Das Tor zur Freiheit

Von Ute Andres |
Flüchtlinge, Vertriebene, Soldaten - für mehr als drei Millionen Menschen war Friedland in der Nachkriegszeit die erste Station. In der Grenzdurchgangsstelle fanden sie eine erste Bleibe auf der Suche nach Angehörigen und nach einer neuen Heimat. Jetzt sind es vor allem Spätaussiedler, die in den heutigen Massivbauten des Lagers eine erste Aufnahme finden.
Der kleine Alexej kann gar nicht genug bekommen. Der Dreijährige klettert emsig die Rutsche hinauf und saust in die Bälle, die ihn sanft auffangen. Kaum unten angelangt, stapft Alexej durch die bunten Kugeln und klettert wieder nach oben.

Sein Freund Michael wirft übermütig die Plastik-Bälle gegen die Wand und kichert dabei. Swetlana Aoul schaut kurz nach den Kindern, die Kleinen haben alles im Griff.

Aoul: "Das gefällt den Kindern am besten. Wenn sie abgeholt werden, sagen sie: guck mal, da ist eine ganz tolle Rutsche. Das ist das erste, was die sagen."

In der Küche nebenan wird an diesem Morgen Kuchen gebacken. Ilona Günther streicht den Teig aufs Blech und stellt den Ofen an.

Günther: "Frühstück ist ja im Speiseraum. Und bevor die Eltern mit den Kindern erst runtergehen, frühstücken sie nicht und dann bereiten wir hier eine Kleinigkeit vor. Manchmal gibt es nur Obst, manchmal einen Kuchen wie heute oder Joghurt - nicht, dass es jeden Tag das Gleiche gibt."

Ilona Günther und Swetlana Aoul arbeiten im Kinderhaus der Diakonie im Grenzdurchgangslager Friedland. Sie betreuen die Kinder von Spätaussiedlern. Während sich die Eltern registrieren und ihren deutschen Pass ausstellen lassen oder einen Sprachkurs besuchen, geben die Frauen den Kindern ein Stück Geborgenheit. Einfach ist das nicht: Für die Kinder ist alles fremd und nach der langen Reise ins ferne Deutschland sind völlig erschöpft:

Günther: "Für die Kinder ist es sehr schwierig, weil sie die Sprache nicht verstehen, die Leute nicht verstehen. Untereinander ist es für sie relativ einfach. Aber diese Eindrücke - das ist für die Kinder nur schwer zu fassen."

Manche Kinder verkriechen sich aufs Sofa und verschlafen den ganzen Vormittag. Andere gucken ein Schneewittchen-Video, verstehen zwar kein Wort, aber tauchen in eine fremde Welt ab. Das hilft für einen Vormittag.

Aoul: "Manchmal kommen die hier rein und freuen sich über Kindergarten und sagen dann, das ist aber gar nicht mein Kindergarten. Und sie sagen dann, morgen fahren wir nach Deutschland. Die können noch gar nicht auseinander trennen, dass sie schon in Deutschland sind und suchen ihren eigenen Kindergarten. Das ist schwierig, das Vertrauen zu gewinnen."

Der kleine Alexej und sein neuer Freund Michael bleiben länger im Grenzdurchgangslager. Sie haben mehr Zeit zum Spielen als andere, und ihre Eltern haben Zeit für sich. Denn die Eltern der beiden Jungs lernen seit zwei Tagen die deutsche Sprache kennen. Der Deutschunterricht ist ein Teil des Willkommenskurses. Den bietet das Land Niedersachsen seit Jahresbeginn den Spätaussiedlern an, die künftig in Niedersachsen leben werden, irgendwo zwischen der Nordsee und dem Harz.

In dem hellen Unterrichtsraum sitzen 20 Frauen und Männer, junge und ältere, ein paar Jugendliche sind auch dabei.

Tschikowski: "Ich verstehe, du verstehst, er versteht, wir verstehen, ihr verstehen, sie verstehen."

Die Lehrerin Ludmilla Tschikowski unterrichtet zweisprachig. Auf Deutsch erklärt sie, was zu tun ist. Dann wiederholt sie die Aufgabe in ihrer Muttersprache.

