Der SPD-Landesvorsitzende tritt nicht etwa zu einer Erwiderung an – er will die Regierungserklärung – mit eigenen Akzenten - ergänzen. Denn CDU und SPD in Schleswig-Holstein bilden eine Koalition. Trotz regelmäßiger Krisen hält sie bisher. Eine solche Zusammenarbeit der beiden großen Parteien wäre in den 70er und 80er Jahren kaum vorstellbar gewesen, erinnert sich Günter Neugebauer. Er gehörte für die SPD zunächst lange der Ratsversammlung in Rendsburg an und sagt über die damalige Stimmung im Lande:
"SPD und CDU standen sich wie Feinde gegenüber, nun muss man berücksichtigen, der CDU-Landesverband war im Spektrum der Union der rechteste Verband und die schleswig-holsteinische SPD stand ziemlich links, und die CDU hatte ja über mehr als 30 Jahre die Regierungsverantwortung inne, also sie behandelte uns schlechter als man die Vettern vom Lande behandelt."
1979 wurde Günter Neugebauer für die SPD erstmals in den Landtag gewählt. Nun bekam er die Macht der regierenden CDU direkt zu spüren:
"Also wir hatten natürlich kein Akteneinsichtsrecht und ich kann mich noch an viele Sitzungen des Finanzausschusses erinnern, in dem wir eine Frage gestellt hatten an die Regierung, und sich dann sofort der Sprecher der CDU-Fraktion im Finanzausschuss zu Wort meldete und den Antrag stellte, dass die Regierung die Frage nicht beantworten muss. Dafür bekam sie natürlich eine Mehrheit und unsere Fragen wurden nicht beantwortet, aber auch im Parlament, muss ich gestehen, gab es kaum zwischenmenschliche Beziehungen, nicht einmal nach den Tagungen traf man sich zu einem Bier."
In dieser Ausgangslage sah sich Ministerpräsident Uwe Barschel von dem Sozialdemokraten Björn Engholm herausgefordert. Der Journalist Peter Höver, damals wie heute Berichterstatter über schleswig-holsteinische Landespolitik, sagt zu dieser Konstellation:
"Man kann diese Affäre, glaube ich, nur verstehen über die zwei unterschiedlichen Charaktere, Uwe Barschel und Björn Engholm. Uwe Barschel: ich glaube das schlagendste Zitat dazu ist jenes, was im Untersuchungsausschuss gefallen ist, wo er nämlich seine Sekretärin gefragt hat: Glauben Sie an Gott? Wollen Sie etwa, dass die Sozialdemokraten hier die Macht übernehmen? – also ein Spitzenpolitiker und Ministerpräsident, der offenbar vom Ehrgeiz so zerfressen war, so um seine Macht fürchtete angesichts dieses Herausforderers Björn Engholm, dass er jedes Maß politisch verloren hat."
Nach dem Tode Uwe Barschels und dem Bekanntwerden der Machenschaften aus seiner Staatskanzlei heraus saß der Schock in allen Parteien tief. Man machte sich Gedanken über den Umgang mit Macht und über die Kontrolle von Macht – und einigte sich ungewöhnlich schnell darauf zu handeln, so Landtagskorrespondent Höver.
"Schleswig-Holstein, der Landtag, die Politik, die Regierung haben durchaus Konsequenzen gezogen. Es gab in den 80er Jahren noch eine große Verfassungsreform hier in Schleswig-Holstein, die Rechte des Parlaments sind gestärkt worden, die Rechte der einzelnen Abgeordneten sind gestärkt worden, die Rechte des Landtages eben auch gegenüber der Regierung, die Minderheitenrechte im Untersuchungsausschuss sind gestärkt worden, also da sind eine ganze Menge politischer, verfassungsrechtlicher Konsequenzen gezogen worden, die auch die Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Regierung gestärkt hat."
Sozialdemokrat Günther Neugebauer gehörte dem ersten Barschel-Untersuchungsausschuss an. Die dort gewonnenen Erkenntnisse haben für ihn maßgeblich zu den Veränderungen der demokratischen Spielregeln beigetragen:
"Wir waren schon sehr erschrocken, in welcher Weise es eine Zusammenarbeit zwischen der Mehrheitsfraktion und der Regierungsarbeit gegeben hat, und die Landesgeschäftsstelle der CDU war eigentlich draußen vor, der Wahlkampf wurde aus der Staatskanzlei betrieben. Ich denke, dass das eine Lehre ist, an der wir uns noch immer orientieren, dass man hier eine strikte Trennung einzuhalten hat."
