Das Reizwort Sekte
Mit dem Reizwort Sekte beschäftigt sich Sebastian Murken seit Langem. Er wirbt dafür, Religion und vor allem den religiösen Einzelnen mit psychologischen Methoden zu betrachten. Statt von Sekten spricht Murken von "neuen religiösen Bewegungen". Das gleichnamige Buch ist seine überarbeitete Habilitationsschrift in Religionswissenschaft. Gleichzeitig arbeitet Murken als klinischer Psychologe.
Sollten Sekten verboten werden? Auf diese Frage antworteten vor einigen Jahren 78 Prozent der Befragten mit Ja - ohne weitere Informationen. Das Reizwort Sekte genügte. Genau mit diesem Reizwort und den Vorurteilen, die mit ihm verbunden sind, beschäftigt sich der Psychologe und Religionswissenschaftler Sebastian Murken seit langem. Er redet nicht von Sekten, sondern von "neuen religiösen Bewegungen". Und das ist nicht einfach eine andere Formulierung, sondern Programm. Seine Forschungen zu diesen Gruppen hat er nun zusammengefasst unter dem Titel "Neue religiöse Bewegungen aus religionspsychologischer Sicht".
Murkens Anliegen ist klassisch aufklärerisch und sehr überzeugend durchgeführt. Er sagt: Wir wissen so gut wie nichts über diese religiösen Gruppen - und wir sollten vielleicht erst einmal zu verstehen versuchen, was dort vorgeht und was Menschen in ihnen suchen.
Harmlos findet Murken diese neuen religiösen Bewegungen damit noch lange nicht. Er betont ausdrücklich: Für einzelne kann die Mitgliedschaft in einer solchen Gruppe zur traumatischen Erfahrung werden, mit weitreichenden psychischen und sozialen Folgen.
Aber es bleibt die Frage: Liegt das an diesen religiösen Gruppen generell? Oder ist es nicht so, dass immer die Gefahr von Missbrauch oder auf der anderen Seite Trauma besteht, wenn es um enge emotionale Beziehungen in ungleichen Machtverhältnissen geht - was zum Beispiel für Kirchen, Psychiatrie, Schule oder auch die Ehe belegt ist.
Murken trägt zusammen, was es an Untersuchungen über sogenannte Sekten gibt - und findet keine schlüssigen Belege für deren spezielle Zerstörungskraft auf die Seele. Ganz im Gegenteil räumt er mit Vorurteilen auf: Nicht jeder ist anfällig für solche Gruppen. Die meisten werden nicht auf der Straße angeworben, sondern kommen über Freunde in Kontakt.
Das willenlose Sektenopfer ist eine Fiktion - die meisten beschreiben den Beitritt als eine Bekehrung, die sie aktiv betreiben. Nur wenige bleiben dauerhaft, und die meisten schaffen den Ausstieg alleine. Dramatische Berichte von Aussteigern überspitzen die generellen Konflikte, die so eine Neuorientierung bedeutet - aus der Situation der jeweiligen Aussteiger nachvollziehbar, aber trotzdem die Diskussion verzerrend.
Sebastian Murken hat eigene Untersuchungen angestellt unter Mitgliedern dreier Gruppen aus dem christlichen Spektrum: der Zeugen Jehovas, der Neuapostolischen Kirche und einer freikirchlichen Pfingstgemeinde. Dort hat er eben nicht mit Aussteigern gesprochen, sondern mit Einsteigern, nicht länger als zwei Jahre Bekehrten.
Murken hat versucht, mit wissenschaftlichen Methoden der Psychologie deren seelische Verfasstheit und Entwicklung zu verstehen. Mit durchaus überraschenden Ergebnissen: So sind die Neueinsteiger nicht die vielzitierten unschuldigen Jugendlichen, sondern Menschen um die 40. Sie kommen oft aus krisenhaften Situationen - durch die Gruppe entwickeln sie die Fähigkeit, mit diesen Krisen besser umzugehen, sich zu stabilisieren.
Glauben als Lebensbewältigung. Das ist nicht im Sinne einer heilen Welt zu verstehen. Die Einsteiger haben auch neue Konflikte auszuhalten - so kämpfen manche mit den Lehren ihrer Gruppen, auch Zeit ist ein Problem: Wer Zeuge Jehovas wird, braucht sehr verständnisvolle Freunde in seiner alten Umgebung.
Alles in allem aber erhebt Murken wenig Alarmierendes, sondern viel Interessantes und zum Nachdenken Anregendes über die Zusammenhänge von Religion und psychischer Gesundheit allgemein.
Murken wirbt dafür, Religion - und vor allem den religiösen Einzelnen - mit psychologischen Methoden zu betrachten. Das Buch ist seine überarbeitete Habilitationsschrift in Religionswissenschaft. Gleichzeitig arbeitet Murken als klinischer Psychologe.