"Das hat mich an diesem Projekt sehr interessiert, das alles zweisprachig ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Muttersprachler ein besseres Gefühl haben für die Fremdsprache."

An sieben Vormittagen lernen die Spätaussiedler in Friedland die deutsche Sprache kennen. Es ist kein Sprachkurs. Das betonen die Veranstalter der verschiedenen Erwachsenenbildungsträger immer wieder. Bernd Schütze von der Bildungsvereinigung Arbeit und Leben:

Schütze: "Das kann nur eine Sprachmotivation sein, das ist kein Sprachkurs. Aber es ist notwendig. Und hier ist es so, die Leute zu motivieren, dass sie sich mit der deutschen Sprache auseinandersetzen. Denn es ist ja so, diese Menschen wollen hier in unserem Land leben und dann müssen sie auch, sage ich mal, in den sauren Apfel beißen und die deutsche Sprache lernen. Deshalb müssen sie wissen, dass sie im Spracherwerb die wichtigste Aufgabe für die nächste Zeit sehen."

60.000 Spätaussiedler sind im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen. Sie halten sich drei bis vier Tage in Friedland auf: Sie bekommen ihren deutschen Pass, viele lassen ihren russischen Namen in einen deutschen ändern und sie erfahren, in welchem Bundesland sie künftig leben werden. In der Regel ziehen sie dorthin, wo Verwandte leben. Obendrein gibt es eine Quote für jedes Bundesland. Zirka neun Prozent der Spätaussiedler bleiben in Niedersachsen. Und nur diesen Spätaussiedlern bieten das niedersächsische Innen- und das Bildungsministerium gemeinsam die neuen Willkommenskurse an. Sie sind kein Ersatz für die seit Anfang Januar verpflichtenden Sprach- und Integrationskurse, sagt Rüdiger Hesse vom niedersächsischen Innenministerium:

Hesse:" Wenn sie dann in ihre Kommunen kommen, besuchen sie die verpflichtenden Sprach- und Integrationskurse. Das sind insgesamt 600 Stunden Sprachkurs, und wir bereiten darauf nur vor, das ist Sinn dieser Willkommenskurse."

Finanziert werden die Kurse von der niedersächsischen Landesregierung. Es werde kein zusätzliches Geld ausgegeben, betont Rüdiger Hesse. Das Geld stehe Friedland für die Aufnahme von Spätaussiedlern und jüdischen Emigranten sowieso zu.

"Wir haben im nächsten Jahr eine noch geringere Zahl von Spätaussiedlern hier in Friedland. Das heißt, dass aufgrund des vorhandenen Personals eine bessere Betreuung und auch die Räumlichkeiten gegeben sind."

Die Zahl der Spätaussiedler nimmt stetig ab. Im Jahr 2001 kamen noch 98.000 Deutschstämmige aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik. 2004 waren es 60.000. Für die kommenden Jahre rechnet das Innenministerium mit weniger als 35.000 Spätaussiedlern. Tendenz sinkend - eine Folge des neuen Zuwanderungsgesetzes, das die Bedingungen an den Mitzug von Familienmitgliedern erschwert.

Tschikowski: "Rudolf, woher kommt Nikolai? Rudolf kommt aus Kirgistan. Und woher kommen Sie? Ich komme aus Kirgistan."

24 Stunden dauert der Deutschunterricht in den Willkommenskursen insgesamt. Zahlen, Telefonnummern, die Uhrzeit werden gelernt, einfache Fragen nach dem Woher und Wohin. Der 39-Jährige Sergej ist mit seiner Frau und seinen beiden Kindern vor fünf Tagen nach Friedland gekommen.

Sergej (Tschikowski übersetzt): "Ich komme aus Omsk. Dort haben wir sehr schlechte Lebensbedingungen. Und ich hoffe, dass ich arbeiten kann und meine Kinder eine gute Ausbildung hier in Deutschland bekommen."

In zehn Jahren soll es ihm und seiner Familie viel besser gehen, sagt Sergej. Viele Koffer voller Hoffnung hat er mitgebracht nach Deutschland.

Sergej (Tschikowski übersetzt): "Ich werde jetzt in den nächsten zehn Jahren deutsch lernen und ich arbeite weiter als LKW-Fahrer. Meine Tochter ist dann 18 und macht Abitur, meine Frau arbeitet wieder als Chemielaborantin und mein Sohn studiert."

