"Das sind die Internetausdrucker und -wieder-Einscanner"
Wikileaks, Internetsperren, digitaler Erstschlag – 2010 schlugen die Wellen auf dem virtuellen Ozean hoch. Das sind auch Themen beim Treffen internationaler Computerfreaks in Berlin, organisiert vom legendären Chaos Computer Club.
Andreas Müller: Einer der wichtigen Redner bei diesem Kongress ist Alvar C.H. Freude, er ist Programmierer, aber auch Mitglied der Enquête-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" des Deutschen Bundestages. Unter dem Titel "Von Zensursula über Censilia bis hin zum Kindernet" blickt er auf die vergangenen zwölf Monate zurück, und das wollen wir jetzt gemeinsam tun. Ich freue mich schon. Guten Tag, Alvar C.H. Freude. Was waren denn die großen kontroversen Themen? Wikileaks taucht in der Überschrift Ihres Vortrages nicht auf, dafür die verballhornten Namen zweier Damen.
Alvar C.H. Freude: Gut, Wikileaks war jetzt ein Thema, was jetzt die letzten Wochen und Monate die Wellen hochgeschlagen hat. Ich persönlich habe mich mit diesen anderen drei Themen im Wesentlichen beschäftigt, vor allem im Rahmen des Arbeitskreises gegen Internetsperren und Zensur hatten wir ja uns sehr stark mit dem Zugangserschwerungsgesetz auseinandergesetzt, also das, was Frau von der Leyen auf den Weg gebracht hatte …
Müller: Noch als Familienministerin 2009 bereits, ja.
Freude: … als Familienmisterin damals noch, genau, und das hat ihr den Spitznamen Zensursula eingebracht. Im Frühjahr 2010 gab es dann so ein Déjà-vu, als die Frau Malmström, EU-Kommissarin, die gleiche Idee auf EU-Ebene hatte. Wir dachten, wir haben das Schlimmste überstanden in Deutschland, weil die neue Koalition sich darauf geeinigt hat, das erst mal auszusetzen, und dann kam das Gleiche aus Brüssel wieder, mit den gleichen falschen Argumenten, mit den gleichen komischen Geschichten, mit den gleichen Behauptungen, die eigentlich alle schon widerlegt waren. Und wir mussten wieder von vorne anfangen.
Müller: Aber was soll denn schlecht daran sein – und es ging ja um Seiten, die Kinderpornografie verbreiten –, was soll schlecht daran sein, solche Seiten aus dem Internet zu verbannen oder sie immerhin zu sperren?
Freude: Das Problem ist, dass diese Seiten durch die Aktionen nicht verbannt werden, sondern geduldet werden. Sie werden nur versteckt, anstatt entfernt zu werden. Und wir haben nachgewiesen, dass es sehr einfach ist, diese Webseiten aus dem Netz entfernen zu lassen, und zwar dauerhaft entfernen zu lassen. Das ist natürlich dennoch ein Katz-und-Maus-Spiel, weil sie auf neuen Ebenen wieder auftauchen, aber das Sperren, wie es Frau von der Leyen, aber auch Frau Malmström vorgesehen haben, sind letztendlich nur Versteckspiele.
Also die Webseiten werden vor denjenigen versteckt, die sie sowieso nicht anschauen, und diejenigen, die in der Szene drin sind, die kommen weiterhin drauf, weil sie wissen, wie man diese Sperren umgeht. Gleichzeitig zeigt aber die Erfahrung zum Beispiel aus Dänemark, dass auf diesen Sperrlisten, die dort schon seit Jahren aktiv sind, Webseiten jahrelang draufstehen, die ganz einfach entfernt, also gelöscht werden können.
Müller: Und warum macht das niemand?
Freude: Ja, warum macht das niemand? Der dänische Kommissar hat in einer Anhörung im Bundestag gesagt, also der zuständige Kommissar für dieses Thema hatte gesagt, ja … oder in seiner Stellungnahme geschrieben, genauer gesagt: Ja, die Erfahrung würde zeigen, die USA gehen zum Beispiel nicht gegen solche Inhalte vor, also melden sie die gar nicht mehr. Und ich hatte innerhalb von 30 Minuten geschafft, Webseiten zu löschen, die seit Jahren, seit zwei Jahren auf der dänischen Sperrliste stehen, und das ist natürlich ein Unding.
