Warum Belarus eine Diktatur bleibt
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Nach den mutmaßlich gefälschten Wahlen im August 2020 gehen in Belarus noch immer Tausende auf die Straßen. Aber die Chancen auf Wandel sind gering. Präsident Alexander Lukaschenko hat ein Regime aufgebaut, das kaum Abweichler produziert.
Das Zentrum von Warschau – hier treffe ich Andrei Astapovich. Er ist ein ehemaliger Ermittler der belarussischen Miliz. Jetzt lebt er in Polen, nachdem er am 16. August seinen Dienst quittierte, wegen wiederholter massiver Gewalt seiner Kollegen.
"Der dritte Fall hat das Fass zum Überlaufen gebracht", erzählt er. "Dem Teenager wurde ein Gummiknüppel in den Mund gesteckt, und er wurde gezwungen, die Hymne zu singen. Dabei wurde ihm der Kiefer gebrochen. Dann kam er im Schockzustand ins Krankenhaus. Er war nicht vernehmungsfähig. Gleichzeitig wurde gegen ihn ein Strafverfahren wegen Massenunruhen eingeleitet. Aber wegen der Misshandlung dieses 16-Jährigen wurde bis jetzt kein Verfahren eingeleitet. Ich habe das alles gesehen und miterlebt."
"Auch Untätigkeit wäre Mittäterschaft"
Andrei Astapovich hat diese Gewalt staatlicher Sicherheitskräfte in Belarus in einem Rapport aufgeschrieben und in den sozialen Netzwerken veröffentlicht.
"Mir wurde klar, dass ich da nicht mehr arbeiten kann", sagt er. "Auch Untätigkeit wäre Mittäterschaft. Die Autorität der Sicherheitsorgane ist hinüber, ich will damit nichts mehr zu tun haben. Deshalb bin ich zunächst nach Russland geflohen."
Astapovich will von Russland nach Lettland entkommen, doch er wird vom russischen FSB verschleppt. Bei der Rückführung nach Belarus kann er sich durch eine abenteuerliche Flucht absetzen, und gelangt schließlich ins westliche Ausland. Im November gründet er in Polen das Projekt "ByPol". Sein Ziel: Verbrechen des Lukaschenko-Regimes dokumentieren, um irgendwann die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.
"Zurzeit herrscht keine Rechtsstaatlichkeit", sagt er. "Das Einzige was gilt, sind die Interessen von Lukaschenko und seinen Anhängern. Die Gesetze richten sich nur gegen die Gegner des Systems."
4000 Anzeigen wegen Polizeigewalt - keine Ermittlungen
Lukaschenko selbst hat im vergangenen September den Staatsanwälten des Landes vor laufenden Kameras erklärt, dass Gesetze in der derzeitigen Lage Nebensache sind. Vergehen von Uniformierten werden verschleiert. Polizei und Justiz arbeiten dabei Hand in Hand. Diese Herangehensweise kennt Andrei Astapovich zu gut.
Keiner der inzwischen mehr als 4000 Anzeigen wegen Polizeigewalt und Folter wurde bislang nachgegangen. Ich frage den Ex-Ermittler der belarussischen Miliz, warum er selbst damals wegen des misshandelten Jugendlichen kein Ermittlungsverfahren eröffnet hat.
"Die Leitung würde so einen Fall nicht zulassen", erzählt er. "Die Vorgesetzten müssen am Ende jedes Dienstes die neuen Fälle unterschreiben. Und die würden das Papierchen dann einfach zerreißen. Im besten Fall. Oder dir wird gekündigt, auch im besten Fall. Oder es wird nach oben gemeldet - und du landest beim KGB in U-Haft."
Vermuten Sie das, oder wissen sie es? "Ich glaube, mittlerweile weiß ich es", sagt er.
Der lange Arm von Lukaschenko reicht direkt bis in alle lokalen Polizeibehörden. Das ist möglich, weil Belarus mit neun Millionen Einwohnern nicht übermäßig groß ist.
