Das Schweigen der Völker
Die Armenier im Osmanischen Reich waren in den Jahren 1915/16 die Opfer des ersten Völkermordes im 20. Jahrhundert. Die Hauptverantwortung lag im Osmanischen Reich – aber auch die anderen Großmächte waren nicht schuldlos: Sie verhielten sich sehr merkwürdig gegenüber den Armeniern, allen voran das Deutsche Reich.
"Wan war eine der schönsten Städte der asiatischen Türkei. Eine Stadt mit Gärten und Weingärten am Wan-See inmitten einer Hochebene, die von herrlichen Bergen umgeben war."
Die Amerikanerin Grace Highly Knapp schreibt diese Zeilen im Herbst 1915. Sie hatte in der ostanatolischen Provinzhauptstadt Wan in einer Missionsstation gearbeitet. Bis zum Ersten Weltkrieg war die Stadt einer der Mittelpunkte armenischen Lebens im Osmanischen Reich.
"Die ummauerte Stadt wurde von einer Felsenburg beherrscht, einem Felsen, der von einer alten Festungsanlage gekrönt war und auf seiner dem See zugewandten Flanke berühmte Keilschriften aufwies. Die Gärten erstreckten sich von der Stadt über vier Meilen ostwärts. Die Einwohnerzahl belief sich auf 50.000; davon waren drei Fünftel Armenier, zwei Fünftel Türken."
Grace Knapp ist, während sie in ihren Erinnerungen festhält, auf der Flucht vor den osmanischen Truppen. Während sie sich mit anderen Ausländern über Tiflis und Sankt Petersburg in die Vereinigten Staaten durchschlägt, lebt in Wan, der einstigen Residenz des antiken armenischen Königs Tigranes des Großen, kein einziger Armenier mehr.
Ostanatolien ist nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges umkämpft zwischen türkischen und russischen Truppen. Der Zar hatte das Gebiet jenseits des Wan-Sees besetzen lassen. Auf russischer Seite kämpften auch armenische Freiwilligenbataillone. Immer wieder gab es Gerüchte von irregulären Einheiten, die hinter der Front Gräueltaten an Muslimen begingen – Grund genug für Racheaktionen kurdischer Freischärler, die, nachdem sich die russischen Truppen im Winter 1914/15 wieder zurückgezogen hatten, christliche Dörfer überfielen, plünderten, vergewaltigten und mordeten. Je mehr Flüchtlinge in die Stadt Wan drängten, je mehr Geschichten über Massaker zu hören waren, desto ängstlicher wurde die armenische Bevölkerung. Mitte April 1915 verbarrikadierte sie sich in ihren Stadtvierteln. Die türkische Armee belagerte die Stadt, aber die Verteidiger waren nicht bereit, so genannte armenische Deserteure auszuliefern. Am 20. April entwickelte sich aus einer Schießerei in wenigen Minuten der Kampf um Wan.
"Selten habe ich mit solcher Wut kämpfen sehen,"
berichtet Rafael de Nogales, ein venezolanischer Offizier in türkischen Diensten, später.
"Pardon wurde weder gefordert noch gegeben. Wer in die Hand des Feindes fiel, war ein toter Mann. Gebäude, die uns in die Hände fielen, wurden auf der Stelle in Brand gesteckt."
Trotz der eher provisorischen Bewaffnung der Armenier gelang es der türkischen Armee nicht, die Stadt einzunehmen – auch weil während der Belagerung immer mehr Flüchtlinge aus den Dörfern in die Stadt strömten. Die Amerikanerin Grace Knapp schreibt:
"Während der Zeit der Belagerung hausten die türkischen Soldaten und ihre Gesellen, die wilden Kurden, fürchterlich in der ganzen Umgebung. Sie massakrierten Männer, Frauen und Kinder und brannten ihre Heimstätten nieder."
Der Aufstand der Armenier von Wan ist die Dolchstoßlegende der Türkei. Bis heute soll mit ihr bewiesen werden, dass das Osmanische Reich einen inneren Feind hatte, den es zu bekämpfen galt. Die Stadt Wan ist im Laufe der Kampfhandlungen komplett zerstört worden. Heute ist sie an anderer Stelle wieder aufgebaut worden. Dennoch: Die Mehrheit der Verteidiger konnte zumindest ihr Leben retten, als sie Monate später mit den russischen Truppen fliehen mussten - anders als geschätzte 1,5 Millionen Armenier im Osmanischen Reich.
Als die Nachrichten von den Kämpfen um Wan in Konstantinopel eintrafen, ausgerechnet an dem Tag, an dem die alliierte Landung in Kleinasien begann, wurde dies umgehend als Vorwand genommen, um ein Exempel an den in der Hauptstadt lebenden Armeniern zu statuieren. Eine armenische Augenzeugin erinnert sich später:
"Eines Tages, 1915, Mitte April, 24., glaube ich, lagen wir im Bett, und auf einmal wurde geschossen. Und das nahm kein Ende. Wir wussten nicht, was da los war. Mein Vater hat uns geweckt, wir sind alle aufgestanden, und er hat uns versteckt, bis früh sind wir im Versteck geblieben, und auf einmal haben wir gehört, dass das ganze armenische Viertel umzingelt war und das waren die Türken, die da geschossen hatten. Und dann haben die angefangen, die Männer zu sammeln. Haben die Männer gefangen und alle ins Gefängnis gebracht."
Es trifft in dieser Nacht die einflussreichen und wohlhabenden Armenier des Osmanischen Reiches – Geschäftsleute, Politiker, Journalisten, Ärzte, Wissenschaftler. Die Männer werden zunächst nach Angora deportiert – ein Dorf, das später Ankara genannt werden wird. Viele sterben auf dem Transport. Als diese Ereignisse später vor einem Berliner Schwurgericht verhandelt werden, erinnert sich der armenische Bischof Krikoris Balakian:
"Wir wurden 36 Stunden per Bahn befördert bis nach Angora. Ungefähr 190 Männer wurden nach Tschangere verbannt, 24 Stunden von Angora entfernt. Diese wurden später in kleinen Karawanen von ungefähr 25, 15, fünf Personen wieder nach Angora deportiert und dort totgeschlagen. Nur 16 von diesen 190 Personen blieben übrig, wurden verschont."
Der 24. April ist bis heute der Gedenktag des Völkermordes an den Armeniern. Denn von diesem Tag an wurde das rücksichtslose Vorgehen der türkischen Armee gegen die Armenier nicht mehr verschleiert. Die Führung erklärte nun öffentlich, dass die türkische Nation einen Existenzkampf gegen eine Übermacht von Feinden zu führen habe. Nicht nur die Armenier, auch andere christliche Minderheiten standen unter dem Generalverdacht der Kollaboration mit den Alliierten. Auch viele griechische Dörfer entlang des Marmarameeres wurden evakuiert.
Der Genozid an den Armeniern hatte schleichend begonnen, schon Monate vorher.
Nachdem das Osmanische Reich 1914 an der Seite des Deutschen Kaiserreichs und der österreichisch ungarischen Monarchie in den Ersten Weltkrieg gezogen war, hatte es alle Soldaten zu den Waffen gerufen, neben den muslimischen auch die christlichen – was erst seit der Entmachtung des Sultans durch die Jungtürken im Jahr 1908 möglich war. Doch spätestens ab Mitte Januar 1915 wurden die armenischen Soldaten, die ohnehin keine höheren Offiziere stellten, entwaffnet und in Arbeitsbataillone gesteckt: Sie mussten Wege bauen. Wer konnte, floh, darin unterschieden sich die armenischen Rekruten nicht von den türkischen oder kurdischen. Ihr Schicksal hing stark davon ab, wo sie dienten. In den arabischen Provinzen hatten sie eine realistische Überlebenschance. Mussten sie jedoch in Anatolien arbeiten, und das mussten die meisten, wurden sie systematisch ermordet. Aus dem Bericht der britischen Leiterin des Waisenhauses von Aintab, dem heutigen Gaziantep:
"Wir hatten schon erfahren, dass man die Männer eine Straße bauen ließ. Gleich nach Fertigstellung wurden sie entlang der Straße aufgestellt und getötet zumeist mit Messern, weil der befehlshabende Offizier seinen Soldaten gesagt hatte, ihr Pulver nicht für Armenier zu verschwenden."
