Das Prinzip Merkel

Von Jan Fleischhauer |
Zu den großen, noch weitgehend unverstandenen Projekten der Kanzlerin gehört die Fundamentalerneuerung der CDU. Seit Angela Merkel den Parteivorsitz übernahm, ist sie beharrlich dabei, die Union nach ihrem Bilde zu formen – vom Programm, das nun die Patchworkfamilie genauso ernst nimmt wie die Sorge ums Klima, bis zum Personal.
Jünger soll die neue CDU sein, frischer, weiblicher, irgendwie sympathischer, kurz gesagt, ein bisschen so wie die Grünen, die bei den Großstadtmilieus, die Merkel so gerne an sich binden möchte, in unverändert hohem Ansehen stehen. Man muss sich nur den neuen Regierungssprecher anschauen, einen Mann, der von sich selber sagt, schon alle im Bundestag vertretenen Parteien außer der extremen Linken gewählt zu haben, und der "Earth, Wind and Fire” zu seinen Lieblingsgruppen zählt – und man weiß, wohin die Kanzlerin will.

Keine Frage, die Partei von Adenauer und Kohl unterzieht sich einem spannenden Großversuch. Wie bei allen Experimenten sind auch bei diesem Reaktionen zu beobachten, die nicht nur den Laien überraschen. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass ausgerechnet die Generation Koch Gefallen am Rücktritt aus Überdruss finden würde?

Bislang zeichnete es eher Politiker der Linken aus, dass sie einfach den Bettel hinwarfen, wenn es mit der Selbstverwirklichung im Beruf nicht so recht klappen wollte – die Konservativen waren diese langweiligen Pflichtmenschen, die sich einfach durchbissen. Nun hat sich mit dem Hamburger Bürgermeister Ole von Beust schon der sechste CDU-Ministerpräsident der politischen "Ich-bin-dann-mal-weg”-Bewegung angeschlossen; das gab es nicht mal in den wildesten Zeiten von Rot-Grün.

Das bürgerliche Bündnis, das seit einem halben Jahr die Republik führt, erinnert in so vielem an das linke Fortschrittsprojekt, dass man an Zufälle nicht mehr glauben mag. Tatsächlich war die schwarz-gelbe Regierung von Beginn an bemüht, möglichst schnell vergessen zu machen, dass jetzt eine konservative Allianz das Land führt. Schon der Koalitionsvertrag war in der Sprache des weichen Wassers gehalten, das den harten Stein bricht. Die neue Regierung erklärte darin, dass ihr das Wohl der "wandernden Fische" in "frei fließenden Flüssen” ebenso am Herzen liege wie die gerechte Lastenverteilung in der modernen Familie, weshalb zu den ersten Reformvorhaben der Ausbau der "Partnermonate" und des "Teilelterngeldes" zählten.

Auch im persönlichen Umgang hat die neue Mannschaft nahtlos an die ungestüme Anfangsphase der Regierung Schröder-Fischer angeschlossen, ja, sie scheint bemüht, diese, was den Selbsterfahrungscharakter angeht, noch übertreffen zu wollen. Das Amt des Vizekanzlers bekleidet mit Guido Westerwelle nun ein Mann, der die Regierung in schöner linker Tradition als eine Therapiegruppe versteht, die ihm dabei helfen soll, endlich zu sich selber zu finden. Auf die Idee, unbedingt Außenminister werden zu wollen, ist der FDP-Vorsitzende ja nicht verfallen, weil er so viel von der hohen Diplomatie versteht, sondern weil er auch einmal vom breiten Publikum geliebt werden wollte.

Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer macht Politik, wie er schon in seinem Privatleben agiert hat: ohne Rücksicht auf Verluste. Das ist für die Zuschauer nicht immer schön, dafür kann der CSU-Vorsitzende für sich beanspruchen, alle bürgerlichen Moralvorstellungen über Bord geworfen zu haben, die den Einzelnen dazu zwingen, sich im Kontakt mit anderen zu verstellen. Überhaupt scheint der Umgangston der Koalition in einem bemerkenswerten Umfang von dem Gedanken bestimmt, dass Menschen zur rückhaltlosen Aufrichtigkeit verpflichtet seien.

Man darf gespannt sein, wie lange der Wähler, der die Konservativen ins Amt gehoben hat, dies noch ertragen will. In den bürgerlichen Schichten, auf die sich gerade die Union stützt, hält sich hartnäckig die Sehnsucht nach traditionellen Werten wie Pflichtbewusstsein und Pflichterfüllung. So muss sich Angela Merkel für die Zukunft möglicherweise nicht nur neue Spitzenleute, sondern auch eine neue Machtbasis suchen.


Jan Fleischhauer, 47, studierte Literaturgeschichte und Philosophie in Hamburg. Er ist Redakteur beim "Spiegel" und Autor des Bestsellers "Unter Linken - Von einem, der aus Versehen konservativ wurde". Nach Stationen als Bürochef des "Spiegels" in Leipzig, Berlin und New York lebt er jetzt wieder in Berlin, wo er als Autor für das Nachrichtenmagazin arbeitet.
Der Journalist und Publizist Jan Fleischhauer
Der Journalist und Publizist Jan Fleischhauer© Dagmar Morath/Rowohlt
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