Lukaschenko ernennt jeden Polizeichef, Richter, Staatsanwalt
Und weil Lukaschenko ein System aufgebaut hat, in dem er jeden höheren Amtsträger persönlich aussucht. Auch die Chefs jeder Polizeistation:
"Der Ressortleiter entscheidet über die Einleitung eines Strafverfahrens. Und wer ernennt den Ressortleiter? Der Präsident. Er ernennt jeden einzelnen Oberst in Belarus. Sogar in einer kleinen Bezirksstadt bekommst du deinen Rang als Oberst vom Präsidenten, durch seine persönliche Anordnung. Er designiert alle: Richter, Staatsanwälte, die obersten und höheren Ränge - und natürlich fühlen sich all diese Menschen ihm persönlich verpflichtet."
Alexander Lukaschenko am 30. Dezember 2020. Der Präsident bedankt sich bei einer OMON-Einheit in Minsk: "Ich sage es Ihnen offen und ehrlich, hätten die Menschen in Uniform in jenen Augusttagen gezaudert, dann würden wir heute in einem anderen Land leben."
Vor ihm stehen schwerbewaffnete, meist in Schwarz gekleidete Spezialeinheiten, die in den vergangenen Monaten gegen die friedlichen Demonstranten mit großer Gewalt vorgingen.
"Ich werde Schulter an Schulter mit Ihnen in diesem Land stehen, bis mir der letzte OMON-Beamte sagt, dass ich verschwinden soll. Denn weder Sie noch ich haben etwas anderes als diesen Landstrich, dieses Land", so Lukaschenko.
Seit August 2020 wird er oft als "Präsident des OMON" betitelt. Die Sicherheitskräfte, die Siloviki, scheinen seine wichtigsten Unterstützer zu sein. In den 26 Jahren seiner Herrschaft hat der Sicherheitsapparat monströse Ausmaße angenommen.
Lukaschenko markiert jeden Namen, der gewählt werden soll
Den direkten Einfluss Lukaschenkos auf Polizei und Justitz bestätigt auch Ex-Funktionär Pavel Latushka, auch er seit September 2020 im polnischen Exil.
"Alle Richter, angefangen von den Bezirksgerichten bis zum Obersten Gericht werden von der einen Person ernannt", sagt er. "Das gesamte Verfassungsgericht wird von der einen Person ernannt."
Diese eine Person ist Präsident Lukaschenko. Auch Pavel Latushka gehörte lange zum Machtapparat. 25 Jahre war er im Staatsdienst – von 1995 bis zum August 2020. Er war Botschafter der Republik Belarus in Polen und in der gemeinsamen Botschaft für Frankreich, Spanien und Portugal.
Dann war er Kulturminister und zuletzt Intendant des renommierten Kupala-Theaters in Minsk. Als er sich öffentlich kritisch über die brutale Gewalt gegen Demonstranten äußerte, wurde er von diesem Posten im Theater freigestellt und gegen ihn wurde ermittelt.
"Die Angst regiert das Land"
"Das Parlament, die Abgeordneten – lassen sie uns offen reden – die werden nicht gewählt", erzählt er. "Vor den Wahlen wird für jeden Wahlbezirk eine Liste mit Kandidaten vorgelegt. Und Alexander Lukaschenko höchstpersönlich markiert die Namen derjenigen, die gewählt werden sollen mit Häkchen. Und glauben Sie mir, es ist nicht ein einziges Mal jemand anders gewählt worden. Die örtlichen Behörden tun alles, um das sicherzustellen. Die Angst regiert das Land."
Das Machtgefüge von Lukaschenko besteht zum einen aus dem treu ergebenen Sicherheitsapparat und zum anderen aus einer stark ausgebauten "Vertikale der Macht". Persönliche Loyalität ist das wichtigste Kriterium bei der Auswahl des Personals. Das weiß auch Ex-Funktionär Anatol Kotau aus Erfahrung.