Und diese Trennung ist zumindest nach Überzeugung von Grünen-Fraktionschef Karl-Martin Hentschel in Schleswig-Holstein heute selbstverständlich.
"Früher wurden Wahlkämpfe aus der Staatskanzlei heraus gemacht – gibt es in anderen Ländern auch, habe ich mir sagen lassen - in Schleswig-Holstein ist das mittlerweile verpönt. Da wird auch drauf geachtet im Alltag."
Und das ist aus Sicht von Anke Sporendonk auch nötig. Sie wünscht sich noch mehr Distanz zwischen Regierung und Parteien.
"Also ich behaupte, dass auch heute Informationen zwischen der Regierung und den regierungstragenden Fraktionen fließen - nicht so wie damals, aber natürlich fließen Informationen hin und her, und ich behaupte auch, dass Informationen dazu genutzt werden, Reden vorzubereiten, Stellungnahmen vorzubereiten. Das ist eine Aufgabe, die nie erledigt ist, das ist Teil unserer politischen Wirklichkeit, dass man immer gegen an gehen muss, und da helfen bessere Strukturen, klare Strukturen, und die haben wir in Schleswig-Holstein. Wir müssen sie nur nutzen, wir müssen sie mit Leben erfüllen."
Im Großen und Ganzen sind die Oppositionsparteien in Schleswig-Holstein aber mit ihren heutigen Rechten zufrieden. Karl-Martin Hentschel von den Grünen spricht sogar von einem Kulturbruch in der gesamten Gesellschaft, den er maßgeblich auf die Diskussionen nach der Barschel-Affäre zurückführt.
"Zum Beispiel gab es früher eine Bannmeile ums Parlament. Als wir demonstriert haben in den 70er Jahren, da mussten wir hier 200 Meter vom Landeshaus entfernt am Zaun stehen und konnten das Landeshaus nur aus der Ferne sehen. Die Brokdorf-Demonstration – da wurden Demonstranten noch richtig als Staatsfeinde angesehen. Heute haben wir das Verständnis, dass die Polizei deeskalierend wirken soll bei Demonstrationen, und ich glaube, dass Schleswig-Holstein hier auch in der demokratischen Kultur ein bisschen Vorbild geworden ist für andere Bundesländer."
Für den Politikwissenschaftler Prof. Joachim Krause von der Universität Kiel war die Barschel-Affäre allerdings allenfalls der Anlass für eine ohnehin anstehende Weiterentwicklung der Demokratie:
"Ich denke, die Verfassungsänderungen haben in Schleswig-Holstein stattgefunden wie in anderen Bundesländern, sie haben ja auch etwas damit zu tun gehabt, dass auf dem Höhepunkt der Barschel-Affäre die Mehrheitsverhältnisse hier ja sehr knapp waren und umstritten waren und die Landesregierung ja vor allem weiter regieren konnte nach der alten Landessatzung, ohne neu im Amt bestätigt zu werden. Dies sind Dinge, die sind gemacht worden, um klare Mehrheitsverhältnisse zu haben, dass sind aber eher normale Anpassungsvorgänge, die alle Länderverfassungen und auch das Grundgesetz in den letzten Jahrzehnten durchgemacht haben."
In Schleswig-Holstein aber gab es noch eine andere Diskussion – der Umgang mit dem politischen Gegner sollte sich ändern. Darüber war man sich über Parteigrenzen hinweg einig, sagt Werner Kalinka, Landtagsabgeordneter der CDU.
"Es war ja eine Gesamtfolgerung aus Affäre, aus Geschehnissen und sicherlich auch dem tragischen Ende insgesamt, dass man sich sagte, Politik darf so nicht sein, große Vorsätze, dass man mit anderen Umgangsformen miteinander umgehen sollte – das war eigentlich ja das Bild, das damals die Diskussionen aus meiner Erinnerung geprägt hat."
Die Absicht war erkennbar – aber dabei blieb es nach Ansicht Kalinkas auch:
"Es sind damals nach der Affäre viele heere Grundsätze verkündet und aufgestellt worden. Ich glaube, dass man sich schon bemüht hat, ein bisschen sorgsamer miteinander umzugehen, dass man auch manchmal im Hinterkopf hat: aufpassen, da dürfen manche Dinge nicht über eine Grenze gehen oder eskalieren. Aber andererseits muss ich sagen: in dem täglichen praktischen Leben ist es in der Politik wie in anderen Bereichen – richtig tiefgreifend hat sich aus meiner Sicht keine Veränderung ergeben."