Müller: Wer hat daran denn Interesse? Also Sie sagen ja, in einer Stellungnahme des Arbeitskreises gegen Internetsperren, wo Sie auch tätig sind, dass Frau Malmström sich instrumentalisieren ließ. Wer will sie denn instrumentalisieren und warum?
Freude: Also es gibt schon seit Jahren sehr viele Interessensgruppen, die versuchen, solche Sperrsysteme durchzusetzen. Ein bekanntes Beispiel ist ein dänischer Lobbyist, der hat auch in einem belegten Zitat in Schweden gesagt: Kinderpornografie ist großartig, weil mit Kinderpornografie würde man es schaffen, Politiker dazu zu bringen, solche Sperrsysteme zu etablieren, die dann zum Beispiel die Musikindustrie für ihre eigenen Interessen nutzen kann. Und genau das ist auch in Dänemark passiert, nachdem nämlich dort entsprechende Sperrsysteme installiert waren, hat es nicht sehr lange gedauert, bis die Musikindustrie aber auch andere Interessensgruppen solche Sperren auch für ihre Zwecke instrumentalisiert haben.
Müller: Das ist Johann Slüter, dieser Lobbyist der dänischen Musikindustrie, das hat er vor drei Jahren gesagt mit dem Nebensatz, Kinderpornografie ist großartig, weil Politiker Kinderpornografie begreifen als etwas Schlimmes, das kann man dann angreifen. Heißt das im Umkehrschluss, dass Politiker oder viele Politiker gar nicht so richtig begreifen, was Internet ist, was dort vorgeht, wie es funktioniert?
Freude: Das Internet ist natürlich eine komplizierte Sache in vielen Fällen, und man muss sich erst mal intensiv damit beschäftigen. Wir haben ja so diesen geflügelten Ausdruck der "Internetausdrucker", das bezeichnet dann die Leute, die das Internet gar nicht selber kennen, nicht selber aktiv kommunizieren, nicht selber mal zum Beispiel auch eine Webseite erstellt haben, sondern das Internet eben nur aus Ausdrucken kennen. Und das geht ja teilweise noch ein paar Stufen weiter. Also ich hatte, als Frau von der Leyen ihren ersten Vorschlag gemacht hatte – das war noch im November 2008 –, hatte ich ihr gleich am ersten Tag einen offenen Brief geschrieben, und ein paar Tage später bekam ich die Antwort, und da muss man sagen: Das sind dann nicht nur die Internetausdrucker, sondern das sind die Internetausdrucker und -wieder-Einscanner, denn in der Antwort war ihr eigenes Interview aus ihrer eigenen Webseite ausgedruckt, wieder eingescannt und mir per Mail geschickt, anstatt einfach die Adresse zu nennen, wo es steht.
Ich meine, ich habe mich auf das Internet bezogen, ist ja sowieso unnötig gewesen, mir das noch mal zu schicken, aber das zeigt so ein bisschen, wie viele Leute mit dem Internet umgehen, und wie auch in der Politik häufig damit umgegangen wird. Das bessert sich von Jahr zu Jahr, es kommen ja auch jüngere Politiker nach, die dann ein bisschen mehr wissen und ein bisschen mehr Erfahrung in den Bereichen mitbringen, aber für viele Politiker ist das irgendwie so ein komisches, undefinierbares, gefährliches Ding, dieses Internet, und da muss man ja irgendwas tun. Und natürlich – Kinderpornografie oder der sexuelle Missbrauch von Kindern, wie man es korrekter bezeichnen sollte, ist eine Sache, die unbedingt zu verurteilen ist, und man muss unbedingt dagegen vorgehen, aber mit den richtigen Mitteln, und nicht, indem man eben die falschen Mittel wählt, die sogar kontraproduktiv sind.
Müller: Aber was kann man denn nun tun, um Kinder zu schützen, einmal natürlich, Missbrauchsopfer zu werden, um diesen Kinderpornomarkt weiter zu befeuern, das ist ja das eine, zum anderen aber, um sie vor bestimmten Inhalten zu schützen?