Von Anfang an geschieht der Völkermord an den Armeniern unter den Augen der Weltöffentlichkeit. Denn nicht nur den in den Provinzen arbeitenden Ausländern, auch dem diplomatischen Corps in Konstantinopel entgehen die Ungeheuerlichkeiten nicht. Nach den Massenverhaftungen des 24. April spricht der deutsche Botschafter, Hans Freiherr von Wangenheim, bei Talaat Pascha vor, dem Innenminister des Osmanischen Reiches. Der rechtfertigt sich:
"Unter den Armeniern befindet sich eine Reihe von politisch nicht ganz sicheren Persönlichkeiten, die im Falle einer ungünstigen Wendung des Krieges die Gelegenheit zu Unruhestiftungen ergreifen könnten. "
Obwohl Wangenheim fast täglich die Einzelheiten der Verbrechen an den Armeniern nach Berlin kabelt, weigert sich die kaiserliche Regierung, sich in die inneren Angelegenheiten des Verbündeten einzugreifen.
"Die deutsche Regierung hat sich an ihre eigenen Militärmaxime und –strategien gehalten, ..."
Hermann Goltz, Theologieprofessor in Halle und Experte der Geschichte des armenischen Völkermordes,
"... berühmt ist ja inzwischen das Diktum des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg, der auf eine Forderung des deutschen Botschafters an den Rand von dessen Bericht schrieb: Es hat keinen Sinn, das Bündnis mit der Türkei in diesem Moment des Krieges zu zerstören. Wir müssen die Türken an unserer Seite halten, auch wenn Armenier darüber zugrunde gehen."
Auch der Botschafter der Vereinigten Staaten, Henry Morgenthau, fertigt exakte Berichte über den Völkermord an und übermittelt sie nach Washington, stets mit der Bitte, dem Morden Einhalt zu gebieten. Aber außer diplomatischen Noten zu senden, handeln auch US-Amerikaner nicht. Briten und Franzosen sind Krieg führende Parteien und müssen um eigene Landsleute fürchten, die noch in Konstantinopel leben und von der Osmanischen Regierung als Geiseln genommen werden können. Als Botschafter Henry Morgenthau beim General und Kriegsminister Enver Pascha vorspricht, gibt der ihm einen Einblick in seine paranoide Gedankenwelt.
"Unsere Erfahrung mit Revolutionen hat uns gelehrt, die Armenier zu fürchten. Wenn 200 Türken die Regierung stürzen können, dann schaffen das auch einige hundert intelligente, gebildete Armenier."
Enver Pascha selbst war es, der 1908 mit seinen "Jungtürken", einer nationaltürkischen Partei westlicher Prägung, staatsstreichartig den Einfluss des Sultans zurückdrängte und die Herrschaft an sich riss. Er schließt also hier ausschließlich von sich selbst auf andere. Während türkische Nationalisten bis heute behaupten, es hätte eine armenische Verschwörung gegeben, gilt dies unter seriösen Historikern als widerlegt. Ganz im Gegenteil: Die Armenier verstanden sich als eines der staatstragenden Völker des Osmanischen Reiches. Ihr enges Zusammenleben mit den Türken gehörte zu ihrem Selbstverständnis. Auch dies ist ein Grund dafür, dass sie, als der Völkermord begann, zu wenig Unterstützung aus dem Ausland erhielten.
Hermann Goltz: "Die Armenier hatten eigentlich keine Lobby gehabt. Sie waren ein integraler Bestandteil des Osmanischen Reiches. Sie waren auch zum großen Teil in ihrer Kultur eine unabhängige Kultur, die getragen wurde von der armenischen apostolischen Kirche. Also eine Kirche, die auch ihre Zentren im Osten hatte. Insofern wurden sie nicht unterstützt vom Westen und es waren nur ganz besondere Anlässe, die dazu führten, dass man sich im Westen für sie einsetzte."
Durch ihre christliche Prägung hatten die Armenier schon früh besondere Kontakte zum Westen. Manche von ihnen studierten in Europa, brachten technische und kulturelle Errungenschaften zurück in die Heimat. Die Entwicklung des Druckereiwesens, aber auch das Theater des Osmanischen Reiches ist von ihnen entwickelt worden. In Anatolien waren die armenischen Bauern die ersten, die Maschinen einsetzten und importierten. Als Vermittler zwischen Orient und Okzident waren sie akzeptiert und wurden auch als solche gebraucht.
Hermann Goltz: "Als der osmanische Hof sich eine Übersetzerelite erziehen musste im Sinne der Führung der internationalen Politik, wurden Armenier nach Paris geschickt und haben Armenier in Paris dann Französisch gelernt und haben dann auch als wichtige Dragomane, also Übersetzer, für das Osmanische Reich gewirkt. Das ging so weit, dass noch 1912 ein Armenier, ein berühmter Jurist des Osmanischen Reiches, Außenminister des osmanischen Reiches gewesen ist. Kurz vor dem Völkermord."
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, versuchten armenische Politiker, ihre Loyalität zu zeigen oder aber sich zumindest demonstrativ neutral zu verhalten. Da aber war der Entschluss zur "Lösung der armenischen Frage" durch die Jungtürken längst gefallen.
Immer wieder versuchte der US-amerikanische Botschafter Morgenthau auf diplomatischem Wege zu erreichen, dass die Armenier geschont würden. Und immer wieder führte er Gespräche mit Innenminister Talaat Pascha – um offen von ihm zu hören, dass die Entscheidung unumstößlich und seit langem geplant sei. Morgenthau berichtete später:
"Er erzählte mir, ich sollte nicht glauben, die Deportationen seien überhastet entschieden worden, sie seien das Ergebnis langer und sorgfältiger Beratungen. Sie hätten die unumstößliche Entscheidung getroffen, sie noch vor dem Ende des Kriegs unschädlich zu machen. Wir wollen keine Armenier mehr in Anatolien haben, sagte er. Sie können in der Wüste leben oder sonst wo."
Als Morgenthau daraufhin einen Armenier erwähnte, der keine feindlichen Gefühle gegenüber den Türken hege, antwortete Talaat:
"Nach all dem, was wir ihnen angetan haben, kann kein Armenier mehr unser Freund sein. Der Hass zwischen den beiden Rassen war so groß, dass wir sie erledigen mussten. Wir brauchen nicht mehr über sie zu sprechen. Wir sind mit ihnen fertig. Es ist vorbei."
Die deutschen Militärs duldeten die Ausrottungspolitik offen – einigen deutschen Offizieren, die an der Seite der Verbündeten kämpften, ist sogar vorgeworfen worden, sich an den Verbrechen beteiligt zu haben. Zumindest publizistisch reihte sich die deutsche Soldateska in die Hasstiraden der Jungtürken gegen die Armenier ein. Der deutsche Generalstabschef und enge vertraute von Enver Pascha, Bronsart von Schellendorf, schrieb nach dem Krieg:
"Der Armenier ist, wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit eines anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt."
Es gab in Deutschland aber auch Sympathien für die Armenier. Vor allem ein Potsdamer Pfarrer, Johannes Lepsius, setzte sich schon Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg für sie ein. Nachdem im Jahr 1896 unter Sultan Abdul Hamid II. schon einmal Massenmorde an armenischen Christen verübt worden waren, gründete Lepsius ein Hilfswerk, das in vielen Städten des Osmanischen Reiches wirkte. Sein Bericht über die Abdulhamidischen Massaker wurde ein Bestseller in Deutschland und Europa.
1915 war Lepsius in quasi-diplomatischer Mission am Bosporus. Es gelang ihm, einen Termin beim Obersten Kriegsherrn Enver Pascha zu ergattern, um dort für die Armenier Milde zu erwirken – erfolglos. Der deutsche Schriftsteller Franz Werfel hat Johannes Lepsius in seinem Roman "Die vierzig Tage de Musa Dagh", der 1933 erschien, ein Denkmal gesetzt. Ein ganzes Kapitel erzählt vom Besuch des Pfarrers bei Enver. Die Deportationen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen.
"Sie wurden mit falschen Informationen bedient", meint der General unberührt artig. "Darf ich die Herkunft Ihrer Berichte erfahren, Herr Lepsius?"
"Ich besitze Aufzeichnungen von Missionaren, die Augenzeugen der grauenhaftesten Vorgänge waren. Und schließlich empfing ich ein lückenloses Bild von der Lage durch den amerikanischen Botschafter, Mr. Morgenthau."
"Mr. Morgenthau," bemerkt Enver übermütig, "ist Jude."
