Das Triage-Dilemma

Die Ärzte als tragische Helden

31:27 Minuten
Drei Krankenpflegerinnen umarmen sich.
Wir dürfen den Ärztinnen und Ärzten in Bezug auf die Triage nicht die komplette Verantwortung aufbürden, meint die Strafrechtlerin Elisa Hoven. © Getty Images / TPG
Von Florian-Felix Weyh |
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Triage ist der Ausdruck für die Entscheidung, wer bei zu knappen Ressourcen für alle Hilfe bekommt und wer nicht. Ein schier unlösbares Dilemma. Ob Ärzte, Juristinnen oder Ethiker - alle Ringen um Einschätzungen in dieser Tragödie um Leben und Tod.
Wäre diese Sendung ein Buch, sie trüge auf ihrem Vorsatzblatt zwei Mottos.
Erstens: "Moralisch sein heißt, sich um die eigene Pflicht zu kümmern." André Comte-Sponville. Französischer Philosoph. "Moralisieren heißt, sich um die Pflicht der anderen zu kümmern – was viel einfacher ist, zugegeben, viel angenehmer, aber etwas völlig anderes."
Im Hintergrund ist der Gefangenenchor aus der Oper Nabucco von Verdi zu hören, gesungen als "Coro virtuale" vom italienischen International Opera Choir in Rom, bei dem sich die Sänger wegen der Ausgangssperre alle in ihren Wohnungen befanden.
Und zweitens: "Ultra posse nemo obligatur." Fundamentaler Rechtsgrundsatz seit der römischen Antike. "Niemand ist verpflichtet, über sein Können hinaus zu handeln."

"Dieser Grundsatz bedeutet, dass natürlich niemand – weder moralisch, noch rechtlich –, zu einer Leistung verpflichtet sein kann, die ihm unmöglich ist. Und genau vor einem solchen Problem stehen wir nun in diesen so genannten 'Triage-Fällen', die sich im Rahmen der Coronaepidemie ja tatsächlich einmal stellen könnten."
Elisa Hoven ist Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig.
"Ein Mensch steht vor zwei Rettungspflichten. Der Arzt muss Patient A, und er muss Patient B retten. Er kann nur einen von beiden retten. In diesem Fall sprechen wir von einer sogenannten ‚Kollision von Pflichten‘, die dazu führt, dass der Arzt, wenn er nur einen dieser beiden Pflichten erfüllt und die andere nicht, dann nicht strafbar ist. Grundsätzlich: Ein Arzt, der einen Patienten, der sterbenskrank ist, nicht rettet, der kann sich strafbar machen wegen eines Totschlages durch Unterlassen. In diesem Fall, wenn er ihn aber nicht retten konnte, macht er sich natürlich nicht strafbar, weil er die andere Pflicht erfüllt hat. Das nennen wir dann ‚rechtfertigende Pflichtenkollision‘."
Und weiter: "Das Recht kann mir keinen Vorwurf machen. Die Ethik auch nicht. Aber wie handle ich in der Situation?"

Eine medizinische Knappheit, auf die niemand vorbereitet war

Wie handeln?
Die Coronapandemie hat eine medizinische Knappheit hervorgebracht, auf die niemand vorbereitet war. Zuerst erkennbar in Italien, dann in Spanien und Frankreich. Es fehlt an medizinischem Personal – in einen abstrakten Begriff gefasst: Zeit – und an intensivmedizinischem Gerät. Abstrahiert: Material.

Diese Zeit- und Materialknappheit verursacht ein praktisches und damit zugleich ein moralisches Dilemma: Man kann nicht alle Patienten behandeln, es sind pro Zeiteinheit zu viele. Und in einer Pandemie dehnt sich diese Zeiteinheit über das Maß von Katastrophen, mit denen wir vertraut sind – Massenkarambolagen, Flugzeugabstürze, Terroranschläge – über dieses vertraute Maß weit hinaus.
Der Zustrom an Behandlungsbedürftigen hört nicht auf, im Gegenteil: Er schwillt sogar über einen unabsehbaren Zeitraum an. Diese Lage ist neu, ungewohnt, unerprobt. Und sie zeigt sich konkret im Mangel an intensivmedizinischen Beatmungsgeräten. In Italien, Frankreich, Spanien reichten die Geräte nicht aus. Die Ärzte mussten also entscheiden, wem sie eine lebensverlängernde Beatmung gewähren – und wem nicht.

Man muss wählen, aussortieren, ablehnen. Man muss! Die Zwänge der Coronapandemie sind kein konstruiertes Dilemma aus einem akademischen Lehrbuch für Ethik, voller ausgewogener Einwände und einem Willen, alle Interessen zu berücksichtigen.