Freude: Man muss ein bisschen aufpassen: Auch wenn die Themen häufig dann zusammen behandelt werden und wir uns im Arbeitskreis gegen Internetsperren und Zensur auch mit beiden Themen beschäftigen, sind es zwei komplett verschiedene Paar Schuhe. Diese Sperrproblematik, die hilft ja nicht den Opfern direkt, sondern sie versucht, die Verbreitung zu unterbinden. Und es zeigt sich ja auch anhand der Erfahrung in den skandinavischen Ländern beispielsweise, dass das überhaupt nicht gelingt. Man muss natürlich an der Quelle dagegen vorgehen und die Inhalte an der Quelle entfernen. Die meisten Inhalte kommen über die USA und Westeuropa ...
Müller: Also nicht über diese Failed States, also diese Schurkenstaaten, wie es immer heißt, wo dann die bösen Server stehen, weil da irgendwelche Leute in diesen Schurkenstaaten Geld mit verdienen?
Freude: Genau, also in diesen Schurkenstaaten steht kein einziger dieser Server auf den einschlägigen Sperrlisten, sondern die stehen im wesentlichen in den USA, aber auch in Westeuropa, auch in Deutschland übrigens. Und da muss man dagegen vorgehen, da kann man auch dagegen vorgehen, und da müssen entsprechend Mechanismen geschaffen werden, sofern sie noch nicht da sind, dass das schnell geht.
Müller: Nun gibt es ja das Stichwort des Kindernets, und damit ist tatsächlich gemeint ein Internet, das eben auch für Kinder zugänglich sein kann, ohne dass da etwas Schlimmes passiert. Also ist das eine Möglichkeit, Kinder vor bösartigen Inhalten zu schützen? Also wir reden jetzt nicht über Kinderpornografie, sondern von mir aus Gewaltdarstellungen und Ähnliches, Obszönitäten, indem man einfach eine feine, saubere Welt schafft, eine virtuelle?
Freude: Ja, also das ist jetzt der andere Bereich, wo es dann um Jugendschutz geht und Kinderschutz, also nicht um per se illegale und weltweite geächtete Inhalte. Da haben wir eine andere Situation. Selbstverständlich können Eltern, wenn sie das denn für richtig halten, ihren Kindern sogenannte Filterprogramme installieren, die eben den Zugang zu bestimmten Webseiten verhindern. Aber Medienpädagogen sagen schon lange, dass das der falsche Weg ist, darauf den Fokus zu setzen, sondern man muss Medienpädagogik stärken und die Medienkompetenz stärken, sowohl der Eltern als auch der Lehrer, aber auch natürlich der Kinder in der Folge, wenn man die anderen stärkt. Und da gibt es natürlich ganz viele Maßnahmen, und da gibt es auch ganz viele Maßnahmen, die ohne restriktive Begleitumstände einhergehen, und die auch nicht sehr hohe Hürden für Inhaltsanbieter reinbringen.
Das ist ja die Kritik, die wir auch geäußert haben: Es ist sehr einfach, im Internet irgendwas zu publizieren, man kann mit sehr geringem finanziellen Aufwand zum Beispiel einen Blog sich einrichten und dann seine Meinung kundtun. Aber durch immer mehr neue Regelungen wird das viel komplizierter, wird das für viele Leute ein rechtliches Risiko, weil sie selber nicht abschätzen können: Ist jetzt dieser Text oder dieses Bild, was ich online stelle, für 6-, 12- oder 16-jährige Kinder oder Jugendliche erziehungsbeeinträchtigend? Denn darum ging es bei dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, dass man eine Einstufung machen muss, ob es für 6, 12, 16 oder 18 Jahre alte Kinder erziehungsbeeinträchtigend sein könnte.