"Es kommt nicht auf Morgenthau an, Exzellenz, sondern auf die Tatsachen. Die Behörden sprechen nur von Umsiedlung. Ich aber behaupte, dass dies, gelinde gesagt, ein Wortmissbrauch ist. Kann man ein Volk von Bergbauern, von Handwerkern, Städtern, Kulturmenschen mit einem Federstrich in der mesopotamischen Wüste und Steppe ansiedeln? Und selbst dieses Ziel ist doch nur eine Finte. Denn die Ortsbehörden richten die Deportationen so ein, dass die Elenden schon während der ersten acht Tagesmärsche durch Hunger, Durst, Krankheit umkommen oder wahnsinnig werden, dass man die widerstandsfähigen Knaben und Männer durch Kurden oder Banditen umbringen lässt, dass die jüngeren Mädchen und Frauen der Schändung und Verschleppung geradezu aufgedrängt werden. Sie wollen ein neues Reich gründen, Exzellenz. Doch der Leichnam des armenischen Volkes wird unter seinen Grundmauern liegen. Ließe sich nicht noch jetzt ein friedlicher Weg finden?"
Hier entblößt Enver Pascha zum ersten Mal die tiefere Wahrheit.
"Zwischen dem Menschen und dem Pestbazillus," sagt er, "gibt es keinen Frieden."
Am 27. Mai 1915 beschließt die osmanische Regierung offiziell die Deportation der Armenier. Innenminister Talaat Pascha hat die wichtigste Rolle als Organisator des Völkermords inne. Die Deportationen werden militärisch begründet, die den Russen freundlich gesinnten und den Osmanen feindlich gesinnten Armenier sollen "evakuiert" werden. Die so genannten Deportationen sind ein zynischer Euphemismus. Hunderttausende Armenier werden in Märschen in die mesopotamische Wüste getrieben, heute liegt sie im Norden des Irak. Nur die wenigsten sollten das Ziel erreichen.
"Die Armenier starben, von Kurden erschlagen, von Gendarmen beraubt, erschossen, erhängt, vergiftet, erdolcht, erdrosselt, von Seuchen verzehrt, ertränkt, erfroren, verdurstet, verhungert, verfault, von Schakalen angefressen. Kinder weinten sich in den Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen, Mütter warfen ihre Kleinen in die Brunnen, Schwangere stürzten sich in den Euphrat."
So der deutsche Schriftsteller Armin Theophil Wegner, der als Sanitätsoffizier Augenzeuge des Völkermords wurde, in einem offenen Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson.
"Ich habe Wahnsinnige gesehen, die den Auswurf ihres Leibes als Speise aßen, Frauen, die den Leib ihrer neugeborenen Kinder kochten."
Die Verbrechen an den Armeniern überstiegen alles, was die Welt an Grausamkeiten kannte. Die absolute Zahl der Todesopfer schwankt, je nach Schätzung, zwischen 300.000 und 1,5 Millionen. Fakt ist jedoch, dass nach dem Ersten Weltkrieg in Anatolien keine Armenier mehr lebten.
Bis heute leugnet die Türkei den Völkermord an den Armeniern. Dies ist umso bemerkenswerter, als Anfang der Zwanziger Jahre in der Türkei einige der Urheber des Genozids öffentlich abgeurteilt wurden. Die so genannten Unionistenprozesse in den Jahren 1919 und 1920 sind heute nahezu vergessen.
"Sie wurden nicht geführt, wie die Nürnberger Prozesse, von den Siegermächten, sondern es war ein türkisches Kriegsgericht und so kam es auch zu verschiedenen Todesurteilen gegen Kriegsverbrecher, die leitend an der Vernichtung der Armenier beteiligt gewesen sind."
Kurz darauf aber wurden die Unionistenprozesse abgebrochen. In Ankara bildete sich ab 1920 eine neue, nationalistische türkische Regierung unter Mustafa Kemal, genannt Atatürk, Vater der Türken. Von dieser Regierung wurden bald hohe Beamte angestellt, die zuvor am Völkermord an den Armeniern beteiligt gewesen waren. Die Offenheit im Umgang mit diesem Verbrechen hatte bald ein Ende. In der neuen, nationalistischen Türkei wurde der Genozid ebenso wie die Unionistenprozesse verschwiegen. Daran haben auch die Westmächte mitgewirkt. Zwar hatten sie den Armeniern zunächst in den Pariser Friedensverhandlungen einen größeren Staat versprochen. 1923 aber, im Vertrag von Lausanne, machten sie die neue Türkei, die nun auf ihre kleinasiatischen Gebiete und einen kleinen Zipfel in Europa zusammengeschrumpft war, zu einem Militärpartner im Bündnis gegen die bolschewistische Sowjetunion.
Hermann Goltz: "Die Türkei wurde gebraucht. Und die Türkei hat in diesem Sinne nie das Glück gehabt, zweimal einen Krieg verloren zu haben, was einem dann doch ermöglicht, die Wahrheit zu sagen. Die Türkei wurde als nicht unbedingt besiegter strategischer Partner benötigt. Stellen Sie sich vor, wenn dann Amerika und England 1944 gesagt hätten, wir brauchen Hitlerdeutschland zum Kampf gegen die Sowjetunion. Dann hätte es wahrscheinlich den Holocaust in dieser Weise auch nicht gegeben im Geschichtsunterricht der Großmächte."
Die Parallelen zwischen dem Völkermord der Türken an den Armeniern im Ersten Weltkrieg und dem der Deutschen an den Juden im Zweiten Weltkrieg liegen auf der Hand. Auch in dem von den Nationalsozialisten besetzten Europa waren die Umstände der Deportationen und die Bedingungen der Zwangsarbeit ein gewollter Teil der Vernichtungsmaschinerie. Hitler kannte die Details der anatolischen Katastrophe genau. Einer seiner engsten Berater war Max Erwin von Schäubner-Richter. Seit Anfang der Zwanzigerjahre kümmerte sich der Diplomat um Hitlers politische Bildung und führte ihn in die Salons der Großindustriellen ein. Während des Ersten Weltkrieges war Schäubner-Richter als deutscher Gesandter in Ostanatolien, auch ein Augenzeuge der Deportationen.
"Hier gibt es also diesen direkten, persönlichen Kontakt, der es durchaus verstehen lässt, warum Hitler dann am 22. August 1939 sich, als er seine Generalität auf dem Obersalzberg versammelt hatte, war ja kurz vor dem Angriff auf Polen, und er merkte, als er die Vernichtungspolitik in diesem Fall gegen das polnische Volk verkündete, und sagte wörtlich, wir müssen mitleidlos wie Dschingis Khan Männer, Frauen, Kinder der polnischen Rasse in den Tod schicken, damit wir im Osten Lebensraum gewinnen, da merkte er an bestimmten Punkten in seiner Generalität noch Widerstand, Bedenken, und in der darauf folgenden, mitgeschriebenen Diskussion fiel dann dieser berühmt berüchtigte Satz: Wer spricht denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?"
Anders als nach dem Holocaust hat es nach dem Völkermord an den Armeniern keine Aufarbeitung gegeben, kaum internationale Prozesse, keine Verhandlungen um die Schuldfrage oder um Wiedergutmachung. Bis heute kämpft die armenische Diaspora, die ähnlich wie die der Juden über die ganze Welt verstreut ist, um das Mindeste: die internationale Anerkennung, dass dieses Verbrechen überhaupt stattgefunden hat. Das beeinflusst das Leben der Armenier auch neunzig Jahren nach dem Genozid.
Archimandrit Serovpe Isakhanyan ist armenischer Geistlicher und Vertreter der armenischen Diözese in Berlin. Unter den Mitgliedern seiner Gemeinde sind armenische Christen aus dem Libanon, aus Syrien, aus dem Staat Armenien und dem Iran. Die Mehrheit aber stammt aus der Türkei, sie sind Nachfahren der Deportierten, jede dieser Familien hat Opfer zu beklagen.
"Diese Erinnerungen bleiben auch nach 90 Jahren wach, weil dann die Großeltern, dann Eltern und jetzt die neue Generation erzählt das weiter. Und solange das geleugnet wird, solange keine gerechte Lösung gefunden wurde, es wird auch wach bleiben und in Erinnerung bleiben."
Archimantrit Isakhanyan hat enge Kontakte in die Türkei. Viele seiner Gemeindemitglieder haben dort Verwandte, und nach wie vor residiert ein wichtiger Patriarch der armenischen apostolischen Kirche in Istanbul. Auch heute noch sind viele Armenier in der Türkei gezwungen, ihre Identität zu verbergen.
"Tag für Tag die Armenier haben Probleme mit verschiedenen Behörden, auch die Gemeindestrukturen haben Probleme mit verschiedenen Behörden, und die Armenier haben ein Doppelleben in der Türkei. Viele. Nach außen als Türken und nach innen als Armenier. Viele Armenier haben Doppelnamen. Nach außen ein türkischer Name, wir haben auch Geschäftsleute in der Türkei. Und die Türken wissen nicht, dass die Armenier sind."
