Reliquie oder Fälschung?
Auch wenn die Verehrung von Reliquien nicht mehr in unsere Zeit passt: Das Turiner Grabtuch wird noch immer bestaunt, befragt und verehrt. Um wohl kaum eine Reliquie ranken sich derart viele Spekulationen wie um das Leinentuch, auf dem angeblich Jesus Christus höchstpersönlich abgebildet sein soll.
"Ich habe die Freude zu verkünden, so es Gott gefällt, dass ich mich am 21. Juni auf Pilgerreise nach Turin begeben werde, um dort das Heilige Grabtuch anzubeten."
Papst Franziskus höchst persönlich wird in diesem Jahr, und zum ersten Mal, das Santa Sindone besuchen, in Turin und bei der diesjährigen offiziellen Enthüllung dieses Stück Stoffes, das als eine der wichtigsten Reliquien der römisch katholischen Kirche gilt. Der Besuch des Papstes zeige, erklärt Cesare Nosiglia, Erzbischof von Turin, augenzwinkernd, dass es doch noch Menschen gibt, die an die Heiligkeit des Grabtuchs glauben und deshalb in die piemontesische Stadt pilgern:
"Dass der Papst kommt, wenn wir das Sindone ausstellen, ist doch wunderbar für uns. Angesichts der Tatsache, dass doch alle den Papst bei sich haben wollen und er sich gerade für uns entschieden hat, zeigt doch, dass an der wundersamen Geschichte des Sindone etwas dran sein muss. Für uns ist sein Besuch deshalb sehr wichtig."
Das Turiner Grabtuch ist nicht nur eine der am meisten verehrten katholischen Reliquien, sondern auch eine der umstrittensten, wenn nicht gar die umstrittenste überhaupt. Und: sie ist die am meisten von Wissenschaftlern erforschte Reliquie der katholischen Kirche.
Das Sindone ist ein 4,36 Meter langes und 1,10 Meter breites Leinentuch, das ein Ganzkörperbildnis der Vorder- und der Rückseite eines erwachsenen Mannes zeigt.
Dieses Tuch wird seit dem 17. Jahrhundert, und nach einer, so Historiker, abenteuerlichen Reise durch halb Europa, in einer Seitenkapelle des Doms in Turin aufbewahrt. Es wird von Gläubigen als jenes Grabtuch verehrt, in das Jesus von Nazareth nach der Kreuzesabnahme eingewickelt und begraben wurde.
Franco Testore kennt das Tuch aus dem effeff. Er ist Stoffexperte am technologischen Stoffinstitut der polytechnischen Universität Turin:
"Das ist ein typisches Leinentuch. Zwei weitere Charakteristiken des Sindone: die Negativdarstellung eines Körpers und dessen erstaunliche optische Dreidimensionalität. Viele glaubhafte Studien sind davon überzeugt, dass diese Reliquie aus dem ersten Jahrhundert stammen könnte."
Heftige Debatte der Historiker und Theologen
Doch nicht alle Experten denken so. Im Gegenteil. Der Ursprung des Tuches ist seit langem Gegenstand heftigster Debatten von Theologen, Forschern und Historikern. Fakt ist: die dokumentierte Ersterwähnung des Grabtuches stammt aus dem 14. Jahrhundert. Diese Zeitangabe deckte sich erstaunlicherweise mit den Resultaten dreier Karbontestuntersuchungen, die Ende der 1980er Jahren in wissenschaftlichen Laboratorien in drei unterschiedlichen Ländern durchgeführt wurden. Diesen Untersuchungen mit den Mitteln der so genannten C-14-Methode zufolge stamme das Tuch aus der Zeit zwischen 1260 und 1390.
