Das Theater "ist die große Liebe geblieben"
Sie sei immer wieder verblüfft und glücklich, dass es auch für junge Leute noch immer das Faszinosum Theater gebe, sagt die Berliner Bühnenverlegerin Maria Müller-Sommer. Die inzwischen 90-jährige Grande Dame der Bühnenliteratur wird heute für ihr Lebenswerk geehrt.
Joachim Scholl: Im Mai dieses Jahres ist sie 90 Jahre alt geworden, die Berliner Bühnenverlegerin Maria Müller-Sommer. Fast das Ganze 20. Jahrhundert hat sie durchlebt, und das Theater wurde ihr Leben. Sie hat Günter Grass und George Tabori für die Bühne entdeckt, Arthur Miller und Pirandello in Deutschland bekannt gemacht. Heute wird Maria Müller-Sommer geehrt für dieses, für ihr Lebenswerk ausgezeichnet mit der Rahel-Varnhagen-von-Ense-Medaille. Vor der Preisverleihung hat unser Kollege Jürgen König Maria Müller-Sommer besuchen und sprechen können in ihrem Haus in Berlin-Dahlem, wo es sehr, sehr viele Teppiche gibt anscheinend, und deswegen klingt das jetzt ein wenig anders als im Studio, dieses Gespräch – macht Ihnen hoffentlich nichts aus.
Jürgen König: Liebe Frau Sommer, Ihr Verlag kümmert sich auch um junge Autorinnen und Autoren, und also lesen Sie nach wie vor jeden Tag dramatische Szenen, Entwürfe, Stücke. Wie beurteilen Sie die Szene heutiger Autoren, wie groß ist die Lust, für die Bühne zu schreiben, welche Fähigkeiten bringen junge Dramatiker mit – kurzum, ist es für Sie leichter geworden oder mühsamer geworden, Talente zu entdecken?
Maria Müller-Sommer: Na ja, es gibt mal die einen Schwierigkeiten, mal die anderen. Ich bin immer wieder verblüfft und glücklich, dass es offenbar immer noch das Faszinosum Theater gibt, auch eben für junge Leute, und das finde ich ganz wunderbar. Aber für junge Autoren ist das ja heute gar nicht so einfach, dann nachgespielt zu werden, und es ist immer wieder die große Frage, übrigens schon solange ich diesen Beruf ausübe, und das ist, wie Sie wissen, eine Weile, das ist immer die Schwierigkeit mit der Uraufführung, mit dem Prestige nach draußen, der Presse.
Nun haben wir heute eine sehr große Bereitschaft, sich um junge Autoren zu kümmern. Ich glaube, wir hatten im vorigen Jahr 70 Uraufführungen von jungen Autoren, es ist also märchenhaft geradezu. Aber dann ist es die Cantina oder dann ist es das Foyer im dritten Stock oder so etwas, da sind dann 30 oder 40 Plätze, und Werbung zu machen lohnt natürlich auch nicht, und dann ist das mit drei oder vier Vorstellungen erledigt.
König: Das heißt, Sie bekommen nach wie vor viele Texte zugeschickt. Junge Autoren halten das Theater offenbar noch für wichtig. Sie merken auch sofort, ob jemand schreiben kann oder nicht?
Müller-Sommer: Ja, ja, das ist dann natürlich eine Sache der Erfahrung und er Routine, muss ich schon auch sagen. Nein, man merkt es häufig doch schon am Brief, aber ebenso häufig dann eben, wenn man im Text ein bisschen blättert. Da sehen wir also dann, ob es geht oder nicht.
König: Welches sind die Themen, die junge Autorinnen und Autoren heute umtreiben?
Müller-Sommer: Also die Themen sind weit auseinander, und darüber bin ich eigentlich sehr froh. Natürlich ist jetzt im Moment Migrationsgeschichte, Arbeitsverhältnisse, auch Altersthemen, also Demografie – das liegen schon die Themen, die uns alle bewegen, bewegen eben auch die jungen Leute, wie auch nicht, und dann wird daraus was gemacht.
König: Ist Ost-West noch ein Thema in Deutschland?
Müller-Sommer: Nein, eigentlich nicht.
König: Was ja eigentlich ein gutes Zeichen wäre.
Müller-Sommer: Ja, das freut mich auch.
König: Sie leiten Ihren Verlag, die Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH seit 1950, ...