Dass die Armenier, anders als die Juden, noch immer um die Anerkennung und Aufarbeitung des Völkermordes kämpfen, hat seinen Grund auch darin, dass sie erst seit relativ kurzer Zeit einen eigenen Staat haben, der ihre Interessen vertritt. Zwar existierte in der Sowjetunion schon seit den 20er Jahren eine armenische Republik. Dennoch hat Moskau bis 1991 die Fakten des Völkermordes nicht anerkannt. Bis 1965 war es verboten, den Genozid überhaupt zu erwähnen – so lange hoffte man, Ankara auf die Seite des Ostblocks zu bekommen. Seit 1965 finden alljährlich in Jerewan Gedenkfeiern an den Völkermord statt. Solange die Sowjetunion bestand, wurde jedoch jedes Jahr zum 24. April, gleichzeitig mit den Massendemonstrationen in der armenischen Teilrepublik, ein Telegramm an die türkische Regierung gesandt, in dem stand, dass Moskau daraus keine Gebietsansprüche ableiten werde. Selbst mit einem erklärten Gegner wollte man wegen der Armenier keinen Streit riskieren.
Serovpe Isakhanyan: "Erst seit 10 Jahren haben wir eine eigene Staatlichkeit. Wenn man kein Land hat, keine Staatlichkeit hat, es ist auch schwer, als Volk deine Forderungen durchzusetzen. Umgekehrt die Türkei hatte ein sehr starkes Land, alle Möglichkeiten, staatliche Möglichkeiten zu versuchen, mit verschiedenen Methoden, sowohl politischen als auch wirtschaftlichen und alle anderen Möglichkeiten, das zu verhindern."
Die Großmächte scheuen sich bis heute, den türkischen Genozid-Leugnern Paroli zu bieten. Im Jahr 2000 war der US-amerikanische Kongress kurz davor, eine Resolution zu unterschreiben, die den Genozid als historisches Faktum anerkennt. Wenige Tage vor der Abstimmung formulierte der damalige Präsident Bill Clinton einen beschwörenden Brief, in dem er die Abgeordneten aufforderte, auf den Beschluss zu verzichten, weil amerikanische Leben in Gefahr seien. Gemeint waren die Soldaten auf den Luftwaffenstützpunkten der NATO in der Türkei. Und selbst in Israel, wo die Intellektuellen durchaus mit den Armeniern sympathisieren, ist die Regierung mehr als zurückhaltend.
Hermann Goltz: "Franz Werfel war ein jüdischer Schriftsteller, die 40 Tage des Musa Dagh waren eine Bibel der Ghettokämpfer in Polen gewesen. Aber die israelische Regierung, für die hat heute der Völkermord an den Armeniern nicht stattgefunden. Sie verbietet es israelischen Ministern, darüber zu sprechen, weil man in so guten ökonomischen und militärischen Beziehungen mit Ankara ist. "
Denn Israel braucht die Türkei als Verbündeten gegen den gemeinsamen Feind Syrien. Und auch in Deutschland gelingt es bis heute türkischen Politikern, Einfluss zu nehmen. Zuletzt Anfang des Jahres 2005: In einem brandenburgischen Lehrplan war der Völkermord an den Armeniern mit einem Halbsatz erwähnt. Auf Intervention des türkischen Generalkonsuls in Berlin hatten sich der Potsdamer Ministerpräsident Platzeck und sein Bildungsminister Rupprecht zunächst bereit erklärt, den Passus zu streichen. Nach einem bundesweiten Sturm der Entrüstung revidierte Platzeck die Entscheidung.
Der Theologe Hermann Goltz, der in Potsdam im ehemaligen Wohnhaus von Johannes Lepsius ein Archiv einrichten will, erhält regelmäßig Drohungen: 200.000 Türken werden mit verdunkelten Augen auf das Lepsius-Haus in Potsdam schauen, heißt es da zum Beispiel.
"Also wir bekommen schon unmögliche Briefe aus ganz Deutschland und darüber hinaus von bestimmten türkischen Stellen. Allerdings habe ich von den Texten her, und als Theologe bin ich ein außerordentlich textkritischer Mensch, von den Texten her können Sie sehen, dass diese Briefe nach Vorgaben geschrieben sind. Wo es also bestimmte Stichpunkte gibt und dann macht jeder nach Phantasie und eigenem Wissen einen Brief daraus."
Ein Bluff, sagt Goltz, auf den deutsche Politiker aber immer wieder hereinfallen, auch mit Rücksicht auf türkischstämmige Wähler: In Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen will keine der großen Parteien auf deren Stimmen verzichten. Dabei gibt es unter den Türken selbst genügend liberale Intellektuelle, die seit Jahren eine Aufarbeitung des armenischen Völkermordes drängen. Einer von ihnen ist Taner Akcam, Historiker und Soziologe und einer der wenigen türkischen Experten des Genozids. Für ihn ist die Leugnung des Verbrechens eines der Haupthindernisse für eine Öffnung der türkischen Gesellschaft. Immer noch ist die Beseitigung der Armenier insgeheim ein Gründungsmythos, sie gilt als schmerzliche, aber notwendige Vorbedingung für die moderne Türkei.
"Ja, das haben damals die Gründer auch selbst gesagt. Wenn wir die armenischen Banditen, haben sie so formuliert, in Ostanatolien, nicht weggejagt hätten, hätten wir unsere Republik nicht gegründet. Das ist ein sehr wichtiger Satz für mich. Da hat ein Abgeordneter gesagt: Wir haben es gewagt, dass man uns als Mörder bezichtigt. Aber wir müssen das tun, für ein großes Ziel, fürs Vaterland. "
Die moderne Türkei befindet sich angesichts der Verbrechen an den Armeniern in einer Zwickmühle. Wer seine Nation auf ein Verbrechen gründet, begibt sich in heroische Isolation. Aus dieser Isolation aber will sich der westwärts gewandte Teil der türkischen Gesellschaft lieber heute als morgen befreien. Taner Akcam sagt, wichtig sei, zunächst eine Gesprächsatmosphäre zu schaffen, in der klar wird, dass das Eingestehen dessen, was damals passiert ist, kein unpatriotischer Akt ist. Die Geschichte der Holocaust-Aufarbeitung in Deutschland kann hierfür ein Beispiel geben.
"Wichtig ist, dass man ohne Emotion, ohne Aggression ohne diese große Reaktion ruhig, gelassen darüber zu diskutieren. Und dass man deutlich macht: Das ist nicht das Ende der Welt. Das ist nicht Apokalypse. Wenn man das sagt, passiert nichts. Guckt die Deutschen an! Da passiert nichts. Also, dieses Gefühl, diese Überschreitung der letzten Grenze, das müssen wir hinkriegen ziemlich vorsichtig, langsam, aber das müssen wir hinkriegen. Ich glaube, wenn man es nicht so aggressiv von draußen macht, sondern von innen das Ganze langsam irgendwie in Gang setzt, ist es auch möglich."
Auch für die Armenier kann die Vergangenheit nicht vergehen, so lange die Schuldigen nicht benannt werden, so lange den Opfern nicht einmal zugestanden wird, gelitten zu haben. Der Berliner Archimandrit Serovpe Isakhanyan ist weit davon entfernt, die Türken von heute für die Taten ihrer Vorfahren anzuklagen.
"Die heutige türkische Generation hat direkt keine Schuld. Aber Verantwortung. Verantwortung, was die Vorfahren getan haben. Verantwortung auch gegenüber der heutigen Generation. Und es ist nicht nur eine Leugnungspolitik. Es wird fortgesetzt. Ganz Ostanatolien, die armenische Gebiete waren, Tausende von armenischen Denkmälern, die gehen einfach verloren. Das ist eine Fortsetzung, eine kulturelle Fortsetzung des Genozids."
Die Türkei muss, sollte sie offen mit ihrer Geschichte umgehen, nicht ernsthaft befürchten, dass unerfüllbare Wiedergutmachungsforderungen an sie gestellt werden. Was die Armenier wollen, ist, dass die Klöster und Kirchen, die übrig gebliebenen Zeugnisse ihrer Kultur in Kleinasien gepflegt werden und dass die Türkei dazu steht, dass ihre Vergangenheit auch eine armenische ist. Auch dass die Armenier, die bis heute in der Türkei leben, dies tun können, ohne zu befürchten, für ihre gelebte Identität bestraft zu werden. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, sollte man der Türkei erlauben, der Europäischen Union beizutreten, sagt der armenische Geistliche Serovpe Isakhanyan.