Um kurz vor Zwölf öffnet die Kantine im Lager. Es ist ein moderner, riesiger Raum, wie eine riesige Turnhalle. An langen Tischreihen sitzen Frauen, Männer und Kinder. Sie löffeln fast still ihr Essen. "Italienische Gemüsesuppe" steht auf dem Speiseplan. Die Teller kommen nur halbvoll auf dem Förderband angefahren, auf dem Tablett noch eine Scheibe Toast, zum Nachtisch ein Apfel. Das ist keine Mahlzeit für Hungrige. Wer will, kann nachholen, heißt es. Aber niemand steht auf für einen Nachschlag. Die meisten Menschen an den Tischen sehen müde aus, müde von einer langen Reise. Manche von ihnen sind vier Tage im Bus gefahren, mit Neugeborenen oder mit der 80-Jährigen Großmutter im Schlepptau.

Gatzemeier: "Den größten Teil kriegen wir aus Kasachstan und Russland, dann ist auch manchmal Kirgisien dabei, heute hatten wir mal eine Familie aus Weißrussland, aber das ist ganz selten. Es heißt immer noch "das Paradies", manche schaffen es wirklich, aber andere sind dann auch, wie ich mal gehört habe, frustriert dann."

Das erzählt Rainer Gatzemeier. Er ist Schichtführer im Lager, dafür verantwortlich, das im Lager alles reibungslos funktioniert. Der große Mann mit dem Schnauzbart kennt sich aus. Gatzemeier ist seit 27 Jahren Schichtführer in Friedland. Keiner arbeitet schon so lange im Lager als Schichtführer wie er.

"Am Anfang, als ich angefangen habe, sind viele aus Oberschlesien gekommen, die konnten natürlich Deutsch. Dann kamen welche aus Polen, die Sprachschwierigkeiten hatten. Und dann haben wir uns gefreut, wenn Russland-Deutsche gekommen sind, weil die wieder vom Ur-Großvater bis zum Ur-Enkel alle deutsch konnten. Heute ist das auch nicht mehr so schlimm."

Auf den Straßen im Lager stehen Männer, rauchen, erzählen vielleicht von ihrer Reise und ihren Plänen. So wie sie da stehen, könnten sie in jeder westlichen Stadt der Welt stehen. Zwei alte Mütterchen kommen vorbei, bekleidet mit einer Art Kittelschütze und Kopftuch, gehen gebeugt zur Fotografie - zum Radiologen im Lager. Die Lungen werden geröntgt, Verdacht auf Tuberkulose.

Gatzemeier: "Zum Wochenende wird es immer mehr, freitags geht es dann los, Samstag, Sonntag. Der Gros kommt mit dem Bus an und das Gepäck wird dann hier in die Gepäckhalle gebracht.

So sieht eine Unterkunft aus, wir können pro Zimmer 4 und 12 Menschen unterbringen."

Dieses Zimmer ist nicht belegt, aufgeräumt: sechs Etagenbetten-Betten, Metallpritschen, macht zwölf Personen. Weiße Wände, kein Schrank. An der Tür die Hausordnung in kyrillischer Schrift. So sieht es in allen 16 Häusern aus - Qualität: Barackenbauweise.

Gatzemeier: "Wenn dann ein Familienverband kommt, die können wir alle in einem Zimmer unterbringen. Hier sind es Oma, Opa, Enkelkinder, das sind meistens vier Generationen in einem Zimmer."

Jelena Woronowa-Lyssak sitzt in einem völlig überhitzten Raum, mit dem Rücken zur Tür. Sie war in der Ukraine Konzert-Pianistin und fiebert dem Augenblick entgegen, in dem sie vor Publikum wieder ein Konzert gibt. Jetzt nutzt sie jede freie Minute zum Klavierspiel. Seit acht Wochen warten die 55-Jährige und ihr junger Ehemann Andrej Astachov im Lager Friedland auf ihre Weiterreise. Wann sie fahren und wohin, steht noch nicht fest.