Müller-Sommer: Nein, seit 1946. Ich wurde unmittelbar nach dem Studium hierher engagiert, war zunächst Dramaturgin, und dann gingen die Besitzverhältnisse der GmbH, die selbstständig war zunächst, die gingen dann wieder an den Verlag, an den Buchverlag. Der Doktor Witsch, der das machte, der wollte gleichzeitig in Berlin dann ein Verlagsbein wieder haben, der alte Kiepenheuer hat da hergewollt, ist dann nach Weimar gekommen, konnte nicht mehr, starb dann. Und dann dachte er sich, wunderbar, dann habe ich mit dem Bühnenvertrieb ein Bein in Berlin.
Und dann habe ich für ihn alles gemacht: Drucken und Papier besorgen und – ach ich weiß nicht was – Korrekturlesen mit der ganzen Familie, Tag und Nacht, und so, also von 24 Stunden 20 am Tag. Er wollte aber immer Geld haben und kriegte nicht genug, weil das also damals alles sehr, sehr schwierig war – zum Bühnenvertrieb kam ich überhaupt nicht mehr, und dann habe ich gesagt, so, ich kaufe ihn Ihnen ab, nachdem er also auch wieder mal Geld hatte haben wollen, ich hatte keinen Pfennig, und habe oft die Geschichte erzählt, dass dann mein Vater mir eben seine goldene Uhr gegeben hat, gesagt, verkauf die und sieh zu, und das Übrige habe ich mir geborgt, und dann habe ich den Verlag, also den Bühnenvertrieb gehabt. Das war 1950.
König: Und Sie haben unter anderem Jean Anouilh und Jean Giraudoux für die deutschen Bühnen entdeckt, später Günter Grass, George Tabori, sie haben Stücke ganz klassischer Machart verlegt, also Stücke, in denen eine Geschichte erzählt wird mit einem dramatischen Konflikt im Mittelpunkt zwischen Figuren, mit denen man sich identifizieren kann. Sie haben dann die Phase jener Autoren miterlebt, die dann anfing, die Texte so als Material zu behandeln, Medea-Material, berühmtes Beispiel Heiner Müller. Heute leben wir in einem Theater-Zeitalter, das man schon das postdramatische nennt. Was war das für eine Entwicklung, und wo stehen wir heute, an welchem Punkt sind wir angelangt?
Müller-Sommer: Wo wir angelangt sind, kann ich noch nicht sagen, das werden wir in drei, vier, fünf Jahren wissen. Ich sehe mit einiger Besorgnis, dass ja eben Text nicht mehr gewollt ist, sagen wir mal, sondern es gibt da eine berühmte Geschichte: Wir haben ein ganz wunderbares Stück – ich kann es sogar nennen, es heißt "Gift" – von einer holländischen Autorin, das in Münchner Kammerspielen mit aufgeführt wurde, also unter Regie von Johann Simons, eine ganz einfache Geschichte vom Lieben und Auseinandergehen und, ja, wie das Leben so ist. Aber wirklich ein Stück, das an die Menschen sehr ran kommt – wir haben es also an viele Bühnen geschickt, dachten, na ja, also das muss ja jeder sehen, und zwei Personen, toll –, und kriegten dann von einer sehr bekannten Chefdramaturgin dann einen Brief: Ich habe lange nichts gelesen, was mich so angesprochen hat, also mir so nahgegangen ist wie dieses Stück, das möchte ich so gern, dass das bei uns gemacht wird, aber ich habe das Gefühl, das ist wirklich ein Stück, bei dem man sich an den Text zu halten hat, und da finde ich ja keinen Regisseur, der das macht, nicht? Und das ist eigentlich der Unterschied, und das geht natürlich in die allgemeine Bewusstseinsänderung mit hinein, was ist das Wort, was ist der Gedanke, was ist die Sprache?
König: Das heißt, damit haben Sie mir diese Frage schon weggenommen oder vorweggenommen: Das Regietheater, bei dem auch die Regisseure sozusagen sich eines Stückes wie eines Materials bedienen, Sie halten davon gar nichts. Mein Eindruck ist, dass die Phase schon langsam wieder abklingt. Ist das so?