"Die Europäische Union, die Weltgemeinschaft soll Druck ausüben, dass die Türkei die historische Wahrheit, die historisch bewiesenen Tatsachen – das ist eine historisch bewiesene Tatsache, der Völkermord an den Armeniern – anzuerkennen. Nur durch diesen Weg kann die Türkei in dieser Europäischen Gemeinschaft einen eigenen und richtigen Platz finden."
Die Amerikanerin Grace Highly Knapp schreibt diese Zeilen im Herbst 1915. Sie hatte in der ostanatolischen Provinzhauptstadt Wan in einer Missionsstation gearbeitet. Bis zum Ersten Weltkrieg war die Stadt einer der Mittelpunkte armenischen Lebens im Osmanischen Reich.
"Die ummauerte Stadt wurde von einer Felsenburg beherrscht, einem Felsen, der von einer alten Festungsanlage gekrönt war und auf seiner dem See zugewandten Flanke berühmte Keilschriften aufwies. Die Gärten erstreckten sich von der Stadt über vier Meilen ostwärts. Die Einwohnerzahl belief sich auf 50.000; davon waren drei Fünftel Armenier, zwei Fünftel Türken."
Grace Knapp ist, während sie in ihren Erinnerungen festhält, auf der Flucht vor den osmanischen Truppen. Während sie sich mit anderen Ausländern über Tiflis und Sankt Petersburg in die Vereinigten Staaten durchschlägt, lebt in Wan, der einstigen Residenz des antiken armenischen Königs Tigranes des Großen, kein einziger Armenier mehr.
Ostanatolien ist nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges umkämpft zwischen türkischen und russischen Truppen. Der Zar hatte das Gebiet jenseits des Wan-Sees besetzen lassen. Auf russischer Seite kämpften auch armenische Freiwilligenbataillone. Immer wieder gab es Gerüchte von irregulären Einheiten, die hinter der Front Gräueltaten an Muslimen begingen – Grund genug für Racheaktionen kurdischer Freischärler, die, nachdem sich die russischen Truppen im Winter 1914/15 wieder zurückgezogen hatten, christliche Dörfer überfielen, plünderten, vergewaltigten und mordeten. Je mehr Flüchtlinge in die Stadt Wan drängten, je mehr Geschichten über Massaker zu hören waren, desto ängstlicher wurde die armenische Bevölkerung. Mitte April 1915 verbarrikadierte sie sich in ihren Stadtvierteln. Die türkische Armee belagerte die Stadt, aber die Verteidiger waren nicht bereit, so genannte armenische Deserteure auszuliefern. Am 20. April entwickelte sich aus einer Schießerei in wenigen Minuten der Kampf um Wan.
"Selten habe ich mit solcher Wut kämpfen sehen,"
berichtet Rafael de Nogales, ein venezolanischer Offizier in türkischen Diensten, später.
"Pardon wurde weder gefordert noch gegeben. Wer in die Hand des Feindes fiel, war ein toter Mann. Gebäude, die uns in die Hände fielen, wurden auf der Stelle in Brand gesteckt."
Trotz der eher provisorischen Bewaffnung der Armenier gelang es der türkischen Armee nicht, die Stadt einzunehmen – auch weil während der Belagerung immer mehr Flüchtlinge aus den Dörfern in die Stadt strömten. Die Amerikanerin Grace Knapp schreibt:
"Während der Zeit der Belagerung hausten die türkischen Soldaten und ihre Gesellen, die wilden Kurden, fürchterlich in der ganzen Umgebung. Sie massakrierten Männer, Frauen und Kinder und brannten ihre Heimstätten nieder."
Der Aufstand der Armenier von Wan ist die Dolchstoßlegende der Türkei. Bis heute soll mit ihr bewiesen werden, dass das Osmanische Reich einen inneren Feind hatte, den es zu bekämpfen galt. Die Stadt Wan ist im Laufe der Kampfhandlungen komplett zerstört worden. Heute ist sie an anderer Stelle wieder aufgebaut worden. Dennoch: Die Mehrheit der Verteidiger konnte zumindest ihr Leben retten, als sie Monate später mit den russischen Truppen fliehen mussten - anders als geschätzte 1,5 Millionen Armenier im Osmanischen Reich.
Als die Nachrichten von den Kämpfen um Wan in Konstantinopel eintrafen, ausgerechnet an dem Tag, an dem die alliierte Landung in Kleinasien begann, wurde dies umgehend als Vorwand genommen, um ein Exempel an den in der Hauptstadt lebenden Armeniern zu statuieren. Eine armenische Augenzeugin erinnert sich später:
"Eines Tages, 1915, Mitte April, 24., glaube ich, lagen wir im Bett, und auf einmal wurde geschossen. Und das nahm kein Ende. Wir wussten nicht, was da los war. Mein Vater hat uns geweckt, wir sind alle aufgestanden, und er hat uns versteckt, bis früh sind wir im Versteck geblieben, und auf einmal haben wir gehört, dass das ganze armenische Viertel umzingelt war und das waren die Türken, die da geschossen hatten. Und dann haben die angefangen, die Männer zu sammeln. Haben die Männer gefangen und alle ins Gefängnis gebracht."
Es trifft in dieser Nacht die einflussreichen und wohlhabenden Armenier des Osmanischen Reiches – Geschäftsleute, Politiker, Journalisten, Ärzte, Wissenschaftler. Die Männer werden zunächst nach Angora deportiert – ein Dorf, das später Ankara genannt werden wird. Viele sterben auf dem Transport. Als diese Ereignisse später vor einem Berliner Schwurgericht verhandelt werden, erinnert sich der armenische Bischof Krikoris Balakian:
"Wir wurden 36 Stunden per Bahn befördert bis nach Angora. Ungefähr 190 Männer wurden nach Tschangere verbannt, 24 Stunden von Angora entfernt. Diese wurden später in kleinen Karawanen von ungefähr 25, 15, fünf Personen wieder nach Angora deportiert und dort totgeschlagen. Nur 16 von diesen 190 Personen blieben übrig, wurden verschont."
Der 24. April ist bis heute der Gedenktag des Völkermordes an den Armeniern. Denn von diesem Tag an wurde das rücksichtslose Vorgehen der türkischen Armee gegen die Armenier nicht mehr verschleiert. Die Führung erklärte nun öffentlich, dass die türkische Nation einen Existenzkampf gegen eine Übermacht von Feinden zu führen habe. Nicht nur die Armenier, auch andere christliche Minderheiten standen unter dem Generalverdacht der Kollaboration mit den Alliierten. Auch viele griechische Dörfer entlang des Marmarameeres wurden evakuiert.
Der Genozid an den Armeniern hatte schleichend begonnen, schon Monate vorher.
Nachdem das Osmanische Reich 1914 an der Seite des Deutschen Kaiserreichs und der österreichisch ungarischen Monarchie in den Ersten Weltkrieg gezogen war, hatte es alle Soldaten zu den Waffen gerufen, neben den muslimischen auch die christlichen – was erst seit der Entmachtung des Sultans durch die Jungtürken im Jahr 1908 möglich war. Doch spätestens ab Mitte Januar 1915 wurden die armenischen Soldaten, die ohnehin keine höheren Offiziere stellten, entwaffnet und in Arbeitsbataillone gesteckt: Sie mussten Wege bauen. Wer konnte, floh, darin unterschieden sich die armenischen Rekruten nicht von den türkischen oder kurdischen. Ihr Schicksal hing stark davon ab, wo sie dienten. In den arabischen Provinzen hatten sie eine realistische Überlebenschance. Mussten sie jedoch in Anatolien arbeiten, und das mussten die meisten, wurden sie systematisch ermordet. Aus dem Bericht der britischen Leiterin des Waisenhauses von Aintab, dem heutigen Gaziantep:
"Wir hatten schon erfahren, dass man die Männer eine Straße bauen ließ. Gleich nach Fertigstellung wurden sie entlang der Straße aufgestellt und getötet zumeist mit Messern, weil der befehlshabende Offizier seinen Soldaten gesagt hatte, ihr Pulver nicht für Armenier zu verschwenden."
Von Anfang an geschieht der Völkermord an den Armeniern unter den Augen der Weltöffentlichkeit. Denn nicht nur den in den Provinzen arbeitenden Ausländern, auch dem diplomatischen Corps in Konstantinopel entgehen die Ungeheuerlichkeiten nicht. Nach den Massenverhaftungen des 24. April spricht der deutsche Botschafter, Hans Freiherr von Wangenheim, bei Talaat Pascha vor, dem Innenminister des Osmanischen Reiches. Der rechtfertigt sich:
"Unter den Armeniern befindet sich eine Reihe von politisch nicht ganz sicheren Persönlichkeiten, die im Falle einer ungünstigen Wendung des Krieges die Gelegenheit zu Unruhestiftungen ergreifen könnten. "
Obwohl Wangenheim fast täglich die Einzelheiten der Verbrechen an den Armeniern nach Berlin kabelt, weigert sich die kaiserliche Regierung, sich in die inneren Angelegenheiten des Verbündeten einzugreifen.
