Das schwarze Loch des Todes
Die Grande Dame der deutschen Psychoanalyse beschäftigt sich, mit über 90 Jahren, mit zentralen Fragen ihres Lebens. Der Tod bleibt für sie eine große Unbekannte, das "Nichts" danach kann sie sich nicht vorstellen.
"Mit über neunzig Jahren wendet sich die Grande Dame der deutschen Psychoanalyse nochmals den zentralen Fragen ihres Lebens zu, vor allem der Unfähigkeit der Deutschen zu trauern. Das Buch gleichen Namens, das sie mit ihrem Mann Alexander 1967 veröffentlichte, machte beide berühmt. Die Mitbegründerin des Sigmund-Freud-Instituts ließ ca. zwanzig Jahre später noch die Schriften 'Die friedfertige Frau' und 'Die Zukunft ist weiblich' folgen, sowie 1990 'Die Mühsal der Emanzipation'."
Allen diesen Themen blieb sie ein Leben lang treu. So ist denn auch "Die Radikalität des Alters" eher der Versuch, Bilanz zu ziehen. Das Alter selbst kommt nur am Schluss des Buches vor, auf 14 von gut 200 Seiten. Im Grunde ist die alte Dame jung geblieben. So sagt sie im Gespräch mit Alice Schwarzer, das dem Buch beigefügt ist:
"Im Denken und Fühlen bin ich heute wie damals, mit 30. Also dieses Mehrwissenwollen und das Erkennenwollen von Wahrheit. Worauf kommt es an und was ist Quatsch? Das hatte ich schon mit 30, wenn nicht mit 20. Und das habe ich bis heute. Ich verstehe noch immer die Person, die ich mit 30 war. Aber die Person, die ich mit 30 war, würde mich nicht verstehen."
Dieser Nachsatz ist typisch für Margarete Mitscherlich. Sie schlägt dem Leser, wenn nicht auch sich selbst, ein Schnippchen. Es ist also doch etwas anders geworden. Das gelebte Leben, das Alter, hat etwas mit ihr angestellt. Doch was? Das bleibt eher im Unklaren, außer dass der Körper nicht mehr so mitspielt, wie er soll.
Radikal ist sie auf jeden Fall geblieben. Heute wie damals tritt sie ein für die Emanzipation der Frau. Aber nicht nur einfach so. Sie wirbt für einen selbstkritischen Feminismus, der die eigenen psychischen Zwänge erkennt. Sie seien verantwortlich für die verinnerlichte Degradierung der Frau in der Gesellschaft. Hier wie in allem wird die Grundthematik der großen Psychoanalytikerin deutlich:
"Dass Vergangenheit abgeschlossen sein muss, um Gegenwart herzustellen, wurde uns immer klarer. Ohne Trauerarbeit war und ist das nicht zu leisten."
Diese Sätze beziehen sich zwar auf die Deutschen, die so lange aus dem Nationalsozialismus nichts haben lernen wollen, sie sind aber auf alle und jeden zu beziehen. Die Autorin schließt sich da mit ein - vielleicht ihre Art von Altersweisheit. Das ist das eigentlich Bewegende an ihrem Buch. Es umgibt ihre Radikalität mit einer gewissen Sanftmut, die schon früh in der anrührenden Liebe zu ihrer Mutter zum Ausdruck kommt.
"Für mich war es eine Lebensaufgabe, meine Mutter glücklich zu machen, was mir in gewisser Weise sogar gelungen zu sein scheint. Das ist sicherlich ein Glücksfall, den ich hoch zu schätzen gelernt habe, denn gerade der fehlte manchen meiner Analysandinnen, die an dem selben 'Symptom' litten, aber keine Chance hatten oder sich die Chance verdarben, ihre 'Mutter glücklich zu machen'."
Wenn der Leser diese zu Herzen gehende Liebe einer Tochter im Auge behält, weiß er auch ihr Eintreten für eine radikale Weiblichkeit besser zu taxieren. Mitscherlich hält die platonische Idee des Androgynen, dass der Mann auch feminine Seiten habe, für eine männliche Übertreibung: Bei Platon käme der Mann, der "andros" zuerst. Jedoch seien die Geschlechter beide "bi". Da Frauen überdies von Haus aus mit einer lebendigeren Gefühlswelt ausgestattet sind, ohne deswegen über weniger sogenannte "männliche" Rationalität zu verfügen, möge man lieber den Begriff der "Gynandrie" verwenden. Frauen zuerst! Im O-Ton klingt es indes verhaltener:
"Leichter als er (sc. der Mann) kann sie (sc. die Frau) sich deswegen in andere Menschen einfühlen und den anderen als anderen wahrnehmen, was die Entwicklung der emotionalen Intelligenz fördert. Wenn sich solche Fähigkeiten mit Wahrheitsliebe und Durchsetzungsvermögen verbinden, lernen Frauen mit Macht einsichtiger und menschenfreundlicher umzugehen als es der Männerwelt bisher gelungen ist."