"Bei Konflikten zwischen gleichrangigen Gütern ist nach einem schonenden Ausgleich zwischen beiden zu suchen." Aus dem Handbuch der Evangelischen Ethik.
Ein Priester steht vor mehreren aufgereihten Särgen und segnet sie.
Im italienischen Bergamo mussten Tote zuletzt vom Militär abtransportiert werden.© picture alliance / Photoshot

Die Triage wurde erstmals unter Napoleon praktiziert

Der Autor dieser Sendung ist nicht neutral. Er hält ein bestimmtes Vorgehen, das eine Gruppe besonders belastet, im Falle einer Triage für tragisch, aber unausweichlich.

Das eingeübte Verfahren, das Patienten in Knappheitssituationen nach der Dringlichkeit ihrer Behandlung einteilt, nennt sich Triage. Es stammt aus der Kriegsmedizin und wurde erstmals unter Napoleon praktiziert.

Schon in dieser militärischen Anwendung tauchen zwei Modelle auf, wie man knappe medizinische Ressourcen verteilt: Das eine konzentriert sich auf die individuelle Not der Verletzten und ihre Überlebenschancen, das andere stellt die Bedürfnisse des Militärs nach Kampfkrafterhaltung in den Mittelpunkt.
Obwohl Ersteres häufiger praktiziert wurde und wird, ist Letzteres seit dem Ersten Weltkrieg Teil vieler Militärdoktrinen, wie der US-Mediziner Kenneth Iserson 2007 schreibt: "Anstatt die Behandlung der weniger schwer verwundeten Personen zu verschieben, schlugen einige vor, genau dieser Gruppe Vorrang einzuräumen, da sie schnell behandelt und wieder in den Kampfdienst zurückversetzt werden könnte. (…) Ein weiteres Beispiel für diesen Ansatz (…) findet sich in einem Militärhandbuch der NATO von 1958, in dem drei Triage-Kategorien beschrieben werden: 1. diejenigen, die leicht verletzt sind und wieder in den Dienst zurückkehren können, 2. diejenigen, die schwerer verletzt sind und dringend wiederbelebt oder operiert werden müssen, und 3. die ‚hoffnungslos Verwundeten‘."

"Hoffnungslos Verwundete" meint nach ärztlichem Ermessen Sterbende, auf die keine Ressourcen mehr verwendet werden sollen. Dieser brachial klingende… aber absolut vernünftige… dieser zunächst beunruhigende Grundsatz gilt auch in der zivilen Katastrophenmedizin beim so genannten "Massenanfall Verletzter und Erkrankter", wie bei einem Flugzeugabsturz oder dem ICE-Unglück von Eschede 1998. Das militärische Kriterium der schnellen Wiederherstellung der Einsatzkraft spielt hier keine Rolle.
Triagiert wird international nach drei bis fünf abgestuften Kategorien: Diejenigen, die am dringendsten Hilfe benötigen, aber noch nicht sterben, werden zuerst behandelt. Die leichten Fälle zuletzt. Da die Katastrophe zeitlich begrenzt ist, bleibt im Regelfall niemand auf der Strecke. Außer den Sterbenden.

Die Sterbenden sterben. Davor dürfen wir unsere Augen nicht verschließen.

Triagesystem in vielen Notaufnahmen vorhanden

Daneben hat sich seit 1964 in vielen Krankenhaus-Notaufnahmen ein Triagesystem eingebürgert. Damit ein standardisiertes Prozedere gemeint, das die Priorität für eine Behandlung nachvollziehbar festschreibt. Von den Patienten wird es normalerweise gar nicht bemerkt. Denn das Konzept geht davon aus, dass alle eintreffenden Patienten tatsächlich versorgt werden können, nur eben nicht alle gleich schnell. Eine Gruppe "Sterbender" ist darin nicht vorgesehen.

Doch wir reden jetzt über eine Pandemie-Triage, mit der es keine Erfahrungen gibt, kaum klare Maßstäbe, sondern nur viele Äußerungen von Ethikkommissionen, Medizinern, Juristen und – das ist in der Debatte ethisch gleichwertig – von der Lage Betroffenen aller Couleur. Allesamt sind sie sich nur in wenigen Punkten einig.