"Die deutsche Regierung hat sich an ihre eigenen Militärmaxime und –strategien gehalten, ..."
Hermann Goltz, Theologieprofessor in Halle und Experte der Geschichte des armenischen Völkermordes,
"... berühmt ist ja inzwischen das Diktum des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg, der auf eine Forderung des deutschen Botschafters an den Rand von dessen Bericht schrieb: Es hat keinen Sinn, das Bündnis mit der Türkei in diesem Moment des Krieges zu zerstören. Wir müssen die Türken an unserer Seite halten, auch wenn Armenier darüber zugrunde gehen."
Auch der Botschafter der Vereinigten Staaten, Henry Morgenthau, fertigt exakte Berichte über den Völkermord an und übermittelt sie nach Washington, stets mit der Bitte, dem Morden Einhalt zu gebieten. Aber außer diplomatischen Noten zu senden, handeln auch US-Amerikaner nicht. Briten und Franzosen sind Krieg führende Parteien und müssen um eigene Landsleute fürchten, die noch in Konstantinopel leben und von der Osmanischen Regierung als Geiseln genommen werden können. Als Botschafter Henry Morgenthau beim General und Kriegsminister Enver Pascha vorspricht, gibt der ihm einen Einblick in seine paranoide Gedankenwelt.
"Unsere Erfahrung mit Revolutionen hat uns gelehrt, die Armenier zu fürchten. Wenn 200 Türken die Regierung stürzen können, dann schaffen das auch einige hundert intelligente, gebildete Armenier."
Enver Pascha selbst war es, der 1908 mit seinen "Jungtürken", einer nationaltürkischen Partei westlicher Prägung, staatsstreichartig den Einfluss des Sultans zurückdrängte und die Herrschaft an sich riss. Er schließt also hier ausschließlich von sich selbst auf andere. Während türkische Nationalisten bis heute behaupten, es hätte eine armenische Verschwörung gegeben, gilt dies unter seriösen Historikern als widerlegt. Ganz im Gegenteil: Die Armenier verstanden sich als eines der staatstragenden Völker des Osmanischen Reiches. Ihr enges Zusammenleben mit den Türken gehörte zu ihrem Selbstverständnis. Auch dies ist ein Grund dafür, dass sie, als der Völkermord begann, zu wenig Unterstützung aus dem Ausland erhielten.
Hermann Goltz: "Die Armenier hatten eigentlich keine Lobby gehabt. Sie waren ein integraler Bestandteil des Osmanischen Reiches. Sie waren auch zum großen Teil in ihrer Kultur eine unabhängige Kultur, die getragen wurde von der armenischen apostolischen Kirche. Also eine Kirche, die auch ihre Zentren im Osten hatte. Insofern wurden sie nicht unterstützt vom Westen und es waren nur ganz besondere Anlässe, die dazu führten, dass man sich im Westen für sie einsetzte."
Durch ihre christliche Prägung hatten die Armenier schon früh besondere Kontakte zum Westen. Manche von ihnen studierten in Europa, brachten technische und kulturelle Errungenschaften zurück in die Heimat. Die Entwicklung des Druckereiwesens, aber auch das Theater des Osmanischen Reiches ist von ihnen entwickelt worden. In Anatolien waren die armenischen Bauern die ersten, die Maschinen einsetzten und importierten. Als Vermittler zwischen Orient und Okzident waren sie akzeptiert und wurden auch als solche gebraucht.
Hermann Goltz: "Als der osmanische Hof sich eine Übersetzerelite erziehen musste im Sinne der Führung der internationalen Politik, wurden Armenier nach Paris geschickt und haben Armenier in Paris dann Französisch gelernt und haben dann auch als wichtige Dragomane, also Übersetzer, für das Osmanische Reich gewirkt. Das ging so weit, dass noch 1912 ein Armenier, ein berühmter Jurist des Osmanischen Reiches, Außenminister des osmanischen Reiches gewesen ist. Kurz vor dem Völkermord."
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, versuchten armenische Politiker, ihre Loyalität zu zeigen oder aber sich zumindest demonstrativ neutral zu verhalten. Da aber war der Entschluss zur "Lösung der armenischen Frage" durch die Jungtürken längst gefallen.
Immer wieder versuchte der US-amerikanische Botschafter Morgenthau auf diplomatischem Wege zu erreichen, dass die Armenier geschont würden. Und immer wieder führte er Gespräche mit Innenminister Talaat Pascha – um offen von ihm zu hören, dass die Entscheidung unumstößlich und seit langem geplant sei. Morgenthau berichtete später:
"Er erzählte mir, ich sollte nicht glauben, die Deportationen seien überhastet entschieden worden, sie seien das Ergebnis langer und sorgfältiger Beratungen. Sie hätten die unumstößliche Entscheidung getroffen, sie noch vor dem Ende des Kriegs unschädlich zu machen. Wir wollen keine Armenier mehr in Anatolien haben, sagte er. Sie können in der Wüste leben oder sonst wo."
Als Morgenthau daraufhin einen Armenier erwähnte, der keine feindlichen Gefühle gegenüber den Türken hege, antwortete Talaat:
"Nach all dem, was wir ihnen angetan haben, kann kein Armenier mehr unser Freund sein. Der Hass zwischen den beiden Rassen war so groß, dass wir sie erledigen mussten. Wir brauchen nicht mehr über sie zu sprechen. Wir sind mit ihnen fertig. Es ist vorbei."
Die deutschen Militärs duldeten die Ausrottungspolitik offen – einigen deutschen Offizieren, die an der Seite der Verbündeten kämpften, ist sogar vorgeworfen worden, sich an den Verbrechen beteiligt zu haben. Zumindest publizistisch reihte sich die deutsche Soldateska in die Hasstiraden der Jungtürken gegen die Armenier ein. Der deutsche Generalstabschef und enge vertraute von Enver Pascha, Bronsart von Schellendorf, schrieb nach dem Krieg:
"Der Armenier ist, wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit eines anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt."
Es gab in Deutschland aber auch Sympathien für die Armenier. Vor allem ein Potsdamer Pfarrer, Johannes Lepsius, setzte sich schon Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg für sie ein. Nachdem im Jahr 1896 unter Sultan Abdul Hamid II. schon einmal Massenmorde an armenischen Christen verübt worden waren, gründete Lepsius ein Hilfswerk, das in vielen Städten des Osmanischen Reiches wirkte. Sein Bericht über die Abdulhamidischen Massaker wurde ein Bestseller in Deutschland und Europa.
1915 war Lepsius in quasi-diplomatischer Mission am Bosporus. Es gelang ihm, einen Termin beim Obersten Kriegsherrn Enver Pascha zu ergattern, um dort für die Armenier Milde zu erwirken – erfolglos. Der deutsche Schriftsteller Franz Werfel hat Johannes Lepsius in seinem Roman "Die vierzig Tage de Musa Dagh", der 1933 erschien, ein Denkmal gesetzt. Ein ganzes Kapitel erzählt vom Besuch des Pfarrers bei Enver. Die Deportationen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen.
"Sie wurden mit falschen Informationen bedient", meint der General unberührt artig. "Darf ich die Herkunft Ihrer Berichte erfahren, Herr Lepsius?"
"Ich besitze Aufzeichnungen von Missionaren, die Augenzeugen der grauenhaftesten Vorgänge waren. Und schließlich empfing ich ein lückenloses Bild von der Lage durch den amerikanischen Botschafter, Mr. Morgenthau."
"Mr. Morgenthau," bemerkt Enver übermütig, "ist Jude."
"Es kommt nicht auf Morgenthau an, Exzellenz, sondern auf die Tatsachen. Die Behörden sprechen nur von Umsiedlung. Ich aber behaupte, dass dies, gelinde gesagt, ein Wortmissbrauch ist. Kann man ein Volk von Bergbauern, von Handwerkern, Städtern, Kulturmenschen mit einem Federstrich in der mesopotamischen Wüste und Steppe ansiedeln? Und selbst dieses Ziel ist doch nur eine Finte. Denn die Ortsbehörden richten die Deportationen so ein, dass die Elenden schon während der ersten acht Tagesmärsche durch Hunger, Durst, Krankheit umkommen oder wahnsinnig werden, dass man die widerstandsfähigen Knaben und Männer durch Kurden oder Banditen umbringen lässt, dass die jüngeren Mädchen und Frauen der Schändung und Verschleppung geradezu aufgedrängt werden. Sie wollen ein neues Reich gründen, Exzellenz. Doch der Leichnam des armenischen Volkes wird unter seinen Grundmauern liegen. Ließe sich nicht noch jetzt ein friedlicher Weg finden?"
