Wie weit darf eine Gegend herunterkommen?
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Wer in einer strukturschwachen Region lebt, darf auf „gleichwertige Lebensverhältnisse“ pochen. Das steht immerhin im Grundgesetz. Doch der Begriff ist dehnbar – und geht an der Wirklichkeit vieler Landbewohner vorbei.
Das Haufen Paradox – das ist so eine Denksportaufgabe der alten Griechen. Sorites-Paradoxie – wenn Sie mal ein Gräzist darauf anspricht. Wenn da ein Haufen Sand liegt und jemand nimmt immer mal ein Körnchen weg. Dann wird der Haufen natürlich mit der Zeit immer kleiner und immer kleiner. Bis er weg ist. Aber ab wann hört der Haufen auf, ein Haufen zu sein.
Rainer Klingholz: "Das kennen wir aus anderen Regionen, wo es auch diese Vorstellung einer Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen nicht gibt, in allen angelsächsischen Staaten, in Amerika, in Großbritannien. Da gibt es wenn keiner oder nur wenige da sind, keine Versorgung mehr. Dann kucken die Leute, wie sie klar kommen. Da können dann irgendwelche Aussteiger, oder Raumpioniere gut überleben. Die finden es auch klasse, dass das nichts ist, weil sie da dann große Freiheiten haben. Aber mit einer klassischen Versorgung, dass der Bus fährt, dass man einkaufen kann, dass man die Kinder zur Schule schicken kann, ist das dann gar nicht mehr möglich."
Attraktive Städte – das Land kann nicht mithalten
Rainer Klingholz, Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung, pflegt einen sachlich-distanzierten Blick auf die Debatte um die ungleichen Lebensbedingungen in verschiedenen Gegenden Deutschlands. Bei dem Thema wird es sonst schnell emotional. Schließlich geht es um Solidarität, die Möglichkeit der Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, viel Geld und persönliche Freiheit. Für den Bevölkerungsforscher ist das eine fruchtlose Diskussion. In Wissensgesellschaften brauche es eben eine bestimmte kritische Masse an Köpfen, damit es läuft.
"Diese kritische Masse habe ich zwangsläufig in peripheren ländlichen Gebieten nicht – in der Südwestpfalz, im Fichtelgebirge, im Kyffhäuserkreis nicht. Und deswegen können diese Gebiete in ihrer Attraktivität für Beschäftigung mit den urbanen Zentren nicht mithalten. Hinzu kommt, dass wir in den letzten Jahrzehnten sehr aufwendige und auch erfolgreiche Stadtumbauprogramme hatten. Die Städte sind wieder attraktiv geworden. Und weil wir bestenfalls eine konstante Zahl der Bevölkerung haben, bleibt dann für das Land wenig übrig."
Die Bevölkerung nimmt ab, bestimmte Regionen werden unattraktiv und öde, konstatiert er kühl. Der Lauf der Zeit. Klingholz sieht positive Aspekte.
"Das ist das sogenannte Wolfserwartungsland. Wir haben den Begriff schon Anfang der 2000er-Jahre in die Diskussion eingebracht, denn wir haben genau gesehen, dass Wolf und Luchs in die Regionen zurückgekommen sind, aus Polen, aus Frankreich eingewandert, sich dort ausgebreitet haben, wo der Mensch sich zurückgezogen hat. Das ist eine Chance für die Natur!"
Abgelegen: der Norden Thüringens
Die Straße zieht sich durch eine sanft geschwungene Hügellandschaft, es gibt noch relativ viele Hecken zwischen den Feldern. Wenig Verkehr, wenn, dann sind dabei vielleicht ein Tick mehr Allrad-Pritschenwagen, Pick-ups, als anderswo. Hier draußen. Im Kyffhäuserkreis im Norden Thüringens. Einer von einem Dutzend Landkreisen in Deutschland in dem die Lebensverhältnisse sehr stark unterdurchschnittlich sind. Das hat das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung festgestellt. Die Gegend liegt geografisch mitten in Deutschland, aber sie gilt als abgelegen. Peripherie.
