Das stille Abkommen mit Putin

Von Thomas Franke · 07.05.2013
Der Aufbau der Zivilgesellschaft in Russland hakt, Kritik wird beleidigt abgeblockt, die orthodoxe Kirche predigt eine mittelalterliche Moral und der Präsident belügt die Öffentlichkeit. Doch auf Dauer lässt sich die zerrissene Gesellschaft eines Riesenlandes nicht durch Druck zusammenhalten.
Es ist auf der ganzen Welt das gleiche: Die meisten Menschen möchten in Ruhe leben, sicher und in einigermaßen berechenbaren Verhältnissen. Da geht es den Russen nicht anders als Deutschen, Dänen oder Spaniern. Bei den Russen ist dies Bedürfnis zurzeit besonders stark ausgeprägt. Und das ist kein Wunder, denn: Sie sind geprägt durch die Armut und das Chaos in den 90er-Jahren.

Regionen und Gruppen, die von der Sowjetmacht autoritär und zuweilen brutal zusammengehalten worden waren, begannen auseinander zu driften.

Aus den Trümmern der kommunistischen Zeit versuchten viele, das Beste für sich herauszuholen. Die Völker des Nordkaukasus verlangten Autonomie, findige Exkomsomolzen rissen sich die Reichtümer des Landes unter den Nagel, Nationalisten und Kommunisten sammelten Verwirrte ein.

Einige gingen mit Schwung daran, das Land zu demokratisieren. Von außen kamen Hilfe und Bevormundung. Dabei war kaum Zeit, einen russischen Weg zur Demokratie zu suchen und alle mitzunehmen. Im Gegenteil: Demokratie und Liberalismus wurden damals in den Augen vieler Russen zu einem zerstörerischen Konzept, in dem jeder alles darf ohne Rücksicht auf das Allgemeinwohl.

Keine Teilhabe, keine Mitwirkung
Dann kam Putin. Er baut keine Brücken, er setzt darauf, die auseinanderstrebende Gesellschaft ruhig zu stellen. Nicht, indem er sie einbezieht. Teilhabe hat in Russland keine Tradition. Die Menschen in Russland haben keine Übung in Kompromissen. Sie haben Angst davor. Mitwirkung ist ihnen fremd, es ist nicht opportun, öffentlich Probleme zu diskutieren.

Putins Methode ist eine andere: nämlich Überregulierung. Für seine Macht setzt er auf drei Kraftfelder: auf den Sicherheitsapparat, aus dem Putin selbst stammt, auf die Milliardäre, die ihn unterstützen, und auf die orthodoxe Kirche. Die Regierungs-PR hat daraus eine einfache aber wirkungsvolle Formel entwickelt: Wer Russe ist, ist orthodox und für Putin.

Diese Formel bietet Halt – und die Illusion von Stabilität, nach der sich die Menschen sehnen. Dafür bekommt Putin Mehrheiten, auch ganz ohne Fälschung. Das stille Abkommen hat einen Preis, die Freiheit, aber mit der können viele sowieso nichts anfangen.

Was das gesellschaftlich bedeutet, wird in der Schule deutlich: Sei der Beste, aber fall nicht auf. Den Menschen in Russland wird auch heute noch von klein auf freies Denken aberzogen. Wer anders denkt, lebt oder aussieht, wird schnell für krank oder fremdbestimmt erklärt. Politisches Handeln aus einer Grundüberzeugung des Gewissens heraus, trauen die meisten Menschen in Russland dem Individuum nicht zu.

Gesellschaften entwickeln sich aber im Diskurs weiter - und das heißt, über Tabubrüche, Grenzdarstellungen, teils in moderner Kunst, teils durch politische Provokation, teils durch beides. Auf Dauer lässt sich die zerrissene Gesellschaft eines Riesenlandes nicht durch Druck zusammenhalten.

Nur ein paar aufrechte Demokraten
Und wie zerrissen sie ist, hat das letzte Jahr gezeigt. Da waren 100.000 Menschen auf der Straße. Das einzige, was sie einte, war, dass sie Putin und die herrschende Machtclique loswerden wollen. Die Abgründe innerhalb dieser Protestbewegung sind tief: Dort finden sich Nationalisten und Monarchisten ebenso wie Stalinisten oder Liberale und auch ein paar aufrechte Demokraten.

Die meisten Russen beäugten das dementsprechend skeptisch, denn es zeichnet sich ja keine Alternative zu Putin ab. Noch ein Mittel ist Putin recht: Das Schreckgespenst, Russland sei von äußeren Feinden umgeben. Ob diese alte Beschwörungsformel ausreicht, mag bezweifelt werden.

Wer auf unruhigem Boden lebt, weiß die Sicherheit zu schätzen. Das Putins herrschendes System aus Sicherheitsapparat, Geld und Kirche kommt erst ins Wanken, wenn es diese Sicherheit nicht mehr gewähren kann.

Thomas Franke studierte Politologie, Geschichte sowie Soziologie und arbeitet seit 1989 als freier Journalist. Er ist Mitgründer des Büros "texte und toene" und spezialisiert auf Ost- und Südosteuropa. Seit 2012 lebt er ständig in Russland und berichtet für DeutschlandRadio, ARD-Anstalten und die BBC.
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