"Wir werden zunächst das Kriterium der medizinischen Notwendigkeit anwenden müssen, das ist auch so vorgesehen in den Empfehlungen der Fachgesellschaften. Das bedeutet das man eine sehr, sehr strenge – und auch strengere als sonst! – Indikationsstellung macht. Das heißt, dass wirklich nur noch diejenigen eine bestimmte Behandlung erhalten, die sie absolut brauchen. Die ohne nicht überleben würden. Ohne normalen Umständen würden wir mehr Menschen vermutlich die Behandlung geben", sagt Alena Buyx, Professorin für Medizinethik an TU München und Mitglied im Deutschen Ethikrat.

"Nur dann, wenn in dieser Gruppe dann immer noch nicht genügend Ressourcen vorhanden sind, dann empfehlen die medizinischen Fachgesellschaften das Kriterium der medizinischen oder klinischen Erfolgswahrscheinlichkeit, also die so genannte Prognose in den Blick zu nehmen für die Entscheidungsfindung: Also wer kann von der Behandlung am meisten profitieren? Wer könnte gut und schnell wieder genesen? Und bei wem ist absehbar, dass die Behandlung keinen oder kaum oder sehr zweifelhaften Erfolg haben wird?"

Abschätzung von Prognosen in der Medizin gang und gäbe

"Klinische Erfolgswahrscheinlichkeit" ist das ethische Konsenskriterium, dem alle sich widersprechenden Fraktionen beipflichten. Allerdings stecken schon sprachlich im Wort "Erfolgswahrscheinlichkeit" zwei Unschärfen, die einen fairen Vergleich der Anwärter auf eine lebensverlängernde Maßnahme problematisch werden lassen: "Erfolg" und "Wahrscheinlichkeit". Was ist der Erfolg: die Heilung beim einen, eine begrenzte Verlängerung des Ist-Zustands beim anderen? Und wie misst man präzise genug die Wahrscheinlichkeit, dass der Erfolg eintritt?

"Das ist etwas, das medizinischen Laien sehr schwer fällt sich vorzustellen, ist aber etwas, was in der Medizin gang und gäbe ist und tagtäglich gemacht wird. Bei jedem Patienten müssen sie die Prognose abschätzen, das gehört zum Handwerkszeug dazu. Da gibt’s auch ganz etablierte Verfahren, also das ist etwas, das lernen Medizinstudentinnen und -studenten schon von Beginn an ihres Studiums. Und die Fachgesellschaften greifen deshalb in ihrem Papier auf ganz etablierte prognostische Faktoren und Scores zurück. Also das macht man nicht Pi-mal-Daumen-Bauchgefühl, sondern da gibt es etablierte Verfahren."
Eine Frau in Schutzkleidung und viele andere um sie herum strecken die Arme nach oben.
Krankenhausangestellte in Barcelona bedanken sich bei den Menschen, die tagtäglich von ihren Balkonen für sie applaudieren.© picture alliance/ZUMA Press/Matthias Oesterle
Papier beruhigt. Verfahren beruhigen, Scores und prognostische Faktoren beruhigen. Beruhigung ist ein legitimes Ziel in Krisen.

Die Coronawirklichkeit in Italien, Spanien, Frankreich stellt allerdings die Tauglichkeit des deutschen Konsenskriteriums praktisch in Frage: Könnten Patienten in ihren individuell ermittelten Erfolgsaussichten exakt taxiert werden, so wäre es zu keinem Triage-Dilemma gekommen. Man hätte immer einen vielleicht knappen, doch erkennbaren Unterschied der Behandlungspriorität erhalten. Für einen ausreichend genauen Einstufungsprozess war in der überfordernden Pandemiesituation aber keine Zeit – und vielleicht das prognostische Instrument auch nicht geschärft genug.
Alle Handlungsempfehlungen, ob von Ethikern, gemischten Kommissionen oder Juristen, wissen daher um die Schwäche des Konsenskriteriums und geben Ärztinnen und Ärzten zusätzliche Entscheidungshilfen an die Hand.
Weitet man den Blick über den hiesigen Rahmen hinaus so ergeben sich international folgende angedachte, zum Teil auch praktizierte Triage-Kriterien:
- Das Prinzip "first come, first serve". Also: Wer zuerst da ist, bekommt die medizinische Behandlung.
- Das damit verwandte Los-Prinzip. Sprich: Allein der Zufall entscheidet, wer versorgt wird.
- Das Kriterium des Lebensalters beziehungsweise der restlich zu erwartenden Lebensjahre. Meint: Nicht die Zahl der geretteten Menschen ist entscheidend, sondern die Zahl ihrer Lebensjahre insgesamt.
… und ein unterschiedliches Bündel an Nützlichkeitskriterien, wie etwa der Frage nach der Systemrelevanz von zu rettenden Personen.