Das Mobiltelefon sucht immer wieder ein Netz. Ab und zu Funkinseln mit einem Balken. Wölfe gibt’s hier noch nicht. 60 Kilometer weiter im Süden leben sie aber schon. Großes Thema heute im Lokalteil der Thüringer Allgemeinen. Da stand auch, dass der Breitbandausbau nicht richtig vorangeht und in einem der beiden Krankenhäuser des Kreises, in Bad Frankenhausen, die Chirurgie wahrscheinlich dicht macht. Wer hier noch lebt – das sind noch rund 75.000 Menschen – verdient weniger, hat längere Wege und weniger Angebot an fast allem – außer an frischer Luft. Reicht das schon für gleichwertige Lebensverhältnisse?
Ein kurzer Stopp in Göllingen. Ein 1000-Einwohner-Ort vor dem Wipperdurchbruch. Die Buchhändlerin, die mir die topographische Karte der Region verkauft hat, sollte mir ein Gebiet zeigen wo der Hund begraben liegt. Das hier: Häuser stehen leer, verfallen. Aber so sieht’s nicht nur in Göllingen aus. Bis auf einen alten Herrn, der in seinem Vorgarten werkelt, ist niemand zu sehen. Der Mann ist 78, heißt Harald Lessner und steckt Krokus-Zwiebeln.
"Ich bin hier geboren, ich bin hier in die Schule gegangen, ich habe hier geheiratet und wohne hier mit meiner Frau. Ein altes Haus, das können wir nicht mehr renovieren."
Er deutet mit einem erdverkrusteten Finger auf das große Gebäude hinter seinem Häuschen. Das war die Schule, in die er gegangen ist. Dicht gemacht, wie so vieles.
"Wir hatten früher mal die Post, eine Poststelle, die Sparkasse. Wir hatten einen Zahnarzt und zwei Allgemeinärzte. Alles weg."
Eigentlich geht es nicht mehr hier. Wenn er seine Frau wegen ihres Zuckers zum Arzt bringt, dann ist gleich der ganze Tag futsch. Der Bus fährt die Schüler und sonst noch einmal am Tag. Der Sohn wohnt in Halle. Wegziehen will Lessner nicht, wie soll das auch gehen. Da fehlt ihm Startkapital. Schmale Rente. Für sein Haus kriegt er eher nichts. Das ist so in strukturschwachen Gebieten. Sein Blick bleibt an den Gartenzwergen vor der Hauswand hängen. Die Kappen grün überwuchert.
"Im Fernsehen bringen sie das, dass sie sich aktiver um die Landgemeinden kümmern wollen. Aber wann soll denn das mal losgehen? Wir kriegen doch keinen Laden mehr, wo die Leute einkaufen können, das macht doch keiner mehr."
Er bleibt hier, mit seinem Ärger. In einem Ort, in dem die Menschen zunehmend allein zurechtkommen müssen.
"Wo gibt's denn sowas in einem Staat wie Deutschland?!"
Politisches Ringen um "gleichwertige Lebensverhältnisse"
Gebiete die nach den Bewertungskriterien der Raumplanung sehr starke Randlagen aufweisen, machen etwa 17 Prozent Deutschlands aus. In diesen Regionen leben etwa 280.000 Menschen – etwas mehr als in Erfurt. Dennoch eine Minderheit. Das Gefühl nicht mehr richtig dabei zu sein, findet sich aber auch in weniger peripheren Regionen. Der Unmut, der sich bei vielen Bürgern damit verbindet, hat Politiker aufgeschreckt und motiviert, entschieden für gleichwertige Lebensverhältnisse einzutreten
Der Begriff hat Gewicht. In den Landesverfassungen von Brandenburg, Bremen, Bayern und Baden-Württemberg ist er inzwischen als Staatsziel festgelegt. Er steht im aktuellen Koalitionsvertrag von Union und SPD, im Raumordnungsgesetz. Eine hochrangig besetzte Kommission der Bundesregierung sucht nach Wegen, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen.
Horst Dreier: "Viele denken ja, dass das ein Begriff ist, der wie Sozialstaat, oder Rechtsstaat, oder Demokratie einen ganz zentralen Platz innehat. In Wirklichkeit muss man länger suchen, bevor man ihn findet. Er steht nämlich bei den Kompetenznormen für die Gesetzgebung und zwar an der Stelle, wo es um die Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und der Länder geht."
Professor Horst Dreier lehrt an der Universität Würzburg.
"Ich habe dort den Lehrstuhl für Rechtsphilosophie, Staats und Verwaltungsrecht inne."