Und wir hatten beim AK Zensur einen Versuch gemacht, dass wir den Nutzern einige ausgewählte Webseiten gezeigt haben und gefragt haben: Was meint ihr, für welche Altersstufe sind diese Inhalte erziehungsbeeinträchtigend? Und 80 Prozent der Einstufungen waren falsch, einige darüber, aber sehr viele auch darunter, und die meisten waren eher drunter. Und für einen Laien ist so eine Einstufung überhaupt nicht machbar, und wir kennen das ja auch aus der anderen Welt nicht. Also wir kennen es aus dem Fernsehen, ja, aber wir kennen es zum Beispiel nicht bei Zeitschriften, wir kennen es nicht bei Flugblättern und so weiter, und auch nicht bei der Unterhaltung in der Kneipe. Also da wird einfach versucht, einen Teil der Medienlandschaft, nämlich den Rundfunk, auf das Internet zu übertragen, und das Internet ist einfach viel zu vielfältig, als dass das funktionieren könnte.
Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit Alvar C.H. Freude, er ist vom Arbeitskreis gegen Internetsperren und Zensur und unter anderem auch Mitglied der Enquête-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" des Deutschen Bundestages. Kommen wir zum Kongress. "We come in Peace" ist der Untertitel dieses Jahr, also wir kommen in Frieden. Das ist natürlich ein bisschen ironisch, vermute ich mal. Was will uns das denn sagen?
Freude: Ne gute Frage. Ich glaube, das soll ein bisschen sagen, man möchte das Image des bösen Hackers loswerden, der irgendwie in fremde Systeme eindringt und da irgendwelchen Schaden anrichtet, sondern man ist der freundliche Hacker, der, wenn man über solche Fälle redet, zum Beispiel auf Sicherheitslücken aufmerksam macht und sagt, hier Leute, passt auf, wenn ihr euer System nicht dicht macht, dann kommt irgendwann jemand Böses und zeigt euch, was ihr hättet machen sollen, weil wenn dann zum Beispiel falsche Inhalte publiziert werden oder Ähnliches.
Auf der anderen Seite hat sich das Ganze ja auch ein bisschen politisiert in den letzten Jahren, also die ganze Netzgemeinschaft, wenn man das so nennen möchte, das ist auch so ein komischer Begriff, aber … versucht ja auch, auf der politischen Ebene zu sagen, hallo, wir sind auch da und hallo, wir kennen uns auch aus, wir sind nicht nur die komischen pickeligen Nerds, die den ganzen Tag Pizza essen und im Dunkeln sitzen, sondern wir können auch darüber hinaus mit euch reden und auch gute Vorschläge machen, wie man zum Beispiel Netzpolitik gestalten kann.
Müller: Das war Alvar C.H. Freude, der heute beim Chaos Communication Congress eine wichtige Rede halten wird zum Thema unter anderem Zensur im Internet, und weil das gerade jetzt passiert, haben wir das Gespräch kurz vor der Sendung aufgezeichnet.
Alvar C.H. Freude: Gut, Wikileaks war jetzt ein Thema, was jetzt die letzten Wochen und Monate die Wellen hochgeschlagen hat. Ich persönlich habe mich mit diesen anderen drei Themen im Wesentlichen beschäftigt, vor allem im Rahmen des Arbeitskreises gegen Internetsperren und Zensur hatten wir ja uns sehr stark mit dem Zugangserschwerungsgesetz auseinandergesetzt, also das, was Frau von der Leyen auf den Weg gebracht hatte …
Müller: Noch als Familienministerin 2009 bereits, ja.
Freude: … als Familienmisterin damals noch, genau, und das hat ihr den Spitznamen Zensursula eingebracht. Im Frühjahr 2010 gab es dann so ein Déjà-vu, als die Frau Malmström, EU-Kommissarin, die gleiche Idee auf EU-Ebene hatte. Wir dachten, wir haben das Schlimmste überstanden in Deutschland, weil die neue Koalition sich darauf geeinigt hat, das erst mal auszusetzen, und dann kam das Gleiche aus Brüssel wieder, mit den gleichen falschen Argumenten, mit den gleichen komischen Geschichten, mit den gleichen Behauptungen, die eigentlich alle schon widerlegt waren. Und wir mussten wieder von vorne anfangen.
Müller: Aber was soll denn schlecht daran sein – und es ging ja um Seiten, die Kinderpornografie verbreiten –, was soll schlecht daran sein, solche Seiten aus dem Internet zu verbannen oder sie immerhin zu sperren?