Kollidierende Handlungspflichten sprechen Ärzte frei

Doch bevor wir uns damit im Einzelnen befassen, müssen wir etwas zur Kenntnis nehmen, das skandalträchtig klingt. Einen juristischen Fakt, der Ärztinnen und Ärzte im Triage-Dilemma betrifft. Vielmehr: freispricht.
"Nach den allgemeinen Regeln der rechtfertigenden Pflichtenkollision dürften sie sich sogar von höchst unethischen Motiven leiten lassen, wenn sie sich für die eine oder andere der kollidierenden Handlungspflichten entscheiden." So formuliert es vor wenigen Tagen ein Team aus Juristen und Medizinern in der "Deutschen Medizinischen Wochenschrift".
"Horribile dictu: Der Rassist, der an eine Unfallstelle kommt, auf zwei Schwerverletzte unterschiedlicher Ethnizität trifft, von denen er nur einen retten kann, darf sich aus Gesinnungsgründen für den hellhäutigen entscheiden und den Tod des anderen gutheißen. Der Grund dafür ist, dass die Motivation ein Internum ist, dessen Kausalität nach außen hin nicht erkennbar wird."

"Das ist ganz herrschende Meinung. Also da gäbe es keine Möglichkeit, da ran zu kommen, denn das Recht kann nur darauf schauen, welche Pflichten hat der Arzt. Wir sagen: Er hat die gleichwertige Pflicht, Patient A oder Patient B zu retten, er kann nur eine der Pflichten erfüllen, und er tut es – dann hat er sich rechtmäßig verhalten. Was er sich dabei denkt, ist insoweit dann irrelevant, es gibt kein Gesinnungsstrafrecht", sagt Strafrechtsprofessorin Elisa Hoven.

"Ein Arzt, der sich in einer solchen Situation entscheidet, Patient A zu retten, weil der ihm von Religion, Ethnizität oder Ähnlichem nähersteht … auch der macht sich nicht strafbar. Denn das Strafrecht interessiert sich für diese Motive des Arztes in dem Moment nicht."

Sollte dies einmal konkret eintreffen, wäre es eine direkte Folge der gesellschaftlich tolerierten Verantwortungsdiffusion im Falle der Triage. Verantwortungsdiffusion, weil alle Mitdiskutierenden Entscheidungen scheuen: Sie können den Ball hin und her spielen im sicheren Wissen, dass er am Ende nicht bei ihnen liegenbleibt, sondern allein bei den Ärztinnen und Ärzten in der konkreten, von ihnen allein zu meisternden Auswahlsituation auf Leben und Tod. Sie – nur sie! – müssen die Entscheidung vor ihrem Gewissen und eventuell später vor Richtern verantworten. Sie sind tragische Helden.

Das Los, die Zeitlichkeit, die Nützlichkeit, das Lebensalter

Moralisch sein heißt, sich um die eigene Pflicht zu kümmern. Moralisieren heißt...
"Wenn sich die Atmung der Patienten so stark verschlechtert, dass sie ein Beatmungsgerät benötigen, gibt es normalerweise nur ein begrenztes Fenster, in dem sie gerettet werden können", beschreibt das US-Fachblatt "New England Journal of Medicine" die Lage.
"Im Gegensatz zu Entscheidungen in Bezug auf andere Formen der lebenserhaltenden Behandlung ist die Entscheidung über Einleitung oder Abbruch der mechanischen Beatmung oft eine echte Entscheidung über Leben oder Tod."

Dies noch einmal ins Gedächtnis gerufen, wenn wir folgende – in der Pandemie nicht mehr hypothetische, sondern konkrete – Situation vor Augen haben: zwei Patienten, ein Beatmungsgerät. 50 Beatmungsgeräte, 100 Kranken ringen um Luft. Die klinischen Erfolgsaussichten sind im Rahmen der diagnostischen Unschärfe gleich. Was nun?

Erste Rationalität: das Los.