Nach dem Tode Barschels verschlechterte sich das Verhältnis zwischen CDU und SPD zunächst noch weiter - vor allem, als der erste Untersuchungsausschuss die Machenschaften von Barschels Medienreferenten Pfeiffer gegen Engholm im Detail aufdeckte und keine Zweifel an der Urheberschaft Barschels hatte. Thomas Stritzl war damals neu für die CDU in den Landtag gekommen. Er erlebte einen deutlichen Stimmungsumschwung, als der zweite Untersuchungsausschuss zu anderen Ergebnissen kam:
"Nachdem durch den zweiten Untersuchungsausschuss klar gestellt worden ist, dass es keine strengen Beweise gibt, die die Mitwisserschaft oder Täterschaft von Uwe Barschel persönlich auf die behaupteten Machenschaften nachweisen können, hat eines aufgehört, was davor leicht war: dass SPD-Ortsvereine CDU-Ortsvorsitzende aufgefordert haben, sich öffentlich zu entschuldigen für das was als Machenschaften Uwe Barschel zu Unrecht zugeschrieben wurde. Spätestens seit dem zweiten Untersuchungsausschuss ist diese moralische Keule gegen die CDU nicht mehr geschwungen worden. Seit diese Ergebnisse klar sind und auf dem Tisch liegen, hat sich das da deutlich entspannt."
Die schleswig-holsteinische CDU sprach nicht mehr von einer Barschel-Affäre, sondern von einer Pfeiffer-Affäre. Die Lage der CDU hatte sich verbessert – nicht aber das Verhältnis zwischen CDU und SPD. Denn nunmehr fühlten sich die Christdemokraten betrogen, weil Engholm verschwiegen hatte, früher von den Machenschaften Pfeiffers gewusst zu haben und weil SPD-Landeschef Günter Jansen später 40.000 Mark an Pfeiffer zahlte – Geld, das er in einer Schublade aufbewahrte, weshalb der zweite Untersuchungsausschuss auch Schubladen-Ausschuss genannte wurde. Ministerpräsident Engholm trat nun – fünfeinhalb Jahre nach dem Tode Barschels - von allen Ämtern zurück. Der CDU-Landtagsabgeordnete Kalinka erklärt die anschließende Reserviertheit der Christdemokraten gegenüber den Sozialdemokraten in Schleswig-Holstein:
"Es ist eigentlich doch nur sehr schwer nachvollziehbar, wenn man über Jahre – angesichts der heeren Grundsätze – daran festgehalten hat, die Unwahrheit weiter im Raum stehen zu lassen. Und dass dann später bekannt wurde, dass Pfeiffer dann auch noch Geld bekommen hat von denen, denen er geschadet haben soll, das ist schon eine besondere Merkwürdigkeit im Rahmen dieser Affäre."
Das gegenseitige Misstrauen zwischen CDU und SPD hat nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Prof. Krause lange angehalten und war auch noch im Jahre 2005 zu spüren. Vier Mal war Heide Simonis bei der Wahl zur Ministerpräsidentin gescheitert, obwohl SPD, Grüne und Südschleswigscher Wählerverband eine Mehrheit von einer Stimme gehabt hätten – dann verhandelten CDU und SPD über eine Große Koalition. An der Basis gab es zum Teil Vorbehalte – in einigen SPD-Ortsvereinen hieß es, man könne doch nicht mit der Barschel-Partei koalieren. Prof. Krause sagt:
"Ich würde nicht sagen 'die Barschel-Partei', aber es war eine Partei, die sozusagen belastet war, und umgekehrt hat natürlich auch in der CDU mancher gesagt, dies ist immer noch die Partei, die Björn Engholm lange an der Macht gehalten hat. Also es war – ich kann das sagen als jemand, der lange außerhalb Schleswig-Holsteins gelebt hat und dann nach Schleswig-Holstein gekommen ist – erstaunlich, wie stark hier noch die Differenzen zwischen den Parteien auch viele Jahre nach der Barschel-Affäre waren. Das hat sich geändert in den letzten Jahren, besonders seit beide Parteien seit 2005 sozusagen in der Pflicht sind, eine Große Koalition zu bilden. Ich glaube, das war eine heilsame Erfahrung, dass man gemeinsam in die Pflicht genommen ist und dass man gemeinsame Ziele und Interessen hat. Das ist nicht immer einfach, weil ja beide unterschiedliche Pole im politischen Spektrum abdecken, aber ich denke mal, dass die normale Zusammenarbeit wieder da ist, denn das war lange nicht normal."