Ursprünglich hieß es: "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse"
Der Artikel 72 Absatz 2 Grundgesetz ist ein karger Ort für den in der politischen Diskussion so druckvollen Begriff. Es geht an dieser Stelle darum, unter welchen Bedingungen es erforderlich wird, dass der Bund zur Herstellung der gleichwertigen Lebensverhältnisse bestimmte, sonst den Ländern zugeordnete Aufgaben, regelt. Dazu gehören die öffentliche Fürsorge, die wirtschaftliche Sicherung von Krankenhäusern, der Bau von Landstraßen und die Förderung der wissenschaftlichen Forschung.
Das sind mithin vielversprechende Bereiche, wenn es darum geht, die Lebensverhältnisse zu beeinflussen. Es gibt dort innerhalb Deutschlands durchaus große Unterschiede. Doch die Schwelle zum Eingreifen aufgrund gleichwertiger Lebensverhältnisse ist ziemlich hoch, betont der Jurist.
"Beispiel ist wie so häufig eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 2005."
Damals wollte die rot-grüne Bundesregierung die Einführung von Studiengebühren verhindern, weil die aus ihrer Sicht sozial Schwächere in manchen Regionen benachteiligen würden. Aber das Hochschulwesen ist Sache der Länder.
"Und da hat das Bundesverfassungsgericht gesagt – ich darf das mal zitieren: Zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist eine bundesgesetzliche Regelung erst dann erforderlich, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinanderentwickelt haben, oder sich eine solche Entwicklung konkret abzeichnet. Soll heißen: Sie brauchen schon gewaltige Disparitäten und fast eine Erschütterung des Sozialgefüges, wenn sie mit dem Kriterium gleichwertiger Lebensverhältnisse eine Gesetzgebungsbefugnis des Bundes begründen wollen."
Damit hat das Bundesverfassungsgericht das Prinzip des Föderalismus in der Bundesrepublik unterstrichen, sagt Dreier. Dessen Kennzeichen sei ja gerade die Unterschiedlichkeit. Dieser Gedanke habe schon hinter der Neufassung des Artikels 72 gestanden. Denn:
"Bis 1994, also bis zur Föderalismusreform I, lautete die Passage: der Bund hat in diesen Bereichen das Gesetzgebungsrecht, wenn es um die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus erfordert. Also ursprünglich war die Formulierung Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse!"
Mit gleichwertig lässt sich juristisch wenig anfangen. Das würde sich auch kaum ändern, wenn die gleichwertigen Lebensverhältnisse – wie gelegentlich gefordert – als Staatsziel im Grundgesetz verankert würden.
"Die Gleichwertigkeit ist ja wie der Begriff selber schon andeutet, von einer Bewertung abhängig. Die können Sie an verschiedenen Punkten festmachen. Da kommen sie ohne subjektive Wertungen, was sie jetzt für gleichwertig halten und was für ungleichwertig, nicht aus. Klar ist nur: Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse lässt viel größere Unterschiede zu als der alte Terminus Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse."
Die Vorteile des Landlebens
Schlotheim, dreieinhalbtausend Einwohner, liegt gleich hinter der Grenze des Kyffhäuserkreises im-Unstrut-Hainig-Kreis.
Dort geht es den Menschen schon etwas besser. Die Lebensverhältnisse sind hier bloß stark unterdurchschnittlich. Aber vielleicht sind sie ja trotzdem gleichwertig.
Katharina Freudenberg: "Sind sie gut in unseren strukturschwachen Raum gekommen."
Frank Freudenberg: "Selbst hier scheint die Sonne."
Ich habe mich mit den Freudenbergs verabredet. Frank und Katharina. Das Pfarrerehepaar wohnt in einem schön hergerichteten Fachwerkhaus in der Altstadt. Sie ist 33, er 44, beide mit einer agilen jugendlichen Ausstrahlung. Sie sind vor sieben Jahren aufs Land gezogen. Trotz aller Engpässe, die es hier gibt. Sie haben drei Kinder, das jüngste ist bei dem Gespräch mit Kaffee und Pflaumenkuchen dabei. Pflaumen vom eigenen Baum.
Katharina Freudenberg: "Mit so kleinen Kindern ist man auf viele Strukturen angewiesen. In so einer Stadt wie Jena, macht man sich Gedanken über die pädagogische Ausrichtung eines Kindergartens und hier vor Ort ist man ja froh, wenn man vor Ort einen Platz in der Einrichtung bekommt."