"Wenn die Frage ist, was ich grundsätzlich von dem Kriterium des Losverfahrens halte, dann ist das aus ethischer Sicht ein relativ problematisches Kriterium. Ist auch wirklich nicht besonders eingeführt, muss man dazu sagen. Also wir haben keine sozialen Erfahrungen mit dieser Art von Losverfahren, wenn es um wirklich wichtige Entscheidungen geht. Denn das Losverfahren ignoriert den besonders sinnvollen Einsatz medizinischer Ressourcen, den man in einer Knappheitssituation nicht ignorieren sollte", meint Alena Buyx, Professorin für medizinische Ethik in München.
In einer Messehalle sind aus grauen dünnen Wänden einzelne Quadrate abgeteilt, vorne stehe vier Tische zur Anmeldung.
Ein provisorisches Krankenhaus in Madrid: zwei Patienten, ein Beatmungsgerät - was nun? In einigen Ländern stellte sich diese Frage bereits.© picture alliance / Cordon Press/Jose Cuesta
Dagegen schreibt der Regensburger Strafrechtsprofessor Tonio Walter: "Für eine gerechte Entscheidung gibt es nur eine Regel: das Los. Nicht der Wille eines Menschen entscheidet dann, sondern die Majestät des Schicksals oder, für gläubige Menschen, der Wille Gottes. Das ist auch fair, denn das Los entscheidet ohne Ansehung der Person, vor ihm hat jeder die gleiche Chance."

Ob man ein Losverfahren befürwortet, hängt davon ab, wie man Chancengleichheit und Wertungsfreiheit in der Gerechtigkeitsdebatte einstuft.

Zweite Rationalität: die Zeitlichkeit.

"'First come, first serve' ist ein ganz etabliertes Kriterium unter Normalbedingungen. Ist auch ein gutes Kriterium. Allerdings ist es ein problematisches Kriterium in der Knappheitssituation. Das ist ein ganz individual orientiertes Kriterium, wer einfach kommt, bekommt das, was er oder sie braucht. In der Knappheitssituation, wenn nicht alle das bekommen können, was sie brauchen, kann dieses Kriterium bedeuten, dass Ressourcen massiv verschwendet werden. Und dann ist auch das 'Zuerst-Ankommen' natürlich letztlich arbiträr", sagt Alena Buyx.
"Ob jemand zu Zeitpunkt X oder Zeitpunkt X+1 eingeliefert wird – ja wovon hängt das ab? Ist der eine Stunde früher infiziert worden? Wurde er schneller ins Krankenhaus gebracht, was auch immer? Das ist ja kein wertendes Kriterium. Das ist ein rein naturalistisches Kriterium, ein Kriterium, was nur auf einen Zufall abstellt. Und davon die Entscheidung abhängig zu machen, hielte ich für genauso verfehlt, wie allein auf ein Los zu rekurrieren. Da sehe ich gar keinen Unterschied", meint dagegen Elisa Hoven.
Dritte Rationalität: Nützlichkeit oder Systemrelevanz. Im Falle der Pandemie verdichtet auf den Satz: "Rettet die Retter."

"Danach sind Schlüsselfiguren des Gesundheitssystems (Ärzte, Pfleger) aufgrund ihrer Systemrelevanz prioritär zu behandeln. Das ist keine unfaire Status-Privilegierung, sondern, gesamtgesellschaftlich betrachtet, eine Verbesserung der Rettungschancen aller: Eine genesene (zudem immunisierte) Ärztin erhöht die Behandlungskapazitäten. Dieses Prinzip genießt rechtliche Anerkennung: Im überfüllten Rettungsboot ist der einzige Steuermann von der Überlebenslotterie ausgenommen; das medizinische Fachpersonal erhält den lebensrettenden Grippe-Impfstoff zuerst", schreibt der Trierer Strafrechtsprofessor Till Zimmermann.
Konträr die Juristin Elisa Hoven: "Das ist einfach viel zu komplex, als dass man es überhaupt bewerten kann, geschweige denn in einer solchen spontanen Notsituation, wie sie sich im Krankenhaus stellt. Der Virologe kann zuhause seine Frau und Kinder schlagen. Der Journalist kann für seine Familie unheimlich wichtig sein. Also solche Fragen der Nützlichkeit, das ist in der Tat etwas, wo ich Abstand nehmen würde, denn das ist nach objektiven Kriterien kaum sinnvoll zu ermessen."

Italienische Kliniker fordern gemeinschaftszentrierte Versorgung

"Westliche Gesundheitssysteme basieren auf dem Konzept der patientenzentrierten Versorgung …", schreiben am 22. März Kliniker aus der besonders betroffenen italienischen Stadt Bergamo.

"Aber eine Epidemie erfordert einen Perspektivwechsel hin zu einem Konzept der gemeinschaftszentrierten Versorgung."

Zu diesem Zeitpunkt hatten die italienischen, die spanischen, die französischen Ärztinnen und Ärzte ein Tabu gebrochen.

Ein deutsches Tabu.

Sie entschieden, in der verzweifelten Mangelsituation eher jüngeren Menschen als älteren die Beatmung zuzuteilen.