Astachov: "In diesem Moment haben wir viel Freizeit. Ich lerne immer deutsch und meine Frau lernt deutsch, ich unterrichte meine Landsleute und die Bewohner hier im Haus, meine Frau trainiert hier am Klavier, alle Zeit sie benützt."

Astachov und seine Frau sind jüdische Emigranten. Bis zu 1000 Juden aus dem Osten kommen pro Jahr nach Deutschland. Auch sie werden zentral über das Grenzdurchgangslager Friedland weitervermittelt. Und weil im neuen Heimatort eine aktive jüdische Gemeinde vorhanden sein soll, die auch zu den Emigranten passt und deren Wünschen einigermaßen entspricht, kann der Aufenthalt in Friedland schon mal länger dauern. Die Kundschaft soll schließlich zufrieden sein, sagt die "Lagerleitung".

Über dieses Wort stolpern in Friedland nur Fremde. Das Lager gehört zu Friedland, es ist Friedland, sagt der Leiter des Grenzdurchgangslagers Heinrich Hörnschemeier:

Hörnschemeier: "Man muss sehen, dass in fast 60 Jahren vier Millionen Menschen über dieses Lager in die Freiheit gegangen sind, insofern ist das Grenzdurchgangslager Friedland ein Begriff - das Tor zur Freiheit."

Nach dem Krieg trafen bei Friedland, im Dreiländereck Niedersachsen, Hessen und Thüringen, die Flüchtlingsströme aufeinander: ausgemergelte Frauen, Männer und Kinder mit Handwagen und Koffern in der Hand. Hungrig und müde waren die Vertriebenen aus Ostpreußen, die Flüchtlinge aus dem Ruhrgebiet oder der sowjetischen Besatzungszone. Sie fanden Unterschlupf auf dem ehemaligen Versuchsgelände der Universität Göttingen. Zusammengepfercht wurden sie in Wellblechhütten ohne Boden, den so genannten Nissenhütten.

Die Glocke auf dem Gelände des Grenzdurchgangslagers läutet täglich zum Gottesdienst. Früher erklang sie nur, wenn auf dem nahe gelegenen Bahnhof ein Heimkehrertransport anrollte. 1946 registrierte das Lager bis zu 12.000 Menschen täglich.

Hörnschemeier: "Friedland war auch Station für viele Kriegsheimkehrer und ist dann 1955 nach den Verhandlungen Adenauers in der Sowjetunion bekannt geworden, als dann noch einmal Heimkehrer über Friedland in die Bundesrepublik gekommen sind."

In völlig überfüllten Waggons kamen bis Ende der 50er Jahre 560.000 Russlandheimkehrer an. Ehefrauen und Mütter warteten immer wieder voller Hoffnung in Friedland auf die Heimkehr ihrer Männer und Söhne. Und auch Reporter begleiteten die Ankunft der Heimkehrertransporte auf dem kleinen Bahnhof in Friedland.

Mitte der 50er Jahre nahm Friedland Ungarnflüchtlinge auf, Ende der 70er Jahre waren es die boat people aus Vietnam. Heute heißen sie Tatjana oder Sergej und machen sich mit der deutschen Sprache vertraut.

Der quirlige Alexej hat noch immer nicht genug von der Rutsche. Mit seinen drei Jahren ist es ihm noch egal, wo er spielt. Heimweh nach den Großeltern und Freunden in Kirgisien oder Weißrussland spüren die älteren im Kinderhaus, erzählt Swetlana Aoul. Die36-Jährige kann die Stimmung der Familien zwischen Abschied und Hoffnung gut verstehen. Vor 15 Jahren kam sie selbst als Spätaussiedlerin über Friedland nach Deutschland.

Aoul: "Ich weiß, bei uns war vor zwei Wochen ein Mädchen, sie war blind und spielte Klavier. Und sie hat uns in der Kirche zwei Lieder vorgespielt, die sie selbst komponiert hat vor Abreise. Und diese Lieder hießen "Trauer" und "Freude". Sie hat das geschrieben, weil sie selbst nicht wusste, was kommt auf sie zu, und war der Abschied von Oma und Opa sehr schwer und sie meinte aber, sie hat vielleicht hier eine Zukunft. Das war für uns auch rührend, hat sie allen Kindern vorgespielt und uns ihre selbst komponierten Lieder. "