Freude: Das Problem ist, dass diese Seiten durch die Aktionen nicht verbannt werden, sondern geduldet werden. Sie werden nur versteckt, anstatt entfernt zu werden. Und wir haben nachgewiesen, dass es sehr einfach ist, diese Webseiten aus dem Netz entfernen zu lassen, und zwar dauerhaft entfernen zu lassen. Das ist natürlich dennoch ein Katz-und-Maus-Spiel, weil sie auf neuen Ebenen wieder auftauchen, aber das Sperren, wie es Frau von der Leyen, aber auch Frau Malmström vorgesehen haben, sind letztendlich nur Versteckspiele.
Also die Webseiten werden vor denjenigen versteckt, die sie sowieso nicht anschauen, und diejenigen, die in der Szene drin sind, die kommen weiterhin drauf, weil sie wissen, wie man diese Sperren umgeht. Gleichzeitig zeigt aber die Erfahrung zum Beispiel aus Dänemark, dass auf diesen Sperrlisten, die dort schon seit Jahren aktiv sind, Webseiten jahrelang draufstehen, die ganz einfach entfernt, also gelöscht werden können.
Müller: Und warum macht das niemand?
Freude: Ja, warum macht das niemand? Der dänische Kommissar hat in einer Anhörung im Bundestag gesagt, also der zuständige Kommissar für dieses Thema hatte gesagt, ja … oder in seiner Stellungnahme geschrieben, genauer gesagt: Ja, die Erfahrung würde zeigen, die USA gehen zum Beispiel nicht gegen solche Inhalte vor, also melden sie die gar nicht mehr. Und ich hatte innerhalb von 30 Minuten geschafft, Webseiten zu löschen, die seit Jahren, seit zwei Jahren auf der dänischen Sperrliste stehen, und das ist natürlich ein Unding.
Müller: Wer hat daran denn Interesse? Also Sie sagen ja, in einer Stellungnahme des Arbeitskreises gegen Internetsperren, wo Sie auch tätig sind, dass Frau Malmström sich instrumentalisieren ließ. Wer will sie denn instrumentalisieren und warum?
Freude: Also es gibt schon seit Jahren sehr viele Interessensgruppen, die versuchen, solche Sperrsysteme durchzusetzen. Ein bekanntes Beispiel ist ein dänischer Lobbyist, der hat auch in einem belegten Zitat in Schweden gesagt: Kinderpornografie ist großartig, weil mit Kinderpornografie würde man es schaffen, Politiker dazu zu bringen, solche Sperrsysteme zu etablieren, die dann zum Beispiel die Musikindustrie für ihre eigenen Interessen nutzen kann. Und genau das ist auch in Dänemark passiert, nachdem nämlich dort entsprechende Sperrsysteme installiert waren, hat es nicht sehr lange gedauert, bis die Musikindustrie aber auch andere Interessensgruppen solche Sperren auch für ihre Zwecke instrumentalisiert haben.
Müller: Das ist Johann Slüter, dieser Lobbyist der dänischen Musikindustrie, das hat er vor drei Jahren gesagt mit dem Nebensatz, Kinderpornografie ist großartig, weil Politiker Kinderpornografie begreifen als etwas Schlimmes, das kann man dann angreifen. Heißt das im Umkehrschluss, dass Politiker oder viele Politiker gar nicht so richtig begreifen, was Internet ist, was dort vorgeht, wie es funktioniert?
Freude: Das Internet ist natürlich eine komplizierte Sache in vielen Fällen, und man muss sich erst mal intensiv damit beschäftigen. Wir haben ja so diesen geflügelten Ausdruck der "Internetausdrucker", das bezeichnet dann die Leute, die das Internet gar nicht selber kennen, nicht selber aktiv kommunizieren, nicht selber mal zum Beispiel auch eine Webseite erstellt haben, sondern das Internet eben nur aus Ausdrucken kennen. Und das geht ja teilweise noch ein paar Stufen weiter. Also ich hatte, als Frau von der Leyen ihren ersten Vorschlag gemacht hatte – das war noch im November 2008 –, hatte ich ihr gleich am ersten Tag einen offenen Brief geschrieben, und ein paar Tage später bekam ich die Antwort, und da muss man sagen: Das sind dann nicht nur die Internetausdrucker, sondern das sind die Internetausdrucker und -wieder-Einscanner, denn in der Antwort war ihr eigenes Interview aus ihrer eigenen Webseite ausgedruckt, wieder eingescannt und mir per Mail geschickt, anstatt einfach die Adresse zu nennen, wo es steht.