Luigi Garlaschelli wundert das nicht. Garlaschelli ist Professor an der Universität im norditalienischen Pavia und lehrt dort experimentelle Chemie. Der Wissenschaftler und seine Mitarbeiter stellten eine Kopie des Sindone her - in nur sechs Tagen – und sorgten damit für großes Aufsehen. Garlaschelli wollte beweisen, wie relativ einfach es ist, eine solche vermeintliche Reliquie künstlicher herzustellen. Dafür wurde zunächst ein Leinentuch hergestellt, nach den gleichen Methoden wie zur Zeit Christi. Dann versuchten Garlaschelli und seine Mitarbeiter die vermeintliche Jesusdarstellung auf das Tuch zu bringen:
"Das nachgewebte Tuch hat die gleiche Dicke und Schwere wie das Original. Wir haben es dann auf dem Körper eines unserer Assistenten ausgebreitet und das Leinentuch mit einem Tampon abgetastet, der ganz mit Ockerfarbe voll gesogen war. Dann haben wir künstlich die Darstellung auf alt getrimmt. Dafür nutzten wir einen Ofen. 145 Grad für einige Stunden. Dann haben wir die Farbpigmente ausgewaschen."
Et voilà: ein neues Sindonetuch war entstanden. Die auf dem Original zu erkennende Darstellung des Mannes rührt allerdings nicht von der Ockerfarbe und ihren Pigmenten her. Die seien nämlich mit den Jahrhunderten längst verschwunden, weiß Luigi Garlaschelli.
Die Hypothese des Wissenschaftlers ist die, dass Ocker im Mittelalter nicht nur ein reines Farbpigment war, sondern auch Säure enthielt. Folglich sorgte die im Ocker enthaltene Säure dafür, dass sich der Stoff überall dort, wo die Farbe aufgetragen wurde, mit der Zeit verfärbte und diese Verfärbung im Stoff blieb. Auch dieser Prozess konnte experimentell nachgewiesen werden.
Und das vermeintliche Blut aus den Wunden Christi, das auf dem Originaltuch im Dom zu erkennen ist? Auch dafür hat der Forscher eine Antwort bereit: man trug die Blutfarbe mit einem Pinsel auf. Ist also mit Garlaschellis Tests und den Radiokarbonuntersuchungen eindeutig bewiesen, dass das Sindonetuch tatsächlich eine Reliquienfälschung aus dem Mittelalter ist? Nein, das sei nicht der Fall, sagt mit Bestimmtheit Pier Luigi Baima Bollone, Professor für Rechtsmedizin an der Universität Turin und Sindoneexperte:
"Mir ist es bei meinen Recherchen am Tuch gelungen nachzuweisen, dass die Flecken tatsächlich menschliche Blutflecken sind. Der wohl überzeugendste Beweis für die Echtheit kommt vom Blütenstaub, der auf dem Grabtuch entdeckt wurde."
Blütenstaub von über 10 Pflanzen, die typisch für den südöstlichen Mittelmeerraum sind. Pflanzen, die vor allem im Großraum Jerusalem wachsen. Ein weiteres Argument für die Echtheit des Sindone: Der auf dem Grabtuch zu sehende Körper zeigt knapp unterhalb der Hände, an den Handwurzeln, Blutspuren von möglichen Verletzungen durch das Einschlagen von Nägeln durch die Handwurzeln ans Kreuz.
Brisant dabei ist, dass das Eintreiben der Nägel an diesen Stellen - und nicht in den Handteller - die historisch korrekte Form ist, wie Römer im ersten Jahrhundert nach Christus Menschen ans Kreuz geschlagen haben, weil nämlich nur so das Gewicht des Körpers am Kreuz überhaupt getragen werden konnte – und eben nicht durch Einschlagen der Nägel in die Handteller, was seit dem Frühmittelalter und bis in unsere Zeit hinein immer als die scheinbar "richtige" Form der Kreuzigung galt. Wie aber sollte ein möglicher Fälscher des Sindone im Spätmittelalter darauf kommen, die historisch korrekte Form der Kreuzigung durch die Handwurzeln darzustellen, wenn um ihn herum und seit Jahrhunderten nur die historisch falsche Methode in den Darstellungen bekannt und üblich ist?