Frank Freudenberg: "Es ist ja nicht so, dass es in Schlotheim nichts gibt. Es gibt auch in Schlotheim Konzerte außerhalb der Kirchgemeinde, oder andere kulturelle Veranstaltungen. Aber nicht mit dieser Fülle, wo man an einem Wochenende sagen kann, ich kann jetzt zwischen fünf Konzerten aussuchen. Und wenn jetzt jemand nicht mit den Don Kosaken zufriedengibt, dann hat er natürlich ein Problem, denn das wird dann schon das einzige Konzert sein."
Außerdem, Hochkultur und weite Welt gibt’s ja online. Katharina und Frank Freudenberg zählen die materiellen Vorteile ihres Lebens im strukturschwachen Raum auf: Die Lebenshaltungskosten sind geringer, die Immobilien sowieso. Sie haben Platz. Besonders wichtig sind für sie Faktoren, die sich nicht quantifizieren lassen. Sie wiegen vieles auf.
Frank Freudenberg: "Also es ist schon ein anderes Lebensgefühl hier auf dem Land. Wir sind, weil wir viele Verbindungen haben, öfters mal in Jena oder Erfurt, und dann ist man schon überwältigt, so viele Menschen. Gleichzeitig denke ich oft schon nach einem Tag, jetzt ist es auch schon wieder gut. Das ist mir zu schnell, das ist mir zu laut. Das wirkt sich schon auf das Lebensgefühl aus, es wird ein kleines bisschen langsamer. Wir haben einen Garten hinter dem Haus, naja. Das ist ganz schön, da die Hände in die Erde zu stecken und zu sehen wie etwas wächst. Und selbst wenn manches im Leben etwas weniger und einfacher ist, wir wollen es nicht tauschen."
Identifikation mit dem Herkunftsort stark ausgeprägt
Die beiden haben es ganz gut. Sie machen die Arbeit, zu der sie sich berufen fühlen. Sie sind fit und mobil. Und sie haben sich frei für diesen Ort entschieden. Passt auch: Familien mit jungen Kindern, das sagen Demografen, sind die einzigen, die es überhaupt noch aufs Land zieht. Aber es gibt ja auch die, die schon vorher hier waren. Leute bei denen schon ziemlich viel wegbrechen muss, bis sie es nicht mehr aushalten, bis sie es nicht mehr gleichwertig finden.
Katharina Freudenberg: "Gerade der Begriff Identifikation spielt für viele Menschen, die ich hier kennengelernt habe eine große Rolle. Also viel stärker, als ich das von mir selbst kenne. Die sagen, sobald ich den Kirchturm nicht mehr sehe, fühle ich mich nicht mehr wohl. Und sie wollen gerne mit ihren Kindern hier bleiben. Und das habe ich so häufig erlebt, dass mich das schon verwundert hat und diese Wurzeln tatsächlich sehr stark sind!"
Katharina und Frank Freudenberg haben bei ihrer Gemeindearbeit viel Freiraum. Ihre Mitmenschen schätzen das – und mancher packt beherzt mit an. Zusammen geht es dann doch immer irgendwie. Mit viel Findigkeit und persönlichem Engagement.
Frank Freudenberg: "Es kann natürlich sein, dass an dem Tischtuch an allen möglichen Seiten etwas abgeschnitten wird und man zieht es aber so lange hin und her, dass es irgendwie noch drauf passt auf den Tisch und man dann irgendwann feststellt, es ist eigentlich schon längst viel zu kurz."
Daseinsvorsorge, das ist all das, was eine Kommune an wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Dienstleistungen für die Bürger bereitstellt. In Zeiten des Wachstums, als die Idee von der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in Westdeutschland aufkam, entstanden Kataloge, in denen das Angebot für die Bürger feinsäuberlich festgelegt war. Selbst als die Finanzen in vielen Kommunen nicht mehr dafür reichten, bestanden die Vorgaben weiter.
Bärbel Winkler-Kühlken: "Ich bin jetzt auf einen alten Regionalplan von Thüringen gestoßen und hier sind solche bedarfsgerechten Zahlen drin. Zu den Wasserflächen jetzt vielleicht eine ganz interessante Bestandsaufnahme. Hier heißt es, 'durch den Wegfall des Freibades und dem Nichtvorhandensein eines Süßwasser-betriebenen Hallenbades in Bad Langensalza verfügt die Stadt über ein unzureichendes Angebot an Wasserflächen zur Deckung des Sport- und Freizeitbedarfes'. Und das muss dann nach den Vorstellungen von 1997 gedeckt werden."
