Das prinzipiell Böse der Plastiktüte

Von Burkhard Müller-Ullrich · 30.08.2011
Egal, was man in eine Plastiktüte hineintut, sie trägt eine schwere ideologische Fracht. Denn die Plastiktüte ist nicht bloß ein Bestandteil, sondern sogar ein Symbol dessen, was uns ein halbes Jahrhundert kritischer Sozialphilosophie zu verabscheuen gelehrt hat, nämlich die Konsumgesellschaft.
All diese kapitalistischen Mätzchen wie Reichhaltigkeit des Warenangebots, Optimierung der Produktion durch Nutzung des technischen Fortschritts sowie ständige Steigerung des lebensweltlichen Komforts – all das ist mit dem Wesen der Plastiktüte aufs Engste verbunden.

Sie stehen an der Kasse, Sie legen Ihre Waren auf das Band und haben wieder mehr gekauft, als Sie eigentlich vorhatten. Das ist die Standardsituation im Supermarkt. Das ist der Grund, warum es Supermärkte gibt und warum sie erfolgreich sind: Sie stimulieren die Kauflust. Und weil die Kauflust stimuliert wird, stellt sich an der Kasse ein ebenso klassisches Problem: Wie soll man das alles abtransportieren?

Die Lösung hängt oder liegt in Griffweite und kostet zwischen 10 und 20 Cent: die Plastiktüte. Die Herstellung einer Plastiktüte inklusive Werbeaufdruck kostet übrigens nicht mehr als zwei Cent, das heißt, wir haben es mit einem Artikel von enormer Rentabilität zu tun: Neunhundert Prozent Aufschlag, das ist im Einzelhandel selten.

Die Plastiktüte besteht aus einem Stoff, den englische Chemiker im Jahr 1933 entdeckten: Polyäthylen. Die Grundsubstanz ist ein organisches Gas, das in großen Mengen bei der Raffination von Erdöl anfällt. Auf absehbare Zeit wird daran kein Mangel herrschen. Dennoch regt sich kaum jemand über die sonderbare Aufwertung von Plastiktüten an der Ladenkasse auf. Das liegt an unserem schlechten Gewissen.

Der sogenannte Umweltschutz liefert dazu die beliebtesten Argumente. Es heißt, Plastiktüten würden die Landschaft verschandeln. Aber das ist ja kein durch die Existenz von Plastiktüten, sondern durch das Fehlverhalten einiger Menschen verursachtes Problem. Es heißt, in Plastiktüten seien Giftstoffe enthalten, die zu schweren Schäden führen können. Solche Behauptungen beruhen auf aberwitzigen Extrapolationen: Bevor das Gift der Plastiktüten wirkt, sind wir alle längst an anderen, viel häufiger vorkommenden Giftstoffen gestorben.

Nein, der politische Kampf gegen die Plastiktüte, dem sich jetzt auch der zuständige EU-Kommissar verschrieben hat, basiert auf anderen Motiven. Schließlich gibt es kein Entsorgungsproblem: Dank der deutschen Mülltrennung werden die 10-Gramm-Dinger separat von 380-PS-Lastwagen abgeholt und einer sogenannten Wiederaufbereitung zugeführt. Da die Nachfrage nach wieder aufbereitetem Plastikmüll gering ist, endet es meist mit der sogenannten thermischen Verwertung, von Laien auch Verbrennung genannt. Die ist umweltfreundlich und funktioniert sehr gut, denn Plastiktüten sind energiereiche Erdölprodukte.

Das prinzipiell Böse der Tragetasche wird aber nicht mal durch Feuer und Flamme beseitigt. Es sitzt in den Köpfen der Jutegeneration. Es manifestiert sich in der Vorstellung, unsere ganze Lebensweise sei eine einzige Bedrohung für die Natur und gehöre deshalb angeprangert und zurechtgestutzt. Deshalb ist die Plastiktüte Teil eines umfassenden Erziehungssystems geworden. Sie wird bedruckt mit allerlei Appellen und Ermahnungen. "Schützt unsere Umwelt!" steht darauf oder "Haben Sie heute schon etwas für die Umwelt getan?" Und man verlangt für sie einen Preis, der als Bestrafung wirken soll.

Tatsächlich schämt man sich bei uns des Gebrauchs der Plastiktüte; ihr sozialer Status ist derart niedrig, dass man sich auch einer möglichen Wiederverwendung schämt. In anderen Ländern wird wenigstens der Müll in ausgediente Supermarkt-Tüten gepackt, bei uns kauft man sogar Müllbeutel aus Plastik. Hierzulande träumt man von einem unschuldigen Rotkäppchendasein und möchte mit einem Körbchen durch die Gegend ziehen.

Jetzt springt die EU auf den Romantikzug und zeigt allen, wozu sie da ist. Nach dem Glühbirnenverbot ist das Plastiktütenverbot in Vorbereitung. Warum noch kein Papiertaschentuchverbot? Die Inventarliste unseres modernen Alltags ist noch sehr viel länger; da bleibt in Brüssel einiges zu tun.

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Burkhard Müller-Ullrich, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie. Schreibt für alle deutschsprachigen Rundfunkanstalten und viele Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war Redakteur beim Abendstudio des Schweizer Radios, beim Schweizer Buchmagazin "Bücherpick" und Leiter der Redaktion "Kultur heute" beim Deutschlandfunk. Mitglied der Autorengruppe "Achse des Guten", deren Website www.achgut.de laufend aktuelle Texte publiziert.
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