Ganz ähnliche Beobachtungen hat der Journalist Peter Höver gemacht:
"Die Verletzungen, die auf beiden Seiten vorgekommen sind, haben sich bis in die späten 90er Jahre hinein sichtbar – auch für uns Journalisten – fortgesetzt. Es gab Ressentiments, es gab Abgrenzungen zwischen den beiden großen Volksparteien, also die Verletzungen haben noch lange nachgewirkt. Und wir waren alle – kommen wir in die jetzige Zeit – überrascht, dass CDU und SPD hier eine Große Koalition gebildet haben. Aber vielleicht liegt auch die Krise, die wir im Moment erleben, diese Krise der Großen Koalition, tief begraben auch in Vergangenheiten – da trauen sich Parteien, da trauen sich Politiker von Parteien nicht wirklich über den Weg."
Der Politikwissenschaftler Prof. Krause sieht allerdings andere Gründe für die jüngste Koalitionskrise. SPD-Landeschef Ralf Stegner hatte sie ausgelöst, als er wiederholt einen scharfen Ton gegenüber dem Koalitionspartner CDU anschlug und als Konsequenz als Innenminister aus dem Kabinett Carstensen ausscheiden musste:
"Die jetzigen Querelen halte ich für eine ganz normale Entwicklung im Rahmen einer Großen Koalition. Die SPD hat das Problem, dass ihr die Linkspartei im Genick sitzt, und – das wissen wir aus allen Großen Koalitionen – dass dann auf der linken Seite die SPD abbröckelt. Insofern kann ich verstehen, dass da Nervosität ist, und dass Herr Stegner diesen Schritt gemacht hat. Denn jede Partei muss sich doch irgendwie gegenüber ihrer Wählerschaft profilieren und kann nicht nur mit den Erfolgen einer Großen Koalition aufwarten."
Auch für den CDU-Abgeordneten Kalinka sind die derzeitigen Diskussionen oder auch Streitereien in der Großen Koalition kein Indiz für ein nach wie vor durch die Barschel-Pfeiffer-Affäre belastetes Verhältnis:
"Politik heißt ja nicht Harmonie um der Harmonie willen, sondern Politik heißt, dass man für die Menschen aus seiner Sicht den bestmöglichen Vorschlag macht. Und das bedeutet auch den Wettbewerb der Argumente, der Meinungen. Wenn Politik eine positive Streitkultur ist, dann ist dieses finde ich auch überhaupt nicht zu beanstanden. Und alle die glauben, dass politische Debatten Harmonie-Veranstaltungen sein sollten, die werden auf Dauer ohnehin nicht zu vernünftigen Wegen kommen."
Eines ist in der politischen Szene Schleswig-Holsteins jedenfalls anders als vor zwei oder drei Jahrzehnten: wie Günter Neugebauer von der SPD berichtet hat, war es für viele Landtagsabgeordnete damals ungewöhnlich, sich mit jemandem aus dem anderen, aus dem feindlichen Lager auf ein Bier zu treffen. Das hat sich geändert, sagt Neugebauer:
"Ich glaube nicht, dass das die Barschel-Affäre gewesen ist, die zu einem Umdenken geführt hat, aber es sind neue Generationen dabei, die ein anderes Miteinander pflegen, und in dem politischen Mitstreiter, Mitbewerber nicht den Feind, sondern den Andersdenkenden sehen."
Thomas Stritzl von der CDU bestätigt den neuen Umgang miteinander:
"Das Verhältnis heute zwischen CDU- und SPD-Abgeordneten ist entspannt, von unserer Seite oder von meiner Seite her, muss ich sagen, sind über die Zeit sehr nette Kontakte auch zur SPD gewachsen."
Persönliche Freundschaften über alle Fraktionsgrenzen im Landtag hinweg hat Ekkehard Klug von der FDP ausgemacht:
"Das hilft natürlich auch. Das trägt dann mal über eine Zeit, wo es dann mal etwas heftigere Debatten hin und her gibt. Die gibt’s natürlich nach wie vor, muss es ja auch im Parlament geben, aber so, wie es wohl damals gewesen ist, wo doch eher die Feindschaft im Vordergrund stand, das ist so heute schon gar nicht mehr denkbar, glaube ich."
Auch Werner Kalinka von der CDU stellt fest, dass der heutige Umgang miteinander lockerer ist:
"Ich glaube, dass grundsätzlich früher die härtere ideologische Auseinandersetzung bei den Abgeordneten eine Rolle gespielt hat. Heute werden die Dinge pragmatischer gesehen und weniger in der Härte der Auseinandersetzung ausgetragen."