Abschied von der "Rundumversorgung"
Die Raumplanerin Bärbel Winkler-Kühlken vom Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik fährt mit ihrem Finger die Zeilen auf dem angegilbten Papier nach. Inzwischen wurden öffentliche Leistungen weiter zentralisiert, solange der Bürger irgendwie hinkommt, sind sie ja erreichbar.
"Oder nach heutiger Lesart würden wir sagen, kucken wir mal was in unserer Nachbargemeinde ist, können wir uns da nicht anschließen, dass wir ein vorhandenes Bad, dass auch von der Schließung bedroht ist durch das Zusammenführern der Trägerschaft dann doch erhalten können."
Früher gab einen breiten Konsens darüber, was ein Bürger brauchte, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können – egal ob im Zentrum, oder in der Peripherie. Wasser, Strom, Sportanlagen, Schulen, Busse. Auch wie nahe. Orientiert haben sich die Planer am bestmöglichen Angebot – dem der Stadt. Dieses Konzept prägt unser Bild von gleichwertigen Lebensverhältnissen bis heute.
"Für einen Kindergarten kann man sagen, pro Grundzentrum brauchen wir ein, zwei drei – je nachdem wie viele Einwohner da sind – Kindergärten. Dann gibt es weitere Ausstattungen. Dazu kommt das Personal. Alles ist geregelt, alles unterschiedlich – Standards in dem Bereich Daseinsvorsorge: zig Tausende."
Bärbel Winkler-Kühlken sagt, dass die Standards nicht mehr gut zu den Bedingungen in stark strukturschwachen Gebieten passen. Sie führen zu Angeboten, die zu kostspielig sind, für die paar Menschen. Vielleicht wäre es sogar gut, die Sache mit den Standards prinzipiell zu überdenken, sagt sie – dort wo sie sowieso kaum noch erfüllt werden können. Weniger Regeln, aber mehr Raum für neue Konzepte und Experimente bei der öffentlichen Daseinsvorsorge.
"Das ist das Problem, das wir haben. Wir kommen aus einer Vollversorgung, ich sag jetzt mal Rundumversorgung, und müssen uns daran gewöhnen, dass wir vielleicht hier und da ein bisschen weniger haben, oder etwas schwieriger erreichen, wenn ich jetzt mal an den Arztbesuch denke. Aber es ist alles regelbar. Wir müssen uns nur tatsächlich überlegen wie wir das managen und nicht mehr ganz so an den Standards kleben."
Geld für die Versorgung muss eingeworben werden
Zurück im Kyffhäuserkreis. In Sondershausen spreche ich mit einem, der es managen muss, dass die Bürger den Service bekommen, den sie brauchen, obwohl die Kassenlage angespannt ist. Heinz-Ulrich Thiele.
"Ich arbeite hier im Landratsamt des Kyffhäuserkreises, bin Kreisdirektor und in einer Person: Verwaltungsleiter, Büroleiter und Pressereferent."
Der Kreisdirektor versucht die traditionelle Daseinsvorsorge nach Möglichkeit aufrechtzuerhalten. Dennoch: Jedes Jahr verliert sein Landkreis rund 1000 Bürger. Seit Jahrzehnten geht das so. Das ist dann wohl auch 1000 pro Jahr mal die individuelle Entscheidung, dass das Leben anderswo besser ist. Immer weniger, die das Leben hier gleichwertig finden. Weniger Bürger, weniger kommunale Einnahmen. Weniger Angebote. Unternehmen siedeln sich lieber in attraktiveren Gegenden an. Eine Abwärtsspirale. Thiele kämpft dagegen an, ganz konventionell.
"Wir haben insgesamt in den Schulen, diesem so wichtigen Bereich, 50 Millionen investiert in den letzten sechs Jahren. Und das ist ein typisches Beispiel, wo man sagt, wir kämpfen darum, dass wir den Kyffhäuserkreis lebens- und liebenswert machen."
Zuschüsse für den Nahverkehr, ein neues Industriegebiet an der Autobahn im Osten. Das kostet Geld, das die Kommune eigentlich nicht hat. Also muss es von außen eingeworben werden. Der Kreisdirektor macht eine weitausholende Geste über die Aktenstapel in seinem Büro.
