Das Schwefelwasserstoffloch

Von Susanne Billig |
Viele Schriftsteller haben es besungen und bedichtet, es muss etwas Besonderes an ihm sein. Als nierenförmiger Teich zeigt es sich auf der Karte, nur zwei schmale Wasserwege verbinden es mit seinen großen Geschwistern. Von Ost nach West ist es rund tausend Kilometer lang. Inseln kennt es kaum, dafür messen seine Küsten stolze viertausend Kilometer, etliche Länder erfreuen sich daran.
Tief reicht es hinab, an einer Stelle über zweitausend Kilometer. Sechzig Flüsse nimmt es auf, darunter fünf große und zwei Riesen unter den Flüssen. Der größte davon trägt pro Jahr zweihundertdrei Kubikkilometer Süßwasser in dieses Gewässer – soviel bekommt die Nordsee nicht von allen Flüssen zusammen. Der britische Autor Neal Ascherson hat IHM ein ganzes Buch gewidmet:

"Diese Flüsse, anderswo Quelle so reichen Lebens, haben über Zehntausende von Jahren das Leben in seinen Tiefen ausgelöscht. Wenn der organische Eintrag derart groß ist, dass der Vorrat an gelöstem Sauerstoff aufgebraucht wird, entziehen die Bakterien den Schwefel-Ionen, die ein Bestandteil des Meerwassers sind, ihren Sauerstoff. Bei diesem Prozess entsteht ein Gas: Schwefelwasserstoff. "

Schwefelwasserstoff ist hochgiftig, ein tiefer Atemzug kann einen Menschen ums Leben bringen. DIESES Gewässer ist das größte Reservoir für Schwefelwasserstoff, das es auf der ganzen Erde gibt. Seine gigantischen Tiefenzonen sind die gewaltigste Masse toten Wassers auf der Erde. Dennoch: In den sauerstoffreichen, höheren Zonen lebte, früher zumindest, viel Fisch. Und wo es zu essen gibt und Flüsse fließen, da schwemmt es auch Menschen an. Über Jahrhunderte hinweg kamen sie aus allen Himmelsrichtungen, Kaufleute und Handwerker, Nomaden, Hirten und Söldner. An diesen Küsten stießen die unterschiedlichsten Sprachen, Götter und Lebenswelten aufeinander. Neal Ascherson:

"Eine der traurigen Lehren aus meiner Beschäftigung mit dem Leben an diesem Wasser ist die Erkenntnis, dass das Misstrauen zwischen den Kulturen anscheinend unsterblich ist - kein besonders ermutigendes Modell für die "multiethnische Gesellschaft" unserer Hoffnungen und Träume. Zwar trifft es zu, dass die Ausbrüche der Barbarei in einer Gesellschaft Pogrome, "ethnische Säuberungen" im Namen irgendeiner Idee nationaler Einheit die Gemeinden an hier gewöhnlich von außen erreichten. Kommt es aber dazu, dann kann die scheinbare Solidarität von Jahrhunderten sich innerhalb von Tagen oder Stunden auflösen. Das Gift, das aus den Tiefen empor quillt, wird mit einem einzigen Atemzug aufgenommen. "

Heute pflanzt sich der menschliche Unwille zum friedlichen Zusammenleben auch ins Wasser hinein fort. HIER ereignet sich eine der großen ökologischen Katastrophen unserer Zeit. Industrie und Intensiv-Landwirtschaft der Anrainerstaaten haben die Natur dramatisch verändert. Nährstoffe, hochgiftige Chemikalien, Atomabfälle schwemmen in Massen in dieses Wasser. Ohne an Morgen zu denken, wird gefischt, was die Netze aus den Fluten holen können.

In den neunziger Jahren gab es hier zeitweise eine Milliarde Quallen – das überlebt keine Fischpopulation. Von den fast dreißig Fischarten, die man 1970 noch fischen konnte, gibt es heute noch fünf. Der Tourismus besiedelt die Küsten, doch auch der bringt Dreck mit sich. Die Zukunft sieht düster aus. Viele Länder müssten sich für DIESES Gewässer entschließen und Verträge zu seinem Schutz eingehen.

Es gibt eine Theorie, wonach sich HIER die große Sintflut ereignete, von der die Bibel und auch das Gilgamesch-Epos berichten. Sicher ist, dass sich dieses Gewässer nach der Eiszeit mit riesigen Salzwasser-Massen auffüllte - in weniger als dreißig Jahren stieg der Meeresspiegel um einhundertvierzig Meter! Vielleicht sollte Noah eine neue Arche bauen, aus Gift-resistentem Holz, und von den übergebliebenen Tierarten einige retten - in eine Welt, in der die Meere noch lebendig sind.

Lösung: Das Schwarze Meer