Müller-Sommer: Ja, es geht jetzt, ja. Es fängt wieder an, weil man so allmählich merkt, dass es doch nicht – allein, es ist nicht ... also ich meine, für uns war seinerzeit zum Beispiel Peter Brook, der ja auch das alles selbst erarbeitet hat. Der ist also nach wie vor für mich der bedeutendste Regisseur des vergangenen Jahrhunderts. Wer ihn erlebt hat, wer erlebt hat, wie er mit dem Text umgeht, wie er also dabei eben doch am Autor dran bleibt – "Hamlet", "Sommernachtstraum" und "Lear" und so weiter –, das sind Stücke, die man noch wiedererkennt, aber doch dem heutigen Empfinden angewandelt. Man weiß also, wie Kortner eben seinerzeit – bei dem man ja übrigens unter fünf Stunden nie aus dem Theater kam, nicht? –, aber wie er daran gegangen ist, auch frei, aber doch voller Respekt. Und das ist also etwas, was wir, glaube ich, brauchen.
König: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Maria Sommer. Sie ist Leiterin des Kiepenheuer Bühnenvertriebs und wird heute mit der Rahel-Varnhagen-von-Ense-Medaille ausgezeichnet. Frau Sommer, Sie sind berühmt auch dafür, dass Sie sich immer sehr für die Rechte von Autoren eingesetzt haben. Sie waren Vorsitzende des Verwaltungsrates der VG Wort, waren jahrzehntelang Sprecherin des Verbandes der Deutschen Bühnen- und Medienverlage, haben also mit den Rundfunkanstalten, mit dem Deutschen Bühnenverein verhandelt. Jetzt im digitalen Zeitalter ist es ausgesprochen schwer geworden, Urheberrechte geltend zu machen. Manche sagen, das Urheberrecht sei tot. Wie sehen Sie das?
Müller-Sommer: Also ich habe schon vor 30 Jahren gesagt, es muss sehr viel geschehen, dass das Urheberrecht erhalten bleiben kann, denn man wird dem nicht nachkommen können, was da alles passiert. Das hat sich nun inzwischen immer weiter entwickelt, ich meine, es ist jetzt doch schon eine ziemliche Katastrophe, und es ist auch eben – ich sprach vorhin von Bewusstseinsänderung. Die ist eben auch da, und wenn jeder also in die Luft pusten kann, was ihm gerade so über die Leber läuft, oder was er zu sagen hat, ich gehe jetzt gerade mal sonst wohin, oder ich habe heute noch nicht gefrühstückt oder was weiß ich, und dann sagt der, wieso sollen denn die Leute Geld dafür kriegen, ich nehme ja auch keins, nicht? Und dann kommen also diese Wahnsinnsvorschläge.
König: Es wird jetzt diskutiert, eine Flatrate einzuführen oder Warnhinweise im Netz, die sozusagen auf Urheberrechtsverletzungen aufmerksam machen und dann darauf vertrauen, dass Nutzer freiwillig für die Nutzung von urheberrechtsgeschützten Leistungen zahlen. Sie schütteln schon den Kopf – was halten Sie von solchen Vorschlägen?
Müller-Sommer: Also von der Flatrate halte ich mal überhaupt nichts, weil das dann zu Verteilungskämpfen führen wird, indem die Leute sich bis aufs Messer bekriegen werden, nicht? Das ist menschlich. Warnhinweise sind schön, warnt mal, aber dann werden wir ja sehen, was darauf passiert.
König: Aber irgendwas muss man tun.
Müller-Sommer: Also ich habe noch keine Lösung dafür. Ununterbrochen sind die sehr, sehr guten Juristen auch bei uns beschäftigt, auch in Verhandlungen vom Verlegerverband mit Verhandlungen mit den Rundfunkanstalten und auch mit dem Justizministerium, das nun allerdings auch gefordert ist, aber seit Jahr und Tag mit dem berühmten dritten Korb der Urheberrechtsreform stecken bleibt – auch sicherlich nicht aus bösem Willen, sondern weil es so schwierig ist.
König: Sie haben Ihr ganzes Leben lang mit dem Theater sich beschäftigt. Warum hängen Sie so am Theater?
Müller-Sommer: Ich bin damit aufgewachsen, auch so als Sieben- und Elfjährige im Theater gewesen, und das erste war, glaube ich, "Peterchens Mondfahrt", und dann kam "Alt-Heidelberg " oder solche Sachen, und ich war fasziniert davon und wollte eigentlich auch gern Schauspielerin oder noch lieber Regisseurin werden, weil ich merkte, dass mich, wenn ich Stücke las, immer das Ganze, das Stück, mehr interessierte als die einzelne Rolle. Aber das ergab sich damals nicht, und dann war es eben nach dem Krieg – aber, ja, ich weiß nicht, das muss in den Genen liegen. Ich kann es nicht erklären, das ist halt so. Das ist die große Liebe geblieben, und ja, und wird es dann wohl auch bis zu meinem seligen Ende sein.