"Das ist eine ungeheuer breite Palette, von finanziellen Mitteln, die wir aus Programmen vom Bund bekommen, vom Land bekommen, es gibt von Europa Programme – Europäischer Sozialfonds, EFRE-Fonds, Regionalentwicklung. Wir sind ganz aktiv dabei und haben extra Leute dafür, die sich nur um die Beschaffung von Geldern kümmern. Jetzt sind wir in der guten Situation, dass es über Förderprogramme Geld gibt. Das ist eine tolle Sache."
Wahrscheinlich wird das bald noch besser. Das Heimatministerium in Berlin wird es richten. Es sieht nach weiteren Förderprogrammen für Gegenden wie den Kyffhäuserkreis aus. Fachleute aus der Strukturforschung bezweifeln da zwar, dass das nachhaltig zieht. Globale Trends sprechen dagegen.
Und deswegen wird es für Kommunalvertreter wie Thiele eine Herausforderung bleiben, für die Zurückgebliebenen zu sorgen. Eine standardisierte Daseinsvorsorge wie früher wird es wohl nicht mehr werden.
"Wir reden jetzt nicht mehr über eine bestmögliche Versorgung. Das sind Formulierungen, die wir jetzt nicht mehr nutzen. Früher ja. Jetzt gehen wir davon aus, dass wir eine gewisse Fürsorge für den Bürger haben, um ein gewisses ordentliches Level abzusichern. Wir können viel machen, wenn wir dazu finanziell in der Lage sind. Wir können weniger machen, wenn wir dazu nicht in der Lage sind. Aber wir haben immer ein gewisses Level, was wir machen müssen."
SUV-Förderung statt Straßenbau?
Klaus J. Beckmann: "Ich weiß gar nicht, warum wir immer diese Infrastrukturförderung machen. Auch da müssen wir mal einen ganz anderen Denkansatz bringen. Warum machen wir nicht eine Subjektförderung. Und für solche Standorte, da bau ich keine Straße, die erhalte ich auch nicht mehr, sondern die Leute kriegen eine Unterstützung, dass sie sich so einen SUV kaufen können, einen Geländewagen, Jeep oder was auch immer. Der kommt durch das Gelände, auch durch jedes Schlagloch und dann muss ich nicht mehr die Infrastruktur erhalten."
Klaus Joachim Beckmann ist Stadt- und Verkehrsplaner. Zusammen mit seinen Kollegen aus der Akademie für Raum- und Landesforschung hat er sich darangemacht, Daseinsvorsorge und gleichwertige Lebensverhältnisse neu zu denken. Die Sache mit der SUV-Förderung meint er natürlich ein bisschen als Provokation. Aber die Richtung stimmt schon. Er will die Daseinsvorsorge vom Ergebnis her denken und nicht mehr so sehr vom Angebot. Also nicht mehr die Idee, wie schnell ist der Notarzt beim Herzinfarkt, sondern: wie überlebt jemand, wenn kein Notarzt kommt.
"Wo wir uns in der Bundesrepublik sehr schwer tun – ganz anders als die Skandinavier – ist das Denken über neue Angebots- und Betriebsformen. Ich mache das mal deutlich an der Schule. Natürlich kann man spezialisierte Schulstufen nicht mehr im Einzugsbereich der nächsten 20 bis 30 Kilometer erwarten. Und die Skandinavier, insbesondere die Finnen denken da nicht nur nach, sondern realisieren da auch andere Formen. Zum Beispiel, dass es da so Mischformen gibt: Lernen am PC zu Hause, möglicherweise mit Videokommunikation und dann Phasen in denen die Schüler internatsbeschult sind."
Eine Welt für Pioniere und Aussteiger
Beckmann zeichnet ein Bild, in dem die Bewohner von sehr abgelegenen Gegenden befähigt werden ohne große öffentliche Versorgung fertig zu werden. Die dann als gut ausgebildete Ersthelfer mit einem Defibrillator umgehen können, der Arzt aus der nächsten Stadt assistiert per Videoschaltung.
Es ist eine Szenerie, die von selbstgenügsamen Menschen bewohnt wird, die vielleicht ihren eigenen Brunnen haben und eine autarke Stromversorgung. Dinge des täglichen Lebens bringt eine Drohne vorbei. Ihnen sollte der Staat möglichst viele Freiheiten lassen, damit sie sich ihr Leben einrichten können. Eines mit möglichst wenigen vorgegebenen Standards.