Daher plädiert die Autorin für die Übernahme von Verhaltensweisen, die bisher nur Männern vorbehalten waren, wie zum Beispiel Durchsetzungsvermögen, Selbstbewusstsein und Freude am Erfolg. Auch die Erotik der Macht gehört dazu, die sie bei den Männern durchweg anprangert. Man wünscht der Grande Game, dass sie recht hat und dass die Dialektik der Macht nicht auch die Frauen ereilt. Nur dann würde Mitscherlichs Ziel einer kreativeren Gesellschaft erreicht, die von der Erstarrung weiblicher oder männlicher Identität erlöst wäre.
Trotz aller Jungegebliebenheit wird das Thema des Todes im Buch nicht ausgespart, sogar mit Zitaten aus Mahlers "Kindertotenliedern" angereichert. Er bleibt aber die große Unbekannte, wenn man die schon erwähnten Beschwerden des alternden Körpers außer Acht lässt:
"Alle denkenden Menschen befassen sich mit ihrem Tod, um so mehr, je näher er rückt, und er wird ihnen gleichzeitig immer fremd bleiben. (…) Wenn du stirbst, bist du weg. Aber was heißt das: Weg sein? Du fühlst nicht mehr, du denkst nicht mehr, du redest nicht mehr, du liest nicht mehr. Du kannst dir das Nichts nicht vorstellen."
Der Tod ist für sie wörtlich ein schwarzes Loch. Merkwürdig jedoch die Worte, die sie auf das Nichts, das sie sich nicht vorstellen kann, folgen lässt:
"Seit die Menschen Zeugnis geben konnten, haben sie nach Trost, nach Religion gesucht. Ein Volk ohne Religion gibt es nicht."
Der Leser horcht auf, da die Autorin für ihre Ablehnung religiöser Tröstungen hinlänglich bekannt ist und sie auch in diesem Buch des Öfteren hervorhebt. Umso überraschender die Worte zum Schluss des Interviews. Auf die Frage von Alice Schwarzer "Und was ist dein Trost, Margarete?" gibt sie die Antwort:
"Ich weiß es nicht. Vielleicht muss ich ohne Trost leben und sterben. Wir Menschen sind Teil der Natur und damit auch Teil von 'Stirb und Werde'. Aber ob ich mich im Erkennen solcher Zusammenhänge geborgen fühle? Bisher ist es mir nicht gelungen – oder vielleicht doch?"
Man legt das Buch etwas beklommen aus der Hand. Und überlegt, ob nicht doch die Geborgenheit ein Thema ist, das die Psychoanalyse zu ihrem eigenen Nachteil hat schleifen lassen und das nun einer ihrer hervorragenden Vertreterinnen zu schaffen macht. Aber vielleicht ist das nur der Wunsch des Lesers, der der Grande Dame statt eines radikal trostlosen lieber ein gnädiges Alter wünscht.
Margarete Mitscherlich-Nielsen: Die Radikalität des Alters. Einsichten einer Psychoanalytikerin
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010
Allen diesen Themen blieb sie ein Leben lang treu. So ist denn auch "Die Radikalität des Alters" eher der Versuch, Bilanz zu ziehen. Das Alter selbst kommt nur am Schluss des Buches vor, auf 14 von gut 200 Seiten. Im Grunde ist die alte Dame jung geblieben. So sagt sie im Gespräch mit Alice Schwarzer, das dem Buch beigefügt ist:
"Im Denken und Fühlen bin ich heute wie damals, mit 30. Also dieses Mehrwissenwollen und das Erkennenwollen von Wahrheit. Worauf kommt es an und was ist Quatsch? Das hatte ich schon mit 30, wenn nicht mit 20. Und das habe ich bis heute. Ich verstehe noch immer die Person, die ich mit 30 war. Aber die Person, die ich mit 30 war, würde mich nicht verstehen."
Dieser Nachsatz ist typisch für Margarete Mitscherlich. Sie schlägt dem Leser, wenn nicht auch sich selbst, ein Schnippchen. Es ist also doch etwas anders geworden. Das gelebte Leben, das Alter, hat etwas mit ihr angestellt. Doch was? Das bleibt eher im Unklaren, außer dass der Körper nicht mehr so mitspielt, wie er soll.
Radikal ist sie auf jeden Fall geblieben. Heute wie damals tritt sie ein für die Emanzipation der Frau. Aber nicht nur einfach so. Sie wirbt für einen selbstkritischen Feminismus, der die eigenen psychischen Zwänge erkennt. Sie seien verantwortlich für die verinnerlichte Degradierung der Frau in der Gesellschaft. Hier wie in allem wird die Grundthematik der großen Psychoanalytikerin deutlich:
"Dass Vergangenheit abgeschlossen sein muss, um Gegenwart herzustellen, wurde uns immer klarer. Ohne Trauerarbeit war und ist das nicht zu leisten."