Ich meine, ich habe mich auf das Internet bezogen, ist ja sowieso unnötig gewesen, mir das noch mal zu schicken, aber das zeigt so ein bisschen, wie viele Leute mit dem Internet umgehen, und wie auch in der Politik häufig damit umgegangen wird. Das bessert sich von Jahr zu Jahr, es kommen ja auch jüngere Politiker nach, die dann ein bisschen mehr wissen und ein bisschen mehr Erfahrung in den Bereichen mitbringen, aber für viele Politiker ist das irgendwie so ein komisches, undefinierbares, gefährliches Ding, dieses Internet, und da muss man ja irgendwas tun. Und natürlich – Kinderpornografie oder der sexuelle Missbrauch von Kindern, wie man es korrekter bezeichnen sollte, ist eine Sache, die unbedingt zu verurteilen ist, und man muss unbedingt dagegen vorgehen, aber mit den richtigen Mitteln, und nicht, indem man eben die falschen Mittel wählt, die sogar kontraproduktiv sind.
Müller: Aber was kann man denn nun tun, um Kinder zu schützen, einmal natürlich, Missbrauchsopfer zu werden, um diesen Kinderpornomarkt weiter zu befeuern, das ist ja das eine, zum anderen aber, um sie vor bestimmten Inhalten zu schützen?
Freude: Man muss ein bisschen aufpassen: Auch wenn die Themen häufig dann zusammen behandelt werden und wir uns im Arbeitskreis gegen Internetsperren und Zensur auch mit beiden Themen beschäftigen, sind es zwei komplett verschiedene Paar Schuhe. Diese Sperrproblematik, die hilft ja nicht den Opfern direkt, sondern sie versucht, die Verbreitung zu unterbinden. Und es zeigt sich ja auch anhand der Erfahrung in den skandinavischen Ländern beispielsweise, dass das überhaupt nicht gelingt. Man muss natürlich an der Quelle dagegen vorgehen und die Inhalte an der Quelle entfernen. Die meisten Inhalte kommen über die USA und Westeuropa ...
Müller: Also nicht über diese Failed States, also diese Schurkenstaaten, wie es immer heißt, wo dann die bösen Server stehen, weil da irgendwelche Leute in diesen Schurkenstaaten Geld mit verdienen?
Freude: Genau, also in diesen Schurkenstaaten steht kein einziger dieser Server auf den einschlägigen Sperrlisten, sondern die stehen im wesentlichen in den USA, aber auch in Westeuropa, auch in Deutschland übrigens. Und da muss man dagegen vorgehen, da kann man auch dagegen vorgehen, und da müssen entsprechend Mechanismen geschaffen werden, sofern sie noch nicht da sind, dass das schnell geht.
Müller: Nun gibt es ja das Stichwort des Kindernets, und damit ist tatsächlich gemeint ein Internet, das eben auch für Kinder zugänglich sein kann, ohne dass da etwas Schlimmes passiert. Also ist das eine Möglichkeit, Kinder vor bösartigen Inhalten zu schützen? Also wir reden jetzt nicht über Kinderpornografie, sondern von mir aus Gewaltdarstellungen und Ähnliches, Obszönitäten, indem man einfach eine feine, saubere Welt schafft, eine virtuelle?
Freude: Ja, also das ist jetzt der andere Bereich, wo es dann um Jugendschutz geht und Kinderschutz, also nicht um per se illegale und weltweite geächtete Inhalte. Da haben wir eine andere Situation. Selbstverständlich können Eltern, wenn sie das denn für richtig halten, ihren Kindern sogenannte Filterprogramme installieren, die eben den Zugang zu bestimmten Webseiten verhindern. Aber Medienpädagogen sagen schon lange, dass das der falsche Weg ist, darauf den Fokus zu setzen, sondern man muss Medienpädagogik stärken und die Medienkompetenz stärken, sowohl der Eltern als auch der Lehrer, aber auch natürlich der Kinder in der Folge, wenn man die anderen stärkt. Und da gibt es natürlich ganz viele Maßnahmen, und da gibt es auch ganz viele Maßnahmen, die ohne restriktive Begleitumstände einhergehen, und die auch nicht sehr hohe Hürden für Inhaltsanbieter reinbringen.
