"Das sind Betonköpfe"

Anton Bosch im Gespräch mit Jürgen König |
Die Aufarbeitung der Gulag-Vergangenheit sei von den Nachfahren der Täter unerwünscht, sagt der Historiker Anton Bosch angesichts der Beschlagnahmung von Forschungsmaterial zum ersten sowjetischen KZ durch den russischen Geheimdienst.
Jürgen König: Im Norden Russlands, auf den Solowezki-Inseln, 250 Kilometer weit draußen im Weißen Meer, da stand die Keimzelle des Gulags, das erste Konzentrationslager der Sowjetunion. Zehntausende starben hier, unter ihnen politische Häftlinge, Kriegsgefangene, Russlanddeutsche. Wer die Opfer sind – man weiß es nicht. Wer die deutschen Opfer waren, das wollten herausfinden: das Deutsche Rote Kreuz, der Historische Forschungsverein der Deutschen aus Russland, die Universität Archangelsk und das dortige Innenministerium. Ein Vertrag wurde geschlossen mit dem russischen Historiker Michail Suprun, ein international renommierter Historiker, geboren 1955. Ihm wollte das Innenministerium die Archive öffnen. Geplant war auch, die Forschungsergebnisse zu veröffentlichen in einem Buch der Erinnerung, zunächst über die Russlanddeutschen, dann über deutsche Kriegsgefangene. Aber ungestört arbeiten konnten Michail Suprun und seine Studenten nicht. Der Geheimdienst schaltete sich ein, es kam zu etlichen Beschlagnahmungen, Verhören, zwei Anklagen gegen Suprun wurden erhoben wegen Weitergabe vertraulicher Informationen und wegen Anstiftung eines Staatsbeamten zur Überschreitung seiner Dienstbefugnisse. Wer hinter all dem steht – auch das weiß man nicht. Mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Historischen Forschungsvereins, mit dem Historiker Anton Bosch, wollen wir jetzt sprechen. Guten Tag, Herr Bosch!

Anton Bosch: Guten Tag!

König: Sie beschäftigen sich seit Jahren mit der Materie, sind seit drei Jahren Berater des Forschungsprojektes von Michail Suprun. Wann haben Sie das letzte Mal mit ihm gesprochen?

Bosch: Vorgestern Abend gegen 20 Uhr habe ich ihn in der Leitung gehabt.

König: Und wie geht es ihm, was ist der Stand der Dinge?

Bosch: Ja, der Stand der Dinge ist allgemein bekannt, wird in den letzten Tagen sowohl in der russischen als auch in der deutschen Presse beschrieben: Er selbst hat Mut gefasst und hat mir versichert, dass er bereit ist, den Prozess zu durchstehen, aber auch zu gewinnen, nachdem er in St. Petersburg Informationen bekommen hat, dass dort die örtliche Memorial-Gesellschaft einen ähnlichen Prozess Anfang dieses Jahres bereits gewonnen hat und ihre Computer und Zubehör zurückbekommen hat.

König: Also, Michail Suprun ist einer der Vorkämpfer dieser Bürgerrechtsbewegung "Memorial", und auch da waren Dokumente beschlagnahmt worden. Es kam zum Prozess, den hat "Memorial", "Memorial St. Petersburg" muss man sagen, gewonnen. Das heißt, Michail Suprun hat jetzt auch einen Anwalt und will die Sache durchkämpfen?

Bosch: Er möchte den gleichen Anwalt, der in St. Petersburg den Prozess gewonnen hat, für sich gewinnen in Archangelsk, da laufen jetzt Gespräche mit ihm, um ihn dorthin zu holen beziehungsweise für die Sache zu gewinnen.

König: Es war hier zu lesen, Herr Bosch, dass praktisch alle Forschungsergebnisse, die Michail Suprun bisher gewinnen konnte, beschlagnahmt worden seien vom Geheimdienst. Ist das so? Ich meine, das muss für einen Historiker ja absolut verheerend sein, so etwas.

Bosch: So ist es, nicht nur jetzt alle Ergebnisse, also Informationen, die jetzt nach diesem Vertrag gesammelt worden sind von ihm persönlich und seinen Studenten und auch einer Doktorandin, der Frau [Anm. d. Red.: Auslassung, da unverständlich], sondern auch seine persönlichen Sammlungen – wie er wörtlich sagte, die "Sammlungen meines Lebens" – sind beschlagnahmt und weggeschafft worden. Und er steht jetzt da praktisch ohne nichts. Also, auch wichtige, historische Dokumente, die er woanders früher gesammelt hat und die auch jetzt Gegenstand seiner Forschungen, seiner Publikationen sind, sind weggeschafft worden. Ich muss hinzufügen, dass … Es haben zwei Beschlagnahmungen stattgefunden und auch Hausdurchsuchungen bei ihm zu Hause, auch auf der Arbeit, im Büro der Universität. Aber jetzt zeichnet sich etwas Neues ab: Nachdem der Fall Suprun in der breiten Öffentlichkeit – sowohl russischen als auch deutschen – bekannt geworden ist, macht der Geheimdienst scheinbar einen Rückzieher. Nachdem er sich mit dem Inhalt der Unterlagen, der Akten bekannt gemacht hat, hat er jetzt die ganze Sache an die Staatsanwaltschaft übergeben.

