Das Problematische an der Säkularisation
"Säkularisiert" nannte man Klöster und Kirchen, die (zum Beispiel im Zuge der Reformation oder der napoleonischen Kriege) zu Bauernhöfen oder öffentlichen Räumen umgewidmet worden waren. Die, statt der Ewigkeit zu dienen, nunmehr der Jetzt-Zeit, dem "Saeculum", nützlich sein sollten.
Nicht nur materieller Besitz der Kirche kann so "ver-weltlichen" - auch das geistige Erbe, die sozialen, kulturellen, die ethischen Werte und "Güter" des Christentums wurden weitgehend "säkularisiert". "Aufklärung" nennen wir das oder eine "Epoche der Säkularisation". Die lassen wir landläufig bei der Französischen Revolution beginnen und – halten sie für keineswegs beendet.
Der Aufbruch aus frommer Unmündigkeit, der Umbruch vom hierarchischen Gesellschaftsmodell religiös legitimierter Herrscher hin zum horizontalen Modell einer demokratischen Weltgesellschaft, die "Entzauberung" einer magisch verstandenen Wirklichkeit durch die Naturwissenschaften, die Verpflichtung aller Menschen einzig auf die Prinzipien der Humanität – dieses "Projekt Säkularisierung" sei noch immer vonnöten und in Arbeit, meinen viele Intellektuelle im Westen.
Charles Taylor aus Montreal ist emeritierter Professor für Philosophie und Träger des "Kyoto-Preises", das ist in etwa der Nobelpreis für Philosophie. Er hält diese Sichtweise aus drei Gründen für falsch. Historisch falsch, weil es durchweg christlich geprägte Wissenschaftler und Künstler waren (von Leonardo da Vinci über Martin Luther bis zu Blaise Pascal), die eine Reform des Welt- und Menschenbildes vorantrieben - ohne diese allerdings "Säkularisation" zu nennen -, und weil man "schon im Mittelalter christlichen Werten huldigte, ohne sie tatsächlich einzuhalten", wie er schreibt. Inhaltlich falsch, weil es eine "Reduktionsgeschichte" wäre, die wir da erzählen: Welterklärung minus Gott, Wertekanon minus Sinnstiftung, Humanitätsforderung minus übergeordnete Autorität.
Und empirisch unzureichend findet Charles Taylor den gängigen Säkularisationsbegriff, weil die "Verweltlichung" unseres Denkens und unserer Lebensweise ja nicht etwa lauter Leerstellen hinterlassen hat und sich der "hohle Mensch" mit der Banalität eines "Lebens ohne Tiefe und Fülle" abgefunden hätte. Nein – und das darzulegen nimmt sich dieses Buch fast 1300 Seiten lang Zeit -, die "neuen", die "säkularen" Götter werden einfach neben die alten gestellt und hinzuaddiert. Es sei in den letzten 500 Jahren eine "Super-Nova" der Religiosität explodiert, und statt der einen (christlich institutionalisierten) Sonne rotiere nun religiöser Sternenstaub durch den Menschheitskosmos. Zentral zusammengehalten wird diese "Nova" von Konsumismus, vom Individualismus und von einer "Ethik der Authentizität". So als würden der Staat, das Recht, die Ordnung und die Macht schon irgendwie klappen, wenn nur jeder wohlversorgt ist, einzig das tut, wovon er überzeugt ist, und bei alldem ganz er selber bleibt.
Das Angenehme an Charles Taylor: Er sagt sowas ohne den knarzigen Klageton misanthropischer Kulturpessimisten, wie man sie am konservativen Rand von Religionen und Weltanschauungen findet. Er zeigt, eher im Plauder- als im Predigtton, dass die geistigen und ethischen Grundpfeiler der humanen, demokratischen Moderne aus den alten Steinen des erodierenden Christentums gemauert sind. Anders ausgedrückt : Heiliges Weihwasser, selbst wenn es verdunstet, schlägt sich irgendwann und irgendwo als Tropfen nieder oder kristallisiert sich als Eisblume, ergo: Es war nie wirklich "weg" .
Angenehm ist ferner: Der Mann lebt in Montreal. Wo wir uns hierzulande von Kant über Rousseau, Nietzsche und Hegel zu Marcuse und Adorno hangeln würden, zitiert Taylor seitenlang Alexis de Tocqueville, Emile Durkheim, Max Weber, Paul Tillich und eine Reihe französischer und amerikanischer Philosophen und Literaten, die – mir zumindest – vorher nicht geläufig waren.