König: Liebe Frau Sommer, vielen Dank für das Gespräch!
Scholl: Jürgen König war das, unser Kollege und Kulturkorrespondent des Deutschlandradios, im Gespräch mit der Berliner Bühnenverlegerin Maria Müller-Sommer, bei ihr zuhause. 90 Jahre alt ist die Dame mittlerweile, seit 1950 leitet sie ihren Verlag, und heute Abend wird sie in Berlin für ihr Lebenswerk geehrt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jürgen König: Liebe Frau Sommer, Ihr Verlag kümmert sich auch um junge Autorinnen und Autoren, und also lesen Sie nach wie vor jeden Tag dramatische Szenen, Entwürfe, Stücke. Wie beurteilen Sie die Szene heutiger Autoren, wie groß ist die Lust, für die Bühne zu schreiben, welche Fähigkeiten bringen junge Dramatiker mit – kurzum, ist es für Sie leichter geworden oder mühsamer geworden, Talente zu entdecken?
Maria Müller-Sommer: Na ja, es gibt mal die einen Schwierigkeiten, mal die anderen. Ich bin immer wieder verblüfft und glücklich, dass es offenbar immer noch das Faszinosum Theater gibt, auch eben für junge Leute, und das finde ich ganz wunderbar. Aber für junge Autoren ist das ja heute gar nicht so einfach, dann nachgespielt zu werden, und es ist immer wieder die große Frage, übrigens schon solange ich diesen Beruf ausübe, und das ist, wie Sie wissen, eine Weile, das ist immer die Schwierigkeit mit der Uraufführung, mit dem Prestige nach draußen, der Presse.
Nun haben wir heute eine sehr große Bereitschaft, sich um junge Autoren zu kümmern. Ich glaube, wir hatten im vorigen Jahr 70 Uraufführungen von jungen Autoren, es ist also märchenhaft geradezu. Aber dann ist es die Cantina oder dann ist es das Foyer im dritten Stock oder so etwas, da sind dann 30 oder 40 Plätze, und Werbung zu machen lohnt natürlich auch nicht, und dann ist das mit drei oder vier Vorstellungen erledigt.
König: Das heißt, Sie bekommen nach wie vor viele Texte zugeschickt. Junge Autoren halten das Theater offenbar noch für wichtig. Sie merken auch sofort, ob jemand schreiben kann oder nicht?
Müller-Sommer: Ja, ja, das ist dann natürlich eine Sache der Erfahrung und er Routine, muss ich schon auch sagen. Nein, man merkt es häufig doch schon am Brief, aber ebenso häufig dann eben, wenn man im Text ein bisschen blättert. Da sehen wir also dann, ob es geht oder nicht.
König: Welches sind die Themen, die junge Autorinnen und Autoren heute umtreiben?
Müller-Sommer: Also die Themen sind weit auseinander, und darüber bin ich eigentlich sehr froh. Natürlich ist jetzt im Moment Migrationsgeschichte, Arbeitsverhältnisse, auch Altersthemen, also Demografie – das liegen schon die Themen, die uns alle bewegen, bewegen eben auch die jungen Leute, wie auch nicht, und dann wird daraus was gemacht.
König: Ist Ost-West noch ein Thema in Deutschland?
Müller-Sommer: Nein, eigentlich nicht.
König: Was ja eigentlich ein gutes Zeichen wäre.
Müller-Sommer: Ja, das freut mich auch.
König: Sie leiten Ihren Verlag, die Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH seit 1950, ...
Müller-Sommer: Nein, seit 1946. Ich wurde unmittelbar nach dem Studium hierher engagiert, war zunächst Dramaturgin, und dann gingen die Besitzverhältnisse der GmbH, die selbstständig war zunächst, die gingen dann wieder an den Verlag, an den Buchverlag. Der Doktor Witsch, der das machte, der wollte gleichzeitig in Berlin dann ein Verlagsbein wieder haben, der alte Kiepenheuer hat da hergewollt, ist dann nach Weimar gekommen, konnte nicht mehr, starb dann. Und dann dachte er sich, wunderbar, dann habe ich mit dem Bühnenvertrieb ein Bein in Berlin.