König: Wie penibel, Herr Bosch, haben Stalins Behörden eigentlich damals die Lagerakten geführt, was ist da alles zu entdecken?

Bosch: Ja, darin ist sehr viel Information enthalten, für jede Person sind ungefähr 30 bis 32 Daten erfasst worden wie Name, Vorname, Vaters Name, Geburtsort, Geburtstag, und, und, und, also, soziale Lage, Familie, dann auch, welche Vorwürfe man nach der damaligen sowjetischen, sogenannten Gesetzgebung ihm vorgeworfen wurden, und, und, und, auch, wann er verhaftet worden ist, nach welchen Paragrafen verurteilt worden ist, wie hoch die Strafe war, wohin er deportiert worden ist, und, und, und, bis zum Sterbetag und zum Bestattungsort.

König: Und sind auch Täternamen enthalten? Denn das könnte ja genau das sein, was jetzt auf gar keinen Fall ans Licht der Öffentlichkeit gelangen darf aus russischer Sicht.

Bosch: Täternamen sind natürlich in den Akten des Sicherheitsdienstes und des damaligen NKWD oder KGB, natürlich enthalten. Aber diese Namen der Täter durften nicht gesammelt werden, auf keinen Fall, sondern nur Namen und Daten der Opfer. Und das wurde ja auch in Russland laut Gesetz vom 1. Juli 1994 zur Pflicht gemacht, der Staatsanwalt, die sollte also, diese Personen, posthum die meisten, rehabilitieren und veröffentlichen, der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. So sind hunderte, tausende Bücher bereits veröffentlicht worden. Deswegen ist es unverständlich jetzt, dass man also nach dem gleichen Gesetz hier jetzt anders verfährt in St. Petersburg und Archangelsk.

König: Es gibt ja in Russland den aktuellen Trend, in Stalin vor allem den Macher zu sehen, ihn als solchen zu würdigen, als den Mann, der Russland in schweren Zeiten vorangebracht hat. Just heute beginnt in Moskau ein Prozess gegen die "Novaja Gaseta" wegen angeblicher Rufschädigung Stalins. Ist der Fall Suprun für Sie ein weiterer Beleg dafür, dass an Stalins Verbrechen nicht erinnert werden soll, darf?

Bosch: Ja, von dem Prozess "Novaja Gaseta" weiß ich nichts, kann ich nichts sagen, aber ich meine, dass jetzt Supruns Fall als zweiter nach St. Petersburg ja begonnen worden ist, das, meine ich, das ist kein Zufall, dass da ein System erkennbar wird. Vor allen Dingen, mir geht es jetzt darum: Wie geht es weiter mit unserem Vertrag? Wir stehen jetzt vor einem großen Fragezeichen. Der Professor Suprun sagte mir vorgestern, dass der Prozess wahrscheinlich wird fünf, sechs Monate dauern, er hat auch keinen Zugang hier zu seinem Arbeitsplatz und steht ohne nichts da.

König: Wovon lebt er in der Zeit?

Bosch: Ja, es ist anzunehmen, von Rücklagen, vom Sparbuch, wenn er eins hat, und sonst hat er keine Einkommen.

König: Die "Süddeutsche Zeitung" spekulierte gestern über diesen Fall, Zitat: "In den Geheimdiensten arbeiteten ganze Dynastien, die Großeltern haben Stalins Opfer in die Lager gesperrt, die Eltern nichts daraus gelernt, nun wachen die Kinder über ihr Vermächtnis", Zitat Ende. Dies also als Begründung für den Auftritt jetzt des Geheimdienstes. Was sagen Sie dazu, könnte das so gewesen sein?

Bosch: Das ist so, das ist so, das sind die Betonköpfe, die ganzen Dynastien. Übrigens, das war ja auch beim Militär so, wie auch beim Geheimdienst. Die haben kein Interesse, hier jetzt das aufzudecken, also die Taten ihrer Großväter und Väter aufzudecken. Das kann ich voll bestätigen. Da bin ich auch natürlich in anderen Projekten, die ich seit 14, 15 Jahren bearbeite, gestoßen, und nur, ja, musste man halt einen anderen Gesprächspartner, Vertragspartner dort vor Ort auswählen und dann … der vielleicht weicher gestimmt war und keine Vorfahren hatte, dann ging es wieder irgendwie weiter.

König: Vielen Dank, vielen Dank! Die Aufarbeitung der Schicksale deutscher Opfer in Stalins Gulag stößt in Russland auf Widerstände, ein Gespräch mit dem Historiker Anton Bosch vom Deutschen Historischen Forschungsverein der Deutschen aus Russland. Ich danke Ihnen!

Bosch: Vielen Dank!