"Die Staatsideologie in unserer belarussischen Realität besteht aus Treue zum Präsidenten der Republik Belarus", erklärt er. "Und zwar keinem abstrakten Präsidenten, sondern einem ganz konkreten. Treue dem obersten Oberhaupt, wie im Feudalismus. Das war´s. Das ist die Quintessenz der Ideologie. Früher fand ich diesen Witz lustig, mittlerweile mag ich nicht mehr darüber lachen, dass es nicht möglich ist, die Kartoffeln ohne die persönliche Anwesenheit des Präsidenten zu sortieren."
Ein Machtsystem wie ein Abflussrohr
Kotau war seit 2002 ununterbrochen im Staatsdienst: Er arbeitete im Außenministerium, in der Administration des Präsidenten und im Nationalen Olympischen Komitee der Republik. Im August 2020 hat er seinen Dienst quittiert. Auslöser war auch für ihn die Gewalt der Sicherheitsorgane gegen friedliche Demonstranten auf den Straßen. Kotau beschreibt das System Lukaschenko, wie er es erlebt hat.
"Es ist keine Vertikale in Form einer Pyramide, mit oberstem Chef und Unterchefs mit eigenen Kompetenzen", sagt er. "Es ist schlichtweg ein Abflussrohr, in dem alles von unten nach oben fließt, und genau so, ohne nachzudenken von oben nach unten."
An dieser Vertikale arbeitet Lukaschenko bereits seit den 90er-Jahren. Schon seit mehr als 20 Jahren münden alle Drähte im Land in seinen Händen. Auch wenn Lukaschenko viele Posten zu vergeben hat, in den letzten Jahren richtet sich seine Aufmerksamkeit vor allem auf den Sicherheitsapparat. Nicht mehr auf die Verwaltung:
"Der Staatsdienst ist weniger attraktiv als der Militärdienst oder der Dienst bei der Miliz. Im Staatsdienst sind die Löhne deutlich geringer, aber die Verantwortung ist größer, und der Staat hat keine Boni mehr. Wohnungen werden nicht mehr umsonst verteilt. Der Staatsdienst verliert seine Attraktivität."
Wer aussteigt, gerät in finanzielle Schieflage
Von Boni wie günstigen Krediten und finanziellen Zuwendungen für die Sicherheitskräfte – die Siloviki - höre ich immer wieder. Auch das ist ein Anreiz, Teil des Lukaschenko-Systems zu bleiben: Wer den Dienst quittiert, gerät dadurch später in die Klemme, denn plötzlich werden Rückzahlungen fällig.
So werden die Siloviki an den Dienstherrn gebunden. Auch in Lukaschenkos Ministerkabinett zeigt sich seine Vorliebe für Uniformträger. Das Kabinett wurde zuletzt immer weiter militarisiert, erzählt der ehemalige hochrangige Funktionär Pavel Latushka.
"Als ehemaliges Regierungsmitglied kenne ich mich aus. Ich kenne die Menschen, die an der Macht sind. Ich habe überlegt, wie viele Menschen tatsächlich Schulterklappen tragen. Man sieht in den Sitzungen: Männer in Uniform und Männer in zivil. Ich kann ihnen versichern, alle, die in zivil dasitzen, haben unter den Sakkos Sterne", erzählt er.
"Lukaschenko positioniert sich als militärischer Mensch. Er möchte gerne als Genosse Oberbefehlshaber angesprochen werden. Er möchte sich in der Position der Stärke zeigen. Armee, militärische Einheiten, Paramilitärs und Sicherheitskräfte sind Machtinstrumente, die er jederzeit einsetzen kann, ohne über die Folgen nachzudenken. Jeder Befehl wird ausgeführt. Der Verteidigungsminister hat gesagt, man solle jeden Befehl ausführen, ganz gleich, ob er verbrecherisch ist, oder nicht. Das hat alle geschockt."
Mitläufer haben Angst vor eigener Verurteilung
Siloviki und zivile Verwaltung sind gleichermaßen für die aktuelle Situation verantwortlich: Sicherheitskräfte durch Gewalt gegen Demonstranten, Verwaltungsmitarbeiter durch die Organisation der Wahlfälschungen bei der Präsidentschaftswahl. Für die Manipulationen durch Beamte und Funktionsträger gibt es zahlreiche Belege, die Verantwortlichen sind bekannt. Durch ihre Mittäterschaft sind sie in die Klemme geraten und fürchten sich vor Konsequenzen.