Und dann habe ich für ihn alles gemacht: Drucken und Papier besorgen und – ach ich weiß nicht was – Korrekturlesen mit der ganzen Familie, Tag und Nacht, und so, also von 24 Stunden 20 am Tag. Er wollte aber immer Geld haben und kriegte nicht genug, weil das also damals alles sehr, sehr schwierig war – zum Bühnenvertrieb kam ich überhaupt nicht mehr, und dann habe ich gesagt, so, ich kaufe ihn Ihnen ab, nachdem er also auch wieder mal Geld hatte haben wollen, ich hatte keinen Pfennig, und habe oft die Geschichte erzählt, dass dann mein Vater mir eben seine goldene Uhr gegeben hat, gesagt, verkauf die und sieh zu, und das Übrige habe ich mir geborgt, und dann habe ich den Verlag, also den Bühnenvertrieb gehabt. Das war 1950.
König: Und Sie haben unter anderem Jean Anouilh und Jean Giraudoux für die deutschen Bühnen entdeckt, später Günter Grass, George Tabori, sie haben Stücke ganz klassischer Machart verlegt, also Stücke, in denen eine Geschichte erzählt wird mit einem dramatischen Konflikt im Mittelpunkt zwischen Figuren, mit denen man sich identifizieren kann. Sie haben dann die Phase jener Autoren miterlebt, die dann anfing, die Texte so als Material zu behandeln, Medea-Material, berühmtes Beispiel Heiner Müller. Heute leben wir in einem Theater-Zeitalter, das man schon das postdramatische nennt. Was war das für eine Entwicklung, und wo stehen wir heute, an welchem Punkt sind wir angelangt?
Müller-Sommer: Wo wir angelangt sind, kann ich noch nicht sagen, das werden wir in drei, vier, fünf Jahren wissen. Ich sehe mit einiger Besorgnis, dass ja eben Text nicht mehr gewollt ist, sagen wir mal, sondern es gibt da eine berühmte Geschichte: Wir haben ein ganz wunderbares Stück – ich kann es sogar nennen, es heißt "Gift" – von einer holländischen Autorin, das in Münchner Kammerspielen mit aufgeführt wurde, also unter Regie von Johann Simons, eine ganz einfache Geschichte vom Lieben und Auseinandergehen und, ja, wie das Leben so ist. Aber wirklich ein Stück, das an die Menschen sehr ran kommt – wir haben es also an viele Bühnen geschickt, dachten, na ja, also das muss ja jeder sehen, und zwei Personen, toll –, und kriegten dann von einer sehr bekannten Chefdramaturgin dann einen Brief: Ich habe lange nichts gelesen, was mich so angesprochen hat, also mir so nahgegangen ist wie dieses Stück, das möchte ich so gern, dass das bei uns gemacht wird, aber ich habe das Gefühl, das ist wirklich ein Stück, bei dem man sich an den Text zu halten hat, und da finde ich ja keinen Regisseur, der das macht, nicht? Und das ist eigentlich der Unterschied, und das geht natürlich in die allgemeine Bewusstseinsänderung mit hinein, was ist das Wort, was ist der Gedanke, was ist die Sprache?
König: Das heißt, damit haben Sie mir diese Frage schon weggenommen oder vorweggenommen: Das Regietheater, bei dem auch die Regisseure sozusagen sich eines Stückes wie eines Materials bedienen, Sie halten davon gar nichts. Mein Eindruck ist, dass die Phase schon langsam wieder abklingt. Ist das so?
Müller-Sommer: Ja, es geht jetzt, ja. Es fängt wieder an, weil man so allmählich merkt, dass es doch nicht – allein, es ist nicht ... also ich meine, für uns war seinerzeit zum Beispiel Peter Brook, der ja auch das alles selbst erarbeitet hat. Der ist also nach wie vor für mich der bedeutendste Regisseur des vergangenen Jahrhunderts. Wer ihn erlebt hat, wer erlebt hat, wie er mit dem Text umgeht, wie er also dabei eben doch am Autor dran bleibt – "Hamlet", "Sommernachtstraum" und "Lear" und so weiter –, das sind Stücke, die man noch wiedererkennt, aber doch dem heutigen Empfinden angewandelt. Man weiß also, wie Kortner eben seinerzeit – bei dem man ja übrigens unter fünf Stunden nie aus dem Theater kam, nicht? –, aber wie er daran gegangen ist, auch frei, aber doch voller Respekt. Und das ist also etwas, was wir, glaube ich, brauchen.
