Das Trauma der zweiten Generation

Von Jürgen König |
Rund 300.000 Menschen kamen in der DDR aus politischen Gründen ins Gefängnis. Nun haben erstmals Wissenschaftler die Spätfolgen der Traumata erforscht. Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur stellte nun die Studie vor.
Vielen politischen Häftlingen der DDR fällt es noch heute schwer, über ihre Haftzeit zu sprechen. Und vielen ihrer Kinder muss es genauso gehen, denn trotz zahlreicher Aufrufe und intensiver Suche fanden die Psychologinnen Grit Klinitzke und Maya Böhm nur 200 Freiwillige, die über ihre Auseinandersetzungen mit der Haftzeit ihrer Eltern Auskunft geben mochten - und nur 43 von ihnen schickten die erhaltenen Fragebögen auch ausgefüllt wieder zurück. Für einen Teil der Studie wurden 91 frühere Häftlinge, 36 Ehe- oder Lebenspartner sowie 65 ihrer Söhne oder Töchter befragt.

Die Studie basiert also auf relativ wenigen Daten, ihr Ergebnis ist eindeutig: im Vergleich zu einer repräsentativen Stichprobe der Normalbevölkerung zeigen die Kinder von politischen Häftlingen der DDR deutlich höhere depressive, angstbezogene und posttraumatische Belastungssymptome.

Viele, die als Kind die für sie meist völlig unerwartete Verhaftung der Eltern miterlebten, Befragungen, Verhöre, Wohnungsdurchsuchungen, wurden die Bilder dieser Szenen nie wieder los. Darüber zu sprechen sei sehr schwer, erzählt die Fotografin Myriam Ceglarek, deren Vater von 1963 bis -68 im Gefängnis saß - zu einem ersten Gespräch darüber kam es 2010.

"Mir wurde so ein bisschen was von Verwandten erzählt, aber ich hab’ auch bislang nicht den Mut gehabt, überhaupt auch direkt zu fragen. Aber jetzt dafür ... geht es halt jetzt momentan sehr gut. In Stichworten, und es geht halt in Fetzen, dann setzt man dann halt so zusammen, Stück für Stück."

Bei Verwandten oder im Kinderheim untergebracht, wussten viele Kinder jahrelang nicht, was mit ihrer Mutter oder ihrem Vater oder mit beiden passiert war. Hat nicht, wer im Gefängnis sitzt, etwas Böses getan? Viele Kinder haben so empfunden und gedacht: Jahre später diese Zeit aufzuarbeiten, sei ein komplexer, schwieriger Prozess, meint der Psychologe Stefan Trobisch-Lütge, Leiter der Beratungsstelle "Gegenwind" für politisch Traumatisierte der SED-Diktatur.

"Diesen Verunsicherungsgrat, den hab ich allerdings häufiger bei den Kindern von politisch Verfolgten feststellen können, dass es eine große Verunsicherung gibt darüber, was eigentlich die Staatssicherheit bzw. die Repressionserfahrungen der Eltern der ehemaligen DDR mit ihren Eltern gemacht haben.

Diese Frage beschäftigt die Nachkommen tatsächlich und belastet sie auch in sehr hohem Maße, weil sie die Lebensgeschichte der eigenen Eltern noch mal durchlaufen, durchforschen müssen; die Vergangenheit der Eltern in gewisser Weise auch bewachen müssen vor einer Tendenz, das Erbe der Vergangenheit zu beschönigen, Diskussionen über Unrechtsstaat usw. führen natürlich auch dazu, dass die Nachkommen die Erfahrungen und Erinnerungen der Eltern auch in gewisser Weise beschützen müssen."

Nicht alle Kinder politischer Häftlinge der DDR spüren heute noch Nachwirklungen früherer Ängste. Jeder Fall sei anders, betont Maya Böhm von der Universität Leipzig.

"Also es gibt Fälle, wo die Haft der Eltern der zentrale Punkt wird. Also wo danach nichts mehr so ist, wie es war und die Kinder das Leben als zerstört betrachten. Ich habe aber auch zum Beispiel mit einer Familie gesprochen, wo das viel mehr als Sieg angesehen wird, so paradox das klingen mag, aber die Eltern haben die Haft überstanden und die ganze Familie sieht das als etwas, woran diese Person nicht zerbrochen ist, sondern stärker geworden ist."

Zur letztgenannten Gruppe gehört der Schriftsteller Ulrich Schacht: 1951 wurde er im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck geboren, seine Mutter hatte mit seinem Vater, einem Soldaten der Roten Armee, versucht, in den Westen zu fliehen.

"Wenn man im Knast geboren wird, dann hört sich das natürlich furchtbar an, aber zum Glück kriegt man das ja nicht mit. Und wenn man neugierig bleibt und ist und sich nicht erschrecken lässt, und vor allem, wenn man weiß, dass derjenige, der einem das sagt, nicht da drin gesessen hat, weil er kriminell war, sondern weil er in einem gewissen Sinne ganz besonders menschlich und human war, dann fängt man schon frühzeitig an, Momente zu finden im Leben der eigenen Familie, die einen stolz machen. Das heißt: stark - im Verhältnis zur Umwelt, im Verhältnis zu einer Gesellschaft, die das drauf hat, um Menschen schwach zu machen."