Trotz mancher Redundanzen – bis Seite 703 handelt es sich um Vorlesungen, die Taylor in den letzten zehn Jahren gehalten hat – und des inneren Angangs, einen derartigen Wälzer in die Hand zu nehmen, ist dieses Buch eine sehr empfehlenswerte Lektüre.
Besprochen von Andreas Malessa
Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter
Aus dem Englischen von Joachim Schulte
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2009
1297 Seiten, 68 Euro
Der Aufbruch aus frommer Unmündigkeit, der Umbruch vom hierarchischen Gesellschaftsmodell religiös legitimierter Herrscher hin zum horizontalen Modell einer demokratischen Weltgesellschaft, die "Entzauberung" einer magisch verstandenen Wirklichkeit durch die Naturwissenschaften, die Verpflichtung aller Menschen einzig auf die Prinzipien der Humanität – dieses "Projekt Säkularisierung" sei noch immer vonnöten und in Arbeit, meinen viele Intellektuelle im Westen.
Charles Taylor aus Montreal ist emeritierter Professor für Philosophie und Träger des "Kyoto-Preises", das ist in etwa der Nobelpreis für Philosophie. Er hält diese Sichtweise aus drei Gründen für falsch. Historisch falsch, weil es durchweg christlich geprägte Wissenschaftler und Künstler waren (von Leonardo da Vinci über Martin Luther bis zu Blaise Pascal), die eine Reform des Welt- und Menschenbildes vorantrieben - ohne diese allerdings "Säkularisation" zu nennen -, und weil man "schon im Mittelalter christlichen Werten huldigte, ohne sie tatsächlich einzuhalten", wie er schreibt. Inhaltlich falsch, weil es eine "Reduktionsgeschichte" wäre, die wir da erzählen: Welterklärung minus Gott, Wertekanon minus Sinnstiftung, Humanitätsforderung minus übergeordnete Autorität.
Und empirisch unzureichend findet Charles Taylor den gängigen Säkularisationsbegriff, weil die "Verweltlichung" unseres Denkens und unserer Lebensweise ja nicht etwa lauter Leerstellen hinterlassen hat und sich der "hohle Mensch" mit der Banalität eines "Lebens ohne Tiefe und Fülle" abgefunden hätte. Nein – und das darzulegen nimmt sich dieses Buch fast 1300 Seiten lang Zeit -, die "neuen", die "säkularen" Götter werden einfach neben die alten gestellt und hinzuaddiert. Es sei in den letzten 500 Jahren eine "Super-Nova" der Religiosität explodiert, und statt der einen (christlich institutionalisierten) Sonne rotiere nun religiöser Sternenstaub durch den Menschheitskosmos. Zentral zusammengehalten wird diese "Nova" von Konsumismus, vom Individualismus und von einer "Ethik der Authentizität". So als würden der Staat, das Recht, die Ordnung und die Macht schon irgendwie klappen, wenn nur jeder wohlversorgt ist, einzig das tut, wovon er überzeugt ist, und bei alldem ganz er selber bleibt.
Das Angenehme an Charles Taylor: Er sagt sowas ohne den knarzigen Klageton misanthropischer Kulturpessimisten, wie man sie am konservativen Rand von Religionen und Weltanschauungen findet. Er zeigt, eher im Plauder- als im Predigtton, dass die geistigen und ethischen Grundpfeiler der humanen, demokratischen Moderne aus den alten Steinen des erodierenden Christentums gemauert sind. Anders ausgedrückt : Heiliges Weihwasser, selbst wenn es verdunstet, schlägt sich irgendwann und irgendwo als Tropfen nieder oder kristallisiert sich als Eisblume, ergo: Es war nie wirklich "weg" .
Angenehm ist ferner: Der Mann lebt in Montreal. Wo wir uns hierzulande von Kant über Rousseau, Nietzsche und Hegel zu Marcuse und Adorno hangeln würden, zitiert Taylor seitenlang Alexis de Tocqueville, Emile Durkheim, Max Weber, Paul Tillich und eine Reihe französischer und amerikanischer Philosophen und Literaten, die – mir zumindest – vorher nicht geläufig waren.
Trotz mancher Redundanzen – bis Seite 703 handelt es sich um Vorlesungen, die Taylor in den letzten zehn Jahren gehalten hat – und des inneren Angangs, einen derartigen Wälzer in die Hand zu nehmen, ist dieses Buch eine sehr empfehlenswerte Lektüre.
Besprochen von Andreas Malessa
Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter
Aus dem Englischen von Joachim Schulte
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2009
1297 Seiten, 68 Euro