Vierte Rationalität: das Lebensalter beziehungsweise die restlich zu erwartenden Lebensjahre.

"Also das ist einer der kontroversesten Punkte, die Frage dieses so genannten Alterskriteriums. Ein abstraktes Alterskriterium ist hoch problematisch. Weil es sagt: Jemand in einem bestimmten Alter ist es weniger wert zu retten als jemand anderer. Das ist bei uns verfassungsmäßig nicht zulässig. Und aus meiner Sicht auch zurecht", sagt Alena Buyx.
Unter einem Pavillon sitzen zwei Menschen in Schutzkleidung an einem Tisch und bereiten Tests vor.
Eine Teststation in Bergamo: In der Triage-Diskussion geht es auch um das Postulat der Gleichwertigkeit des Lebens.© picture alliance/abaca/Agazzi Sergio
"Ich möchte wirklich wissen, wer ernsthaft behaupten möchte, dass es keinen Unterschied macht, ob ein Mensch noch wenige Monate oder noch viele Jahre Leben vor sich hat. Wer es wirklich als nicht ungerecht empfindet, einen 95-Jährigen, der ja schon viele Jahrzehnte auf unserer Welt verbringen durfte, der alles erleben durfte, was diese Welt zu bieten hat, den zu retten, anstelle eines vielleicht Fünfjährigen, der all das noch vor sich hat. Das erscheint mir ethisch in einer Weise evident, dass ich die gegensätzlichen Positionen kaum nachvollziehen kann", meint Elisa Hoven, die Leipziger Strafrechtsprofessorin.

Der deutsche Glaube an Letztinstanzen

Es ist ein deutsches Tabu, weil es mit dem als "Euthanasie" zynisch falsch benannten Mordprogramm der Nazis eine historische Fessel gibt, die uns in einer Pandemiesituation scheinbar bindet, obwohl beides nichts miteinander zu tun hat. Eigentlich beschreibt der Begriff "Euthanasie" einen würdigen, schmerzlosen Tod. Und es ist ein deutsches Tabu, weil wir an Letztinstanzen glauben, die doch auch nur menschliche Institutionen sind. Statt stärker der eigenen Souveränität zu vertrauen, verweisen viele Ethiker derzeit auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2006.

"Wenn ich mich da kurz der Bewertung eines Kollegen, des Verfassungsrechtlers Isensee, anschließen darf, der sagte, die Entscheidung sei die Unvernunft selbst. Und das sehe ich auch so. Sie verkehrt den grundrechtlich gebotenen Lebensschutz in sein Gegenteil", sagt Elisa Hoven.
Es ging 2006 um das "Luftsicherheitsgesetz". Der Regierung sollte es die Möglichkeit einräumen, ein gekapertes Flugzeug abzuschießen, bevor es in ein Hochhaus fliegt. In einem Punkt gleicht die Situation dem Triage-Dilemma: Menschen werden sterben, entweder die im Flugzeug oder die im Hochhaus – oder alle. Man muss sich entscheiden. Doch das Aufrechnen der Menschenleben im Flugzeug…

Wenige.

… gegen das Leben der Menschen im Hochhaus…

Viele.

… haben die Verfassungsrichter untersagt.

"Dass der Tod von Tausenden in den Hochhäusern in keinem Verhältnis zu der Lebenserhaltung der Flugzeuginsassen von wenigen Minuten steht, das dürfte rational wohl niemand bezweifeln. Also unter Berufung auf den Wert des Lebens, auf die Würde des Menschen, wird hier der Tod von Tausenden unnötig in Kauf genommen. Das kann schlicht nicht richtig sein. Das Ergebnis zeigt, dass die Prämisse nicht stimmt. Und was das Bundesverfassungsgericht hier tut, ist letztlich die, wie ich meine, blinde Durchsetzung eines Prinzips auf Kosten von Menschenleben", ist Elisa Hoven überzeugt.
Das Denkmodell hinter dem Urteil – hier als Dogma formuliert: Leben ist ein absoluter Wert, nicht wägbar, nicht teilbar, nicht zählbar, mithin ein Wert, der keiner Zeitlichkeit unterliegt. "Lebenswertindifferenz" nennen das die Verfassungsrichter.

Leben ist Leben.

"Das Postulat der Gleichwertigkeit des Lebens kann nicht darüber hinwegtäuschen…", schreibt dagegen Elisa Hoven, "… dass das Leben nun einmal endlich ist und damit immer auch eine quantitative Komponente hat."