König: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Maria Sommer. Sie ist Leiterin des Kiepenheuer Bühnenvertriebs und wird heute mit der Rahel-Varnhagen-von-Ense-Medaille ausgezeichnet. Frau Sommer, Sie sind berühmt auch dafür, dass Sie sich immer sehr für die Rechte von Autoren eingesetzt haben. Sie waren Vorsitzende des Verwaltungsrates der VG Wort, waren jahrzehntelang Sprecherin des Verbandes der Deutschen Bühnen- und Medienverlage, haben also mit den Rundfunkanstalten, mit dem Deutschen Bühnenverein verhandelt. Jetzt im digitalen Zeitalter ist es ausgesprochen schwer geworden, Urheberrechte geltend zu machen. Manche sagen, das Urheberrecht sei tot. Wie sehen Sie das?
Müller-Sommer: Also ich habe schon vor 30 Jahren gesagt, es muss sehr viel geschehen, dass das Urheberrecht erhalten bleiben kann, denn man wird dem nicht nachkommen können, was da alles passiert. Das hat sich nun inzwischen immer weiter entwickelt, ich meine, es ist jetzt doch schon eine ziemliche Katastrophe, und es ist auch eben – ich sprach vorhin von Bewusstseinsänderung. Die ist eben auch da, und wenn jeder also in die Luft pusten kann, was ihm gerade so über die Leber läuft, oder was er zu sagen hat, ich gehe jetzt gerade mal sonst wohin, oder ich habe heute noch nicht gefrühstückt oder was weiß ich, und dann sagt der, wieso sollen denn die Leute Geld dafür kriegen, ich nehme ja auch keins, nicht? Und dann kommen also diese Wahnsinnsvorschläge.
König: Es wird jetzt diskutiert, eine Flatrate einzuführen oder Warnhinweise im Netz, die sozusagen auf Urheberrechtsverletzungen aufmerksam machen und dann darauf vertrauen, dass Nutzer freiwillig für die Nutzung von urheberrechtsgeschützten Leistungen zahlen. Sie schütteln schon den Kopf – was halten Sie von solchen Vorschlägen?
Müller-Sommer: Also von der Flatrate halte ich mal überhaupt nichts, weil das dann zu Verteilungskämpfen führen wird, indem die Leute sich bis aufs Messer bekriegen werden, nicht? Das ist menschlich. Warnhinweise sind schön, warnt mal, aber dann werden wir ja sehen, was darauf passiert.
König: Aber irgendwas muss man tun.
Müller-Sommer: Also ich habe noch keine Lösung dafür. Ununterbrochen sind die sehr, sehr guten Juristen auch bei uns beschäftigt, auch in Verhandlungen vom Verlegerverband mit Verhandlungen mit den Rundfunkanstalten und auch mit dem Justizministerium, das nun allerdings auch gefordert ist, aber seit Jahr und Tag mit dem berühmten dritten Korb der Urheberrechtsreform stecken bleibt – auch sicherlich nicht aus bösem Willen, sondern weil es so schwierig ist.
König: Sie haben Ihr ganzes Leben lang mit dem Theater sich beschäftigt. Warum hängen Sie so am Theater?
Müller-Sommer: Ich bin damit aufgewachsen, auch so als Sieben- und Elfjährige im Theater gewesen, und das erste war, glaube ich, "Peterchens Mondfahrt", und dann kam "Alt-Heidelberg " oder solche Sachen, und ich war fasziniert davon und wollte eigentlich auch gern Schauspielerin oder noch lieber Regisseurin werden, weil ich merkte, dass mich, wenn ich Stücke las, immer das Ganze, das Stück, mehr interessierte als die einzelne Rolle. Aber das ergab sich damals nicht, und dann war es eben nach dem Krieg – aber, ja, ich weiß nicht, das muss in den Genen liegen. Ich kann es nicht erklären, das ist halt so. Das ist die große Liebe geblieben, und ja, und wird es dann wohl auch bis zu meinem seligen Ende sein.
König: Liebe Frau Sommer, vielen Dank für das Gespräch!
Scholl: Jürgen König war das, unser Kollege und Kulturkorrespondent des Deutschlandradios, im Gespräch mit der Berliner Bühnenverlegerin Maria Müller-Sommer, bei ihr zuhause. 90 Jahre alt ist die Dame mittlerweile, seit 1950 leitet sie ihren Verlag, und heute Abend wird sie in Berlin für ihr Lebenswerk geehrt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.