Hier entblößt Enver Pascha zum ersten Mal die tiefere Wahrheit.
"Zwischen dem Menschen und dem Pestbazillus," sagt er, "gibt es keinen Frieden."
Am 27. Mai 1915 beschließt die osmanische Regierung offiziell die Deportation der Armenier. Innenminister Talaat Pascha hat die wichtigste Rolle als Organisator des Völkermords inne. Die Deportationen werden militärisch begründet, die den Russen freundlich gesinnten und den Osmanen feindlich gesinnten Armenier sollen "evakuiert" werden. Die so genannten Deportationen sind ein zynischer Euphemismus. Hunderttausende Armenier werden in Märschen in die mesopotamische Wüste getrieben, heute liegt sie im Norden des Irak. Nur die wenigsten sollten das Ziel erreichen.
"Die Armenier starben, von Kurden erschlagen, von Gendarmen beraubt, erschossen, erhängt, vergiftet, erdolcht, erdrosselt, von Seuchen verzehrt, ertränkt, erfroren, verdurstet, verhungert, verfault, von Schakalen angefressen. Kinder weinten sich in den Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen, Mütter warfen ihre Kleinen in die Brunnen, Schwangere stürzten sich in den Euphrat."
So der deutsche Schriftsteller Armin Theophil Wegner, der als Sanitätsoffizier Augenzeuge des Völkermords wurde, in einem offenen Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson.
"Ich habe Wahnsinnige gesehen, die den Auswurf ihres Leibes als Speise aßen, Frauen, die den Leib ihrer neugeborenen Kinder kochten."
Die Verbrechen an den Armeniern überstiegen alles, was die Welt an Grausamkeiten kannte. Die absolute Zahl der Todesopfer schwankt, je nach Schätzung, zwischen 300.000 und 1,5 Millionen. Fakt ist jedoch, dass nach dem Ersten Weltkrieg in Anatolien keine Armenier mehr lebten.
Bis heute leugnet die Türkei den Völkermord an den Armeniern. Dies ist umso bemerkenswerter, als Anfang der Zwanziger Jahre in der Türkei einige der Urheber des Genozids öffentlich abgeurteilt wurden. Die so genannten Unionistenprozesse in den Jahren 1919 und 1920 sind heute nahezu vergessen.
"Sie wurden nicht geführt, wie die Nürnberger Prozesse, von den Siegermächten, sondern es war ein türkisches Kriegsgericht und so kam es auch zu verschiedenen Todesurteilen gegen Kriegsverbrecher, die leitend an der Vernichtung der Armenier beteiligt gewesen sind."
Kurz darauf aber wurden die Unionistenprozesse abgebrochen. In Ankara bildete sich ab 1920 eine neue, nationalistische türkische Regierung unter Mustafa Kemal, genannt Atatürk, Vater der Türken. Von dieser Regierung wurden bald hohe Beamte angestellt, die zuvor am Völkermord an den Armeniern beteiligt gewesen waren. Die Offenheit im Umgang mit diesem Verbrechen hatte bald ein Ende. In der neuen, nationalistischen Türkei wurde der Genozid ebenso wie die Unionistenprozesse verschwiegen. Daran haben auch die Westmächte mitgewirkt. Zwar hatten sie den Armeniern zunächst in den Pariser Friedensverhandlungen einen größeren Staat versprochen. 1923 aber, im Vertrag von Lausanne, machten sie die neue Türkei, die nun auf ihre kleinasiatischen Gebiete und einen kleinen Zipfel in Europa zusammengeschrumpft war, zu einem Militärpartner im Bündnis gegen die bolschewistische Sowjetunion.
Hermann Goltz: "Die Türkei wurde gebraucht. Und die Türkei hat in diesem Sinne nie das Glück gehabt, zweimal einen Krieg verloren zu haben, was einem dann doch ermöglicht, die Wahrheit zu sagen. Die Türkei wurde als nicht unbedingt besiegter strategischer Partner benötigt. Stellen Sie sich vor, wenn dann Amerika und England 1944 gesagt hätten, wir brauchen Hitlerdeutschland zum Kampf gegen die Sowjetunion. Dann hätte es wahrscheinlich den Holocaust in dieser Weise auch nicht gegeben im Geschichtsunterricht der Großmächte."
Die Parallelen zwischen dem Völkermord der Türken an den Armeniern im Ersten Weltkrieg und dem der Deutschen an den Juden im Zweiten Weltkrieg liegen auf der Hand. Auch in dem von den Nationalsozialisten besetzten Europa waren die Umstände der Deportationen und die Bedingungen der Zwangsarbeit ein gewollter Teil der Vernichtungsmaschinerie. Hitler kannte die Details der anatolischen Katastrophe genau. Einer seiner engsten Berater war Max Erwin von Schäubner-Richter. Seit Anfang der Zwanzigerjahre kümmerte sich der Diplomat um Hitlers politische Bildung und führte ihn in die Salons der Großindustriellen ein. Während des Ersten Weltkrieges war Schäubner-Richter als deutscher Gesandter in Ostanatolien, auch ein Augenzeuge der Deportationen.
"Hier gibt es also diesen direkten, persönlichen Kontakt, der es durchaus verstehen lässt, warum Hitler dann am 22. August 1939 sich, als er seine Generalität auf dem Obersalzberg versammelt hatte, war ja kurz vor dem Angriff auf Polen, und er merkte, als er die Vernichtungspolitik in diesem Fall gegen das polnische Volk verkündete, und sagte wörtlich, wir müssen mitleidlos wie Dschingis Khan Männer, Frauen, Kinder der polnischen Rasse in den Tod schicken, damit wir im Osten Lebensraum gewinnen, da merkte er an bestimmten Punkten in seiner Generalität noch Widerstand, Bedenken, und in der darauf folgenden, mitgeschriebenen Diskussion fiel dann dieser berühmt berüchtigte Satz: Wer spricht denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?"
Anders als nach dem Holocaust hat es nach dem Völkermord an den Armeniern keine Aufarbeitung gegeben, kaum internationale Prozesse, keine Verhandlungen um die Schuldfrage oder um Wiedergutmachung. Bis heute kämpft die armenische Diaspora, die ähnlich wie die der Juden über die ganze Welt verstreut ist, um das Mindeste: die internationale Anerkennung, dass dieses Verbrechen überhaupt stattgefunden hat. Das beeinflusst das Leben der Armenier auch neunzig Jahren nach dem Genozid.
Archimandrit Serovpe Isakhanyan ist armenischer Geistlicher und Vertreter der armenischen Diözese in Berlin. Unter den Mitgliedern seiner Gemeinde sind armenische Christen aus dem Libanon, aus Syrien, aus dem Staat Armenien und dem Iran. Die Mehrheit aber stammt aus der Türkei, sie sind Nachfahren der Deportierten, jede dieser Familien hat Opfer zu beklagen.
"Diese Erinnerungen bleiben auch nach 90 Jahren wach, weil dann die Großeltern, dann Eltern und jetzt die neue Generation erzählt das weiter. Und solange das geleugnet wird, solange keine gerechte Lösung gefunden wurde, es wird auch wach bleiben und in Erinnerung bleiben."
Archimantrit Isakhanyan hat enge Kontakte in die Türkei. Viele seiner Gemeindemitglieder haben dort Verwandte, und nach wie vor residiert ein wichtiger Patriarch der armenischen apostolischen Kirche in Istanbul. Auch heute noch sind viele Armenier in der Türkei gezwungen, ihre Identität zu verbergen.
"Tag für Tag die Armenier haben Probleme mit verschiedenen Behörden, auch die Gemeindestrukturen haben Probleme mit verschiedenen Behörden, und die Armenier haben ein Doppelleben in der Türkei. Viele. Nach außen als Türken und nach innen als Armenier. Viele Armenier haben Doppelnamen. Nach außen ein türkischer Name, wir haben auch Geschäftsleute in der Türkei. Und die Türken wissen nicht, dass die Armenier sind."