Diese Sätze beziehen sich zwar auf die Deutschen, die so lange aus dem Nationalsozialismus nichts haben lernen wollen, sie sind aber auf alle und jeden zu beziehen. Die Autorin schließt sich da mit ein - vielleicht ihre Art von Altersweisheit. Das ist das eigentlich Bewegende an ihrem Buch. Es umgibt ihre Radikalität mit einer gewissen Sanftmut, die schon früh in der anrührenden Liebe zu ihrer Mutter zum Ausdruck kommt.
"Für mich war es eine Lebensaufgabe, meine Mutter glücklich zu machen, was mir in gewisser Weise sogar gelungen zu sein scheint. Das ist sicherlich ein Glücksfall, den ich hoch zu schätzen gelernt habe, denn gerade der fehlte manchen meiner Analysandinnen, die an dem selben 'Symptom' litten, aber keine Chance hatten oder sich die Chance verdarben, ihre 'Mutter glücklich zu machen'."
Wenn der Leser diese zu Herzen gehende Liebe einer Tochter im Auge behält, weiß er auch ihr Eintreten für eine radikale Weiblichkeit besser zu taxieren. Mitscherlich hält die platonische Idee des Androgynen, dass der Mann auch feminine Seiten habe, für eine männliche Übertreibung: Bei Platon käme der Mann, der "andros" zuerst. Jedoch seien die Geschlechter beide "bi". Da Frauen überdies von Haus aus mit einer lebendigeren Gefühlswelt ausgestattet sind, ohne deswegen über weniger sogenannte "männliche" Rationalität zu verfügen, möge man lieber den Begriff der "Gynandrie" verwenden. Frauen zuerst! Im O-Ton klingt es indes verhaltener:
"Leichter als er (sc. der Mann) kann sie (sc. die Frau) sich deswegen in andere Menschen einfühlen und den anderen als anderen wahrnehmen, was die Entwicklung der emotionalen Intelligenz fördert. Wenn sich solche Fähigkeiten mit Wahrheitsliebe und Durchsetzungsvermögen verbinden, lernen Frauen mit Macht einsichtiger und menschenfreundlicher umzugehen als es der Männerwelt bisher gelungen ist."
Daher plädiert die Autorin für die Übernahme von Verhaltensweisen, die bisher nur Männern vorbehalten waren, wie zum Beispiel Durchsetzungsvermögen, Selbstbewusstsein und Freude am Erfolg. Auch die Erotik der Macht gehört dazu, die sie bei den Männern durchweg anprangert. Man wünscht der Grande Game, dass sie recht hat und dass die Dialektik der Macht nicht auch die Frauen ereilt. Nur dann würde Mitscherlichs Ziel einer kreativeren Gesellschaft erreicht, die von der Erstarrung weiblicher oder männlicher Identität erlöst wäre.
Trotz aller Jungegebliebenheit wird das Thema des Todes im Buch nicht ausgespart, sogar mit Zitaten aus Mahlers "Kindertotenliedern" angereichert. Er bleibt aber die große Unbekannte, wenn man die schon erwähnten Beschwerden des alternden Körpers außer Acht lässt:
"Alle denkenden Menschen befassen sich mit ihrem Tod, um so mehr, je näher er rückt, und er wird ihnen gleichzeitig immer fremd bleiben. (…) Wenn du stirbst, bist du weg. Aber was heißt das: Weg sein? Du fühlst nicht mehr, du denkst nicht mehr, du redest nicht mehr, du liest nicht mehr. Du kannst dir das Nichts nicht vorstellen."
Der Tod ist für sie wörtlich ein schwarzes Loch. Merkwürdig jedoch die Worte, die sie auf das Nichts, das sie sich nicht vorstellen kann, folgen lässt:
"Seit die Menschen Zeugnis geben konnten, haben sie nach Trost, nach Religion gesucht. Ein Volk ohne Religion gibt es nicht."
Der Leser horcht auf, da die Autorin für ihre Ablehnung religiöser Tröstungen hinlänglich bekannt ist und sie auch in diesem Buch des Öfteren hervorhebt. Umso überraschender die Worte zum Schluss des Interviews. Auf die Frage von Alice Schwarzer "Und was ist dein Trost, Margarete?" gibt sie die Antwort:
"Ich weiß es nicht. Vielleicht muss ich ohne Trost leben und sterben. Wir Menschen sind Teil der Natur und damit auch Teil von 'Stirb und Werde'. Aber ob ich mich im Erkennen solcher Zusammenhänge geborgen fühle? Bisher ist es mir nicht gelungen – oder vielleicht doch?"
Man legt das Buch etwas beklommen aus der Hand. Und überlegt, ob nicht doch die Geborgenheit ein Thema ist, das die Psychoanalyse zu ihrem eigenen Nachteil hat schleifen lassen und das nun einer ihrer hervorragenden Vertreterinnen zu schaffen macht. Aber vielleicht ist das nur der Wunsch des Lesers, der der Grande Dame statt eines radikal trostlosen lieber ein gnädiges Alter wünscht.
Margarete Mitscherlich-Nielsen: Die Radikalität des Alters. Einsichten einer Psychoanalytikerin
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010