Das macht sein Buch zu einer anspruchsvollen, aber unglaublich anregenden Lektüre. Und von "Sekten" redet man danach sicher nicht mehr, wenn es um kleine, eng umschlossene religiöse Gruppen abseits der etablierten Religionen geht.
Rezensiert von Kirsten Dietrich
Sebastian Murken: Neue religiöse Bewegungen aus religionspsychologischer Perspektive
diagonal-Verlag, Marburg 2009,
316 Seiten, 36 Euro
Murkens Anliegen ist klassisch aufklärerisch und sehr überzeugend durchgeführt. Er sagt: Wir wissen so gut wie nichts über diese religiösen Gruppen - und wir sollten vielleicht erst einmal zu verstehen versuchen, was dort vorgeht und was Menschen in ihnen suchen.
Harmlos findet Murken diese neuen religiösen Bewegungen damit noch lange nicht. Er betont ausdrücklich: Für einzelne kann die Mitgliedschaft in einer solchen Gruppe zur traumatischen Erfahrung werden, mit weitreichenden psychischen und sozialen Folgen.
Aber es bleibt die Frage: Liegt das an diesen religiösen Gruppen generell? Oder ist es nicht so, dass immer die Gefahr von Missbrauch oder auf der anderen Seite Trauma besteht, wenn es um enge emotionale Beziehungen in ungleichen Machtverhältnissen geht - was zum Beispiel für Kirchen, Psychiatrie, Schule oder auch die Ehe belegt ist.
Murken trägt zusammen, was es an Untersuchungen über sogenannte Sekten gibt - und findet keine schlüssigen Belege für deren spezielle Zerstörungskraft auf die Seele. Ganz im Gegenteil räumt er mit Vorurteilen auf: Nicht jeder ist anfällig für solche Gruppen. Die meisten werden nicht auf der Straße angeworben, sondern kommen über Freunde in Kontakt.
Das willenlose Sektenopfer ist eine Fiktion - die meisten beschreiben den Beitritt als eine Bekehrung, die sie aktiv betreiben. Nur wenige bleiben dauerhaft, und die meisten schaffen den Ausstieg alleine. Dramatische Berichte von Aussteigern überspitzen die generellen Konflikte, die so eine Neuorientierung bedeutet - aus der Situation der jeweiligen Aussteiger nachvollziehbar, aber trotzdem die Diskussion verzerrend.
Sebastian Murken hat eigene Untersuchungen angestellt unter Mitgliedern dreier Gruppen aus dem christlichen Spektrum: der Zeugen Jehovas, der Neuapostolischen Kirche und einer freikirchlichen Pfingstgemeinde. Dort hat er eben nicht mit Aussteigern gesprochen, sondern mit Einsteigern, nicht länger als zwei Jahre Bekehrten.
Murken hat versucht, mit wissenschaftlichen Methoden der Psychologie deren seelische Verfasstheit und Entwicklung zu verstehen. Mit durchaus überraschenden Ergebnissen: So sind die Neueinsteiger nicht die vielzitierten unschuldigen Jugendlichen, sondern Menschen um die 40. Sie kommen oft aus krisenhaften Situationen - durch die Gruppe entwickeln sie die Fähigkeit, mit diesen Krisen besser umzugehen, sich zu stabilisieren.
Glauben als Lebensbewältigung. Das ist nicht im Sinne einer heilen Welt zu verstehen. Die Einsteiger haben auch neue Konflikte auszuhalten - so kämpfen manche mit den Lehren ihrer Gruppen, auch Zeit ist ein Problem: Wer Zeuge Jehovas wird, braucht sehr verständnisvolle Freunde in seiner alten Umgebung.
Alles in allem aber erhebt Murken wenig Alarmierendes, sondern viel Interessantes und zum Nachdenken Anregendes über die Zusammenhänge von Religion und psychischer Gesundheit allgemein.
Murken wirbt dafür, Religion - und vor allem den religiösen Einzelnen - mit psychologischen Methoden zu betrachten. Das Buch ist seine überarbeitete Habilitationsschrift in Religionswissenschaft. Gleichzeitig arbeitet Murken als klinischer Psychologe.
Das macht sein Buch zu einer anspruchsvollen, aber unglaublich anregenden Lektüre. Und von "Sekten" redet man danach sicher nicht mehr, wenn es um kleine, eng umschlossene religiöse Gruppen abseits der etablierten Religionen geht.
Rezensiert von Kirsten Dietrich
Sebastian Murken: Neue religiöse Bewegungen aus religionspsychologischer Perspektive
diagonal-Verlag, Marburg 2009,
316 Seiten, 36 Euro