Dass die Armenier, anders als die Juden, noch immer um die Anerkennung und Aufarbeitung des Völkermordes kämpfen, hat seinen Grund auch darin, dass sie erst seit relativ kurzer Zeit einen eigenen Staat haben, der ihre Interessen vertritt. Zwar existierte in der Sowjetunion schon seit den 20er Jahren eine armenische Republik. Dennoch hat Moskau bis 1991 die Fakten des Völkermordes nicht anerkannt. Bis 1965 war es verboten, den Genozid überhaupt zu erwähnen – so lange hoffte man, Ankara auf die Seite des Ostblocks zu bekommen. Seit 1965 finden alljährlich in Jerewan Gedenkfeiern an den Völkermord statt. Solange die Sowjetunion bestand, wurde jedoch jedes Jahr zum 24. April, gleichzeitig mit den Massendemonstrationen in der armenischen Teilrepublik, ein Telegramm an die türkische Regierung gesandt, in dem stand, dass Moskau daraus keine Gebietsansprüche ableiten werde. Selbst mit einem erklärten Gegner wollte man wegen der Armenier keinen Streit riskieren.
Serovpe Isakhanyan: "Erst seit 10 Jahren haben wir eine eigene Staatlichkeit. Wenn man kein Land hat, keine Staatlichkeit hat, es ist auch schwer, als Volk deine Forderungen durchzusetzen. Umgekehrt die Türkei hatte ein sehr starkes Land, alle Möglichkeiten, staatliche Möglichkeiten zu versuchen, mit verschiedenen Methoden, sowohl politischen als auch wirtschaftlichen und alle anderen Möglichkeiten, das zu verhindern."
Die Großmächte scheuen sich bis heute, den türkischen Genozid-Leugnern Paroli zu bieten. Im Jahr 2000 war der US-amerikanische Kongress kurz davor, eine Resolution zu unterschreiben, die den Genozid als historisches Faktum anerkennt. Wenige Tage vor der Abstimmung formulierte der damalige Präsident Bill Clinton einen beschwörenden Brief, in dem er die Abgeordneten aufforderte, auf den Beschluss zu verzichten, weil amerikanische Leben in Gefahr seien. Gemeint waren die Soldaten auf den Luftwaffenstützpunkten der NATO in der Türkei. Und selbst in Israel, wo die Intellektuellen durchaus mit den Armeniern sympathisieren, ist die Regierung mehr als zurückhaltend.
Hermann Goltz: "Franz Werfel war ein jüdischer Schriftsteller, die 40 Tage des Musa Dagh waren eine Bibel der Ghettokämpfer in Polen gewesen. Aber die israelische Regierung, für die hat heute der Völkermord an den Armeniern nicht stattgefunden. Sie verbietet es israelischen Ministern, darüber zu sprechen, weil man in so guten ökonomischen und militärischen Beziehungen mit Ankara ist. "
Denn Israel braucht die Türkei als Verbündeten gegen den gemeinsamen Feind Syrien. Und auch in Deutschland gelingt es bis heute türkischen Politikern, Einfluss zu nehmen. Zuletzt Anfang des Jahres 2005: In einem brandenburgischen Lehrplan war der Völkermord an den Armeniern mit einem Halbsatz erwähnt. Auf Intervention des türkischen Generalkonsuls in Berlin hatten sich der Potsdamer Ministerpräsident Platzeck und sein Bildungsminister Rupprecht zunächst bereit erklärt, den Passus zu streichen. Nach einem bundesweiten Sturm der Entrüstung revidierte Platzeck die Entscheidung.
Der Theologe Hermann Goltz, der in Potsdam im ehemaligen Wohnhaus von Johannes Lepsius ein Archiv einrichten will, erhält regelmäßig Drohungen: 200.000 Türken werden mit verdunkelten Augen auf das Lepsius-Haus in Potsdam schauen, heißt es da zum Beispiel.
"Also wir bekommen schon unmögliche Briefe aus ganz Deutschland und darüber hinaus von bestimmten türkischen Stellen. Allerdings habe ich von den Texten her, und als Theologe bin ich ein außerordentlich textkritischer Mensch, von den Texten her können Sie sehen, dass diese Briefe nach Vorgaben geschrieben sind. Wo es also bestimmte Stichpunkte gibt und dann macht jeder nach Phantasie und eigenem Wissen einen Brief daraus."
Ein Bluff, sagt Goltz, auf den deutsche Politiker aber immer wieder hereinfallen, auch mit Rücksicht auf türkischstämmige Wähler: In Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen will keine der großen Parteien auf deren Stimmen verzichten. Dabei gibt es unter den Türken selbst genügend liberale Intellektuelle, die seit Jahren eine Aufarbeitung des armenischen Völkermordes drängen. Einer von ihnen ist Taner Akcam, Historiker und Soziologe und einer der wenigen türkischen Experten des Genozids. Für ihn ist die Leugnung des Verbrechens eines der Haupthindernisse für eine Öffnung der türkischen Gesellschaft. Immer noch ist die Beseitigung der Armenier insgeheim ein Gründungsmythos, sie gilt als schmerzliche, aber notwendige Vorbedingung für die moderne Türkei.
"Ja, das haben damals die Gründer auch selbst gesagt. Wenn wir die armenischen Banditen, haben sie so formuliert, in Ostanatolien, nicht weggejagt hätten, hätten wir unsere Republik nicht gegründet. Das ist ein sehr wichtiger Satz für mich. Da hat ein Abgeordneter gesagt: Wir haben es gewagt, dass man uns als Mörder bezichtigt. Aber wir müssen das tun, für ein großes Ziel, fürs Vaterland. "
Die moderne Türkei befindet sich angesichts der Verbrechen an den Armeniern in einer Zwickmühle. Wer seine Nation auf ein Verbrechen gründet, begibt sich in heroische Isolation. Aus dieser Isolation aber will sich der westwärts gewandte Teil der türkischen Gesellschaft lieber heute als morgen befreien. Taner Akcam sagt, wichtig sei, zunächst eine Gesprächsatmosphäre zu schaffen, in der klar wird, dass das Eingestehen dessen, was damals passiert ist, kein unpatriotischer Akt ist. Die Geschichte der Holocaust-Aufarbeitung in Deutschland kann hierfür ein Beispiel geben.
"Wichtig ist, dass man ohne Emotion, ohne Aggression ohne diese große Reaktion ruhig, gelassen darüber zu diskutieren. Und dass man deutlich macht: Das ist nicht das Ende der Welt. Das ist nicht Apokalypse. Wenn man das sagt, passiert nichts. Guckt die Deutschen an! Da passiert nichts. Also, dieses Gefühl, diese Überschreitung der letzten Grenze, das müssen wir hinkriegen ziemlich vorsichtig, langsam, aber das müssen wir hinkriegen. Ich glaube, wenn man es nicht so aggressiv von draußen macht, sondern von innen das Ganze langsam irgendwie in Gang setzt, ist es auch möglich."
Auch für die Armenier kann die Vergangenheit nicht vergehen, so lange die Schuldigen nicht benannt werden, so lange den Opfern nicht einmal zugestanden wird, gelitten zu haben. Der Berliner Archimandrit Serovpe Isakhanyan ist weit davon entfernt, die Türken von heute für die Taten ihrer Vorfahren anzuklagen.
"Die heutige türkische Generation hat direkt keine Schuld. Aber Verantwortung. Verantwortung, was die Vorfahren getan haben. Verantwortung auch gegenüber der heutigen Generation. Und es ist nicht nur eine Leugnungspolitik. Es wird fortgesetzt. Ganz Ostanatolien, die armenische Gebiete waren, Tausende von armenischen Denkmälern, die gehen einfach verloren. Das ist eine Fortsetzung, eine kulturelle Fortsetzung des Genozids."
Die Türkei muss, sollte sie offen mit ihrer Geschichte umgehen, nicht ernsthaft befürchten, dass unerfüllbare Wiedergutmachungsforderungen an sie gestellt werden. Was die Armenier wollen, ist, dass die Klöster und Kirchen, die übrig gebliebenen Zeugnisse ihrer Kultur in Kleinasien gepflegt werden und dass die Türkei dazu steht, dass ihre Vergangenheit auch eine armenische ist. Auch dass die Armenier, die bis heute in der Türkei leben, dies tun können, ohne zu befürchten, für ihre gelebte Identität bestraft zu werden. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, sollte man der Türkei erlauben, der Europäischen Union beizutreten, sagt der armenische Geistliche Serovpe Isakhanyan.
"Die Europäische Union, die Weltgemeinschaft soll Druck ausüben, dass die Türkei die historische Wahrheit, die historisch bewiesenen Tatsachen – das ist eine historisch bewiesene Tatsache, der Völkermord an den Armeniern – anzuerkennen. Nur durch diesen Weg kann die Türkei in dieser Europäischen Gemeinschaft einen eigenen und richtigen Platz finden."