Man entrinnt der Zeitlichkeit nicht, nirgendwo

Ich bin nicht neutral. Wie könnte ich auch? Niemand ist neutral in diesen Fragen, weder Verfassungsrichter, noch Mitglieder von Ethikräten. Jeder bringt Vorannahmen, religiöse Überzeugungen oder Ängste mit. Und: Das eigene Alter spielt bei der Bewertung keine kleine Rolle.

Zur Info: Der Autor ist 57. Er steht vor der ersten Schwelle des erhöhten Sterberisikos bei der COVID-19-Pandemie, aber noch fern dem mittleren Alter der Toten, das nach derzeitigen Erkenntnissen bei rund 80 Jahren liegt.

Man entrinnt der Zeitlichkeit nicht, nirgendwo, das ist der große Irrtum philosophischer Idealisten wie der Verfassungsrichter 2006. Ihre Absolutsetzung des Lebens funktioniert nur, wenn dahinter die spekulativ-religiöse Annahme vom ewigen Leben steht. Jenseits dieses Glaubens ist Leben in der Realität stets "Dasein zum Tode". Selbst wenn man Heideggers Postulat nicht teilt, lässt sich die Evidenz dieser Aussage nicht leugnen.
Für die Definition von Leben ist Zeitlichkeit unerlässlich; ohne sie wird der Begriff so sinnleer wie sinnlos: Leben ist Zeitlichkeit. Analog dazu bleibt eine Ethik, die Zeitlichkeit – also Endlichkeit – des Lebens leugnet und damit auch seine Abschätzbarkeit in Stunden, Tagen, Wochen verneint, sinnleer – und damit bei Bewertungsfragen ungerecht.

"Viele Menschen teilen die Intuition, dass sie sagen: Jemand, der 80 ist, hat einfach sein Leben gelebt – also ich sag’s jetzt mal so ganz platt –, jemand der 40 oder 30 oder 20 ist, hat noch sehr, sehr viel vor sich und es ist fairer, wenn man die Chance der Behandlung der Person gibt, die noch nicht so viele Möglichkeiten hatte, ihr Leben zu leben. Das hat in der philosophischen und gerechtigkeitstheoretischen Debatte durchaus auch eine Plausibilität, dieses Argument. Noch mal: In Deutschland ist ein reines Alterskriterium aber verfassungswidrig", betont Alena Buyx.

"Jede Institution kann auch falsche Entscheidungen treffen"

"Jede Institution ist fehlbar. Auch das Bundesverfassungsgericht hat – vor vielen Jahren –, aber es hat entschieden, dass die Strafbarkeit männlicher Homosexualität völlig in Ordnung geht. Also jede Institution kann auch falsche Entscheidungen treffen", meint Elisa Hoven.
"Dennoch könnte man natürlich darüber nachdenken, wie man solche Fairnessargumente in irgendeiner Weise flankierend, so dass sie nicht verfassungswidrig sind, einfließen lassen könnte in etwa einen multikriterialen Prozess. Aber das ist eine Diskussion, die ist im Moment noch voll im Gange", sagt Alena Buyx.
Sollten wir sie nicht auf breiter gesellschaftlicher Basis statt in akademischen Zirkeln führen?

Das ist eine rhetorische Frage, zugegeben. Rhetorische Fragen werden derzeit in der Debatte häufig gestellt. Zum Beispiel in einem Artikel eines Ethikrat-Mitglieds: "Soll man die alten Menschen dieses Landes wirklich mit der Ankündigung in Panik versetzen, mehr als Sterbehilfe hätten sie in solchen Situationen nicht zu erwarten?"

Statt in die Falle zu tappen und diese Frage mit ja oder nein zu beantworten, lohnt ein Blick auf ihren Verdrängungsmechanismus. "Sterbehilfe" wird hier moralisierend gebraucht, als scharfer Verweis, dass man kein Alterskriterium bei der Triage verwenden dürfe.
Das richtige Wort hieße indes "Palliativmedizin" – dann allerdings funktioniert die rhetorische Figur nicht mehr. Palliativmedizin ist keine Drohung, sondern eine Hoffnung. Allerdings eine, die falsche Versprechungen der Intensivmedizin korrigiert, wie der Palliativmediziner Matthias Thöns am Wochenende zu Protokoll gab: "Ich habe noch keinen hochaltrigen Patienten erlebt, der bei unzureichender Immunabwehr eine Beatmung überlebt hat. Das bedeutet, diese Patienten mit Covid-19 werden in den sicheren, anonymen, unbegleiteten Tod geschickt. Das ist eine ethische Katastrophe!"