Auch das hält Lukaschenko an der Macht: die Angst vor der eigenen Verurteilung jedes einzelnen Mitläufers nach einem Machtwechsel. Verwaltung und Sicherheitskräfte können sich nur in Sicherheit wähnen, wenn Lukaschenko an der Macht bleibt.
"Ich bin einmal in Lukaschenkos Flugzeug mitgeflogen", erzäht der ehemalige Funktionär. "Es gibt nur 50 Plätze. Wenn die Situation X kommt, und sie wird kommen, wird er nur seine Familie und die allernächsten mitnehmen können. Alle anderen werden nicht in das Flugzeug passen. Sie haben ihre Hände mit Blut besudelt. Im übertragenen Sinne, aber auch wörtlich. Aber sie verstehen, dass in diesem Flugzeug kein Platz für sie ist. So sind sie bis zum Ende an diese Macht gebunden. Sie werden bis zum Schluss für Lukaschenko kämpfen. Sie haben keinen anderen Ausweg. Diese Chance haben sie sich verbaut."
Aktivisten im Ausland ermitteln und dokumentieren
Der Frühstücksraum eines Hotels in Vilnius – Litauens Hauptstadt. Auch hier versammelt sich die belarussische Opposition im Exil. Mittags ist hier nichts los, also wurde der Raum zum Konferenzraum umgestaltet. Eine Aktivistin von den sogenannten "Ehrlichen Menschen" leitet eine Zoomkonferenz mit zwei IT-Entwicklern, die gerade Sicherheitsfragen diskutieren.
Entwickelt werden soll ein Chat-Bot, mit dessen Hilfe sich Mitarbeiter der staatlichen Strukturen in Belarus melden können, wenn sie aussteigen wollen oder wenn sie bestimmte Informationen preisgeben möchten.
Das soll helfen, Lukaschenkos staatliches Systemgefüge von innen zu zerrütten, erzählt Lena: "Schau mal, das kann sich in Zukunft zu einer großen Sache entwickeln, mit der Übernahme von Kadern aus dem jetzigen System in das neue. Vielleicht sind es die untersten Kader eines regionalen Exekutivkomitees, vielleicht aber auch Minister."
Das Projekt "Dialog mit dem Volk" wurde Ende Oktober gestartet. Bis Januar kamen über den Chat-Bot mehr als 10.000 Antworten, mehr als 3000 davon nachweislich von Behördenmitarbeitern.
Auch von den Sicherheitskräften gibt es viele Informationen, erzählt Andrei Astapovich in Warschau. Der Ex-Ermittler und Gründer des "ByPol"-Projekts sagt, dass mehr als 1000 Mitarbeiter der Sicherheitskräfte während und nach der Wahlkampagne den Dienst quittierten: Viele davon hätten Belarus verlassen:
"Ich habe mich geäußert und musste fliehen. Worüber kann man hier noch reden. Darum geht auch der Kampf gerade: Alle Menschen sollen vor dem Gesetz gleich sein, wie es in unserer Verfassung steht."
Verbrechen und Zeugenaussagen protokolliert
"ByPol" protokolliert Verbrechen und Zeugenaussagen. Whistleblower spielen hier eine große Rolle. Sie liefern Mitschnitte von Gesprächen und Telefonaten. Es gibt einige Videos mit belastenden Aufnahmen, die von den Bodycams der Schlägertrupps stammen. Während die Polizei im Land ihre Verbrechen vertuscht, wird von außen ermittelt.
"Wir sind in der Lage, Daten zu sammeln und ihre Aufbewahrung zu garantieren, eine Untersuchung durchzuführen, und das Recht der Bürger auf ehrliche und gewissenhafte Untersuchungen so umsetzen, dass zukünftig Gerichtsverhandlungen möglich sind. Wir können Beschuldigte ermitteln, und über Svetlana Tikhanovskaya, Pavel Latushka und andere Organisationen versuchen, Sanktionen gegen sie zu erwirken."