Der persönliche Umgang der Abgeordneten verschiedener Lager ist weniger verkrampft, die Rechte der Opposition sind gestärkt und auch der Journalismus hat sich gewandelt, sagt der Landtagskorrespondent Peter Höver - selbstkritisch:
"Wir haben heute hier in Schleswig-Holstein eine deutlich kritischere Medienlandschaft, eine, die den Mächtigen durchaus auf die Finger klopft. Früher hat man eher auf dem Schoß gesessen."
Der SPD-Abgeordnete Günter Neugebauer schildert das aus seiner Erinnerung:
"Es gab eine Art Hofberichterstattung. Die Chefredakteure und Herausgeber wurden von Zeit zu Zeit in eine sogenannte Astor-Runde – benannt nach einem Kieler Hotel – geladen, in der sie also 'Weisungen' – in Tütelchen sage ich es mal – entgegenzunehmen hatten, und Stoltenberg und auch Barschel konnten sich eigentlich alles leisten und wurden nicht dafür kritisiert."
So etwas gebe es heute nicht mehr. Vieles hat sich also seit der Barschel-Pfeiffer-Affäre und zum Teil vielleicht durch die Affäre geändert – nachhaltig, glaubt Günter Neugebauer.
"Für mich ist wesentlich, dass wir Lehren daraus gezogen haben, dass eine enge Verquickung zwischen Partei und Regierungsamt sich nie wiederholen darf, dass man in dem politischen Mitstreiter nie den politischen Feind sehen will, den man mit – ja – mit Stasi-Methoden bekämpft, wie das hier damals der Fall gewesen ist."
Werner Kalinka von der CDU will dennoch nicht völlig ausschließen, dass sich derartige Machenschaften in der schleswig-holsteinischen Landespolitik eines Tages wiederholen könnten:
"Vor menschlichem Fehlverhalten ist niemand gefeit. Also zu sagen, es könne eine bestimmte Situation nie im Leben wieder eintreten, habe ich Probleme mit, dieses so sicher zu prognostizieren. Ich glaube aber, dass das Bewusstsein dafür, dass jemand aus einer Staatskanzlei oder aus welcher Behörde auch immer, einem Ministerium, so etwas nicht treiben darf, dass beispielsweise dieses Bewusstsein nachhaltiger geschärft ist."
Auch Ekkehard Klug von der FDP hält eine Wiederholung nicht für unmöglich:
"Die Regierungsmacht birgt immer das Risiko, dass sie missbraucht werden kann, und je stärker die Regierungsmacht ist – und in einer Großen Koalition ist sie natürlich gewaltig, wenn man sieht, dass 59 von 69 Abgeordneten von der Regierungsseite gestellt werden – die Gefahr ist nicht grundsätzlich auszuschließen. Ich glaube aber, heute wären die Akteure sicherlich vorsichtiger, weil sie natürlich aus Erfahrung wissen, dass Missbrauch von Regierungsmacht auch ans Licht kommen kann und dass man das nicht unter der Decke halten kann. Man muss schon aufpassen, dass das dann tatsächlich nicht passiert."
Für Karl-Martin Hentschel von den Grünen ist die Kontrolle durch eine aufmerksame Öffentlichkeit die wichtigste Voraussetzung dafür, dass sich eine derartige Affäre nicht wiederholt:
"Damals glaubte die regierende Partei, dass dieses Land ihnen gehört. Ich glaube das hat sich grundlegend geändert, und dafür spielt auch die Presse eine wichtige Rolle – die Journalisten. Denn dass das damals so möglich war, lag natürlich an allen Akteuren. Das lag am Parlament, das lag an der Regierung, das lag daran, dass die Öffentlichkeit mitgespielt hat. Ich glaube, so lange die Öffentlichkeit dort ein anderes Bewusstsein hat, wird sich das nicht wiederholen."
Vielleicht hat die heutige öffentliche Aufmerksamkeit ja auch die Große Koalition in Schleswig-Holstein dazu gebracht, ihre zahlenmäßige Übermacht nicht zu sehr auszuspielen. Sie hat versprochen, der Opposition in bestimmten Fällen freiwillig Stimmen abzugeben. Denn um beispielsweise eine namentliche Abstimmung im schleswig-holsteinischen Landtag durchzusetzen, brauchen die Antragsteller 18 Stimmen. FDP, Grüne und SSW haben aber gemeinsam nur 10 Stimmen. Zu Beginn ihrer Großen Koalition hatten CDU und SPD versprochen, bei einem solchen Antrag der Opposition die fehlenden Stimmen aus ihren Reihen zu beschaffen – bisher haben sie sich daran gehalten.