Denn selbst wer Leben um jeden Preis retten will, muss dem Sterben ins Auge sehen. Beim Triage-Dilemma um die Beatmungsgeräte geht es im Resultat selten um endgültige Lebensrettung, sondern tragischerweise meist nur um einen Zeitgewinn. Als ultima ratio ist die invasive intensivmedizinische Beatmung körperlich schwer belastend und heilt oft nicht, sondern verhindert nur den unmittelbaren Tod.

Die Beatmungsmethode ist "nur ein Notnagel"

Tatsächlich sind die derzeitigen Zahlen wenig ermutigend. Trotz der Beatmung sterben bis zu drei Viertel der COVID-19-Patienten. Und abseits der aktuellen Pandemie: Eine medizinische Meta-Analyse von mehreren Tausend Beatmungspatienten zeigt, dass mehr als die Hälfte innerhalb eines Jahres stirbt, wenn sie länger als 14 Tage beatmet wurden. Die Autoren des Mediziner-Portals "DocCheck" kommen zu einer ernüchternden Aussage: "Die geplante massenhafte Nutzung der Beatmung bei COVID-19 darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Methode nur ein Notnagel ist."

Damit zeigt sich im Triage-Problem bei den Beatmungsgeräten etwas, das sich auch gesamtgesellschaftlich durch Ausgangsbeschränkungen widerspiegelt: Der Versuch, Zeit zu gewinnen.

Wieder die Zeitlichkeit. Die Zeitlichkeit ist Dreh- und Angelpunkt in dieser Pandemie. Ihr muss man sich stellen. Aufgrund unserer Sterblichkeit heißt das in letzter Konsequenz allerdings: Abwarten ist keine Lösung. Der Zeitgewinn durch intensivmedizinische Beatmung kann derzeit auch ein schlechteres Sterben statt eines guten verheißen, weil Intensivmedizin keine Palliativmedizin ist – sie hat andere Prioritäten als das gute Sterben.
Über das gute Sterben lässt sich aber offenbar nur verdeckt reden, wie es der Chefarzt einer Lungenklinik dieser Tage in der "FAZ" tat: "Wir müssen auch in Alten- und Pflegeheime gehen, damit die Menschen dort die Gelegenheit bekommen, eine Patientenverfügung zu machen, damit wir wissen, wenn diese älteren Menschen zu uns kommen, wie stark wir intervenieren sollen."

Mit einer Patientenverfügung spielt man die Entscheidung, wer beatmet werden soll, von den Ärzten zurück zu den Kranken. Und das ist richtig so, nimmt man das erste Motto dieser Sendung ernst: "Moralisch sein heißt, sich um die eigene Pflicht zu kümmern."

Unser aller moralische Pflicht, besteht darin, die einzige Rolle vorab zu reflektieren, die wir selbst im Triage-Dilemma einnehmen – unsere Rolle als Sterbende in der Pandemie. Was wir im Sterben intensivmedizinisch erleiden und erdulden wollen, sollten wir als Gesunde überdenken. Wie auch immer unsere individuellen Überlegungen ausfallen, helfen sie den Ärztinnen und Ärzten in ihrem moralischen Dilemma. Es entlastet sie.

"Wenn wir dem Arzt nichts weiter an die Hand geben, ihn allein lassen, ihm komplett die Verantwortung aufbürden, dann schaffen wir sowohl die Gefahr, dass nach Kriterien entschieden wird, die wir nicht für richtig halten. Aber auch schaffen wir die Gefahr, dass ein Arzt sich von dieser Situation schlicht überfordert fühlt", bekräftigt Elisa Hoven.
Nachsatz: Ein Werturteil treffen heißt, etwas zu begründen und es dann als handlungsleitend für sich zu akzeptieren. Selbstverständlich gibt es andere Werturteile. Nur im Verfahren, wie man zu ihnen gelangt – ob redlich oder unredlich, nachvollziehbar oder intransparent –, entscheidet sich ihre Qualität. Dabei gilt für Journalisten wie für Ärzte, wie für alle Berufe das zweite Motto dieser Sendung: "Ultra posse nemo obligatur." – Niemand ist verpflichtet, über sein Können hinaus zu handeln.

Sollte mein Können an dieser Stelle nicht gereicht haben, bitte ich um Entschuldigung.

Autor: Florian-Felix Weyh
Sprecherinnen und Sprecher: Eva Meckbach, Barbara Becker, Rosario Bona, Gilles Chevalier und Florian-Felix Weyh
Technische Realisierung: Ralf Perz
Regie: Frank Merfort
Redaktion: Martin Mair

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