Das ist ja die Kritik, die wir auch geäußert haben: Es ist sehr einfach, im Internet irgendwas zu publizieren, man kann mit sehr geringem finanziellen Aufwand zum Beispiel einen Blog sich einrichten und dann seine Meinung kundtun. Aber durch immer mehr neue Regelungen wird das viel komplizierter, wird das für viele Leute ein rechtliches Risiko, weil sie selber nicht abschätzen können: Ist jetzt dieser Text oder dieses Bild, was ich online stelle, für 6-, 12- oder 16-jährige Kinder oder Jugendliche erziehungsbeeinträchtigend? Denn darum ging es bei dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, dass man eine Einstufung machen muss, ob es für 6, 12, 16 oder 18 Jahre alte Kinder erziehungsbeeinträchtigend sein könnte.
Und wir hatten beim AK Zensur einen Versuch gemacht, dass wir den Nutzern einige ausgewählte Webseiten gezeigt haben und gefragt haben: Was meint ihr, für welche Altersstufe sind diese Inhalte erziehungsbeeinträchtigend? Und 80 Prozent der Einstufungen waren falsch, einige darüber, aber sehr viele auch darunter, und die meisten waren eher drunter. Und für einen Laien ist so eine Einstufung überhaupt nicht machbar, und wir kennen das ja auch aus der anderen Welt nicht. Also wir kennen es aus dem Fernsehen, ja, aber wir kennen es zum Beispiel nicht bei Zeitschriften, wir kennen es nicht bei Flugblättern und so weiter, und auch nicht bei der Unterhaltung in der Kneipe. Also da wird einfach versucht, einen Teil der Medienlandschaft, nämlich den Rundfunk, auf das Internet zu übertragen, und das Internet ist einfach viel zu vielfältig, als dass das funktionieren könnte.
Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit Alvar C.H. Freude, er ist vom Arbeitskreis gegen Internetsperren und Zensur und unter anderem auch Mitglied der Enquête-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" des Deutschen Bundestages. Kommen wir zum Kongress. "We come in Peace" ist der Untertitel dieses Jahr, also wir kommen in Frieden. Das ist natürlich ein bisschen ironisch, vermute ich mal. Was will uns das denn sagen?
Freude: Ne gute Frage. Ich glaube, das soll ein bisschen sagen, man möchte das Image des bösen Hackers loswerden, der irgendwie in fremde Systeme eindringt und da irgendwelchen Schaden anrichtet, sondern man ist der freundliche Hacker, der, wenn man über solche Fälle redet, zum Beispiel auf Sicherheitslücken aufmerksam macht und sagt, hier Leute, passt auf, wenn ihr euer System nicht dicht macht, dann kommt irgendwann jemand Böses und zeigt euch, was ihr hättet machen sollen, weil wenn dann zum Beispiel falsche Inhalte publiziert werden oder Ähnliches.
Auf der anderen Seite hat sich das Ganze ja auch ein bisschen politisiert in den letzten Jahren, also die ganze Netzgemeinschaft, wenn man das so nennen möchte, das ist auch so ein komischer Begriff, aber … versucht ja auch, auf der politischen Ebene zu sagen, hallo, wir sind auch da und hallo, wir kennen uns auch aus, wir sind nicht nur die komischen pickeligen Nerds, die den ganzen Tag Pizza essen und im Dunkeln sitzen, sondern wir können auch darüber hinaus mit euch reden und auch gute Vorschläge machen, wie man zum Beispiel Netzpolitik gestalten kann.
Müller: Das war Alvar C.H. Freude, der heute beim Chaos Communication Congress eine wichtige Rede halten wird zum Thema unter anderem Zensur im Internet, und weil das gerade jetzt passiert, haben wir das Gespräch kurz vor der Sendung aufgezeichnet.