Daseinsvorsorge und gleichwertige Lebensverhältnisse weitgehend als Individualprojekt. Eine Welt für Pioniere, Aussteiger. Aber Beckmann lässt diejenigen nicht allein, die dort noch wohnen, die aber alleine nicht mehr zurechtkommen.
"Was wir im Augenblick bisher nur mit Angst behandeln ist das Thema, wo es nicht oder schlecht funktioniert. Können wir da weiter einen Mindest-ÖV sicherstellen? Der vielleicht morgens und abends einmal fährt, der aber genau die Oma nicht zum Arzt bringt und mittags wieder nach Hause. Bezahlen wir das alles? Das ist eine Entscheidung, die man treffen kann – oder sagen wir, es ist vielleicht wertvoller, mit so einem Ort umzugehen, den Menschen Hilfen gegeben werden, in die nächste kleine Stadt zu ziehen."
"Man muss immer selbst die Initiative ergreifen"
Reiner Ende: "Ja das ist hier der Kunsthof, ein altes Forstgehöft und ich kann ihnen ein bisschen was darüber erzählen und in was sich für einem Zustand Friedrichsrode befindet."
Reiner Ende ist 63. Der Grafiker und Zeichner lebt seit 30 Jahren in einem kleinen Dorf im Westen des Kyffhäuserkreises. Ziemlich abgelegen.
"Friedrichsrode hat nur 90 bis 100 Einwohner und ist als Ort so eigentlich nicht lebensfähig. Man muss immer selbst die Initiative ergreifen und sich hier seine eigene kleine Welt aufbauen."
Dass Friedrichsrode noch lebensfähig und vor allem lebenswert ist, verdankt es den Leuten, die zum Kunsthof gehören. Der ist in einem alten Bau aus dem 18. Jahrhundert untergebracht. Hier werden Workshops für Jugendliche abgehalten, Konzerte veranstaltet und Ausstellungen organisiert. Ohne die Gruppe, das klingt ziemlich glaubhaft, stünde hier viel mehr leer. Im Kunsthof treffen sich die Leute aus Friedrichsrode. Der Verein sorgt für die Weihnachtsfeier, eine Yoga-, eine Seniorengruppe. Durch ihn gibt es einen Bürgerbus für das Dorf.
Reiner Ende: "Es ist natürlich so, dass unser Verein im Laufe der Zeit sehr viele Aufgaben übernommen hat, die eigentlich Sache der öffentlichen Hand sind."
"Ein bisschen abgehängt fühlt man sich dann doch auch"
Bei allem Stolz der Künstler in dem abgeschiedenen Ort auf ihre Initiativen – so richtig in Ordnung fühlt es für sie nicht an, dass die Daseinsvorsorge immer mehr zur Privatsache wird. Endes Frau Maria ist Ortsteilbürgermeisterin.
"Es ist eigentlich ein Unding. Ein bisschen abgehängt fühlt man sich dann doch auch. Aber wir empfinden es nicht ganz so, weil wir uns damit auch einrichten."
Michael Donth, mit 33 der Jüngste in der Runde, lebt erst seit einem Jahr hier. Zuvor war er in Erfurt am Theater. Er schwärmt von der Ruhe in Friedrichsrode, dem Zusammenhalt, dass die Leute für einander da sind. Das kommt mit dem auf sich gestellt sein. Aber irgendwie kann er es gar nicht fassen, dass man eine Gegend so allein lässt. Eigentlich kommt er auch aus einem kleinen Dorf, im Schwarzwald. Dort sieht das Leben ganz anders aus.
"Da sind die Strukturen komplett anders als hier. Dort wachsen die Dörfer, es entstehen Neubaugebiete, es zieht Industrie hinzu Familien hinzu, jeder hat Arbeit, jeder baut sein neues Haus mit 3 Milimeter Rasen davor. Da ist die Entwicklung eine andere, aber es liegt daran, dass investiert wird von der Wirtschaft in diese Regionen, weil sich Industrie dort ansiedelt. Und ich sehe keinen Grund, warum das hier nicht auch so sein sollte. Wir sind hier mitten in Deutschland, eigentlich ein idealer Standort."