Die Grabtuchforschung ist ein begehrtes Forschungsfeld: rund zehn Forschungsinstitute und Sindonegesellschaften untersuchen die Reliquie. Ernste Wissenschaftler, ob gläubig oder nicht, und Scharlatane mit Verschwörungstheorien tummeln sich im, so schrieb einmal die Vatikanzeitung "L'Osservatore Romano", "Sindone-Zirkus".
Obwohl Kardinal Ballestrero, Ende der 1980er Jahre Erzbischof von Turin, die Datierung aufgrund der Radiokarbonmethode, vom 14. Jahrhundert war die Rede, akzeptierte, und auch der Vatikan keinen Protest dagegen einlegte, regte sich Kritik in Wissenschaftlerkreisen.
Brachte ein Blitz das Tuch zum Brennen?
Experten verweisen auf die Verfälschung des Untersuchungsergebnisses zur Stoffprobe. Diese sei nämlich, behaupten sie, im Laufe der Jahrhunderte durch den Befall von Pilzen und Bakterien befallen worden. Und das bedeute nichts anderes, als dass es unmöglich sei, mit Bestimmtheit zu definieren, dass das Sindone aus dem Mittelalter stamme.
Giulio Fanti, Professor für Ingenieurwissenschaften an der Universität Padua, führte unter Berücksichtigung der Hinweise auf Pilz- und Bakterienverfall eine erneute Untersuchung des Tuches durch. Er und sein Team glauben relativ genau sagen zu können von wann das Sindone stammt:
"Wir können mit ziemlicher Bestimmtheit sagen, dass dieses Grabtuch zwischen den 30 Jahren vor Christus oder den Jahrzehnten danach stammt. Hier haben wir einen Spielraum von sagen wir 250 Jahren."
Wie aber kam die Darstellung auf das Tuch?
Die Genauigkeit der Körperabbildung und die relativ gut zu erkennende Dreidimensionalität der Abbildung lassen sich, da sind sich die meisten der Skeptiker der Echtheit des Sindone einig, nicht befriedigend zu erklären. Bisherige Erklärungsansätze wie etwa Kontaktabdruckverfahren, so genannte Hybridmechanismen und andere Methoden liefern keine so genauen Detailansichten eines Körpers. Auch Ingenieur Fanti weist darauf hin, dass ein menschlicher Körper, der in ein solches Leinentuch eingewickelt wurde keine so präzise Abbildung auf der Oberfläche des Stoffes erzeugen würde. Der Körper eines Menschen wäre, einmal eingewickelt, auf dem Stoff verzerrt wiedergegeben, und zeige nicht solche überraschenden Details.
Skeptiker der Echtheit des Sindone sehen in diesem Umstand einen untrügerischen Beweis dafür, dass es sich um eine Fälschung handelt. Auch die von verschiedenen katholischen Wissenschaftlern in der Vergangenheit vorgetragene These, wonach ein unerklärlicher Blitz den Körper auf das Tuch brannte, scheint nicht zu greifen: auch in einem solchen Fall würde keine Projektion des Menschen wiedergegeben, sondern nur eine verzerrte Darstellung.
Aber was sagt die katholische Amtskirche zu den jüngsten und höchst widersprüchlichen Forschungsergebnissen? Nichts. Jedenfalls nicht offizielles.
Tatsache ist, dass die Erzbischöfe von Turin, wo ja das Sindone aufbewahrt wird, immer wieder Stoffproben durch Wissenschaftler entnehmen ließen. Man wollte sich nicht obskurantistisch geben. Kirchliche Repäsentanten reagierten und reagieren immer wieder gelassen auf die zum Teil heftigen Diskussionen, vor allem in den Medien, um die Frage, ob das Sindone echt oder falsch sei.
In seiner Kirche, so Padre Federico Lombardi, Pressesprecher des Vatikans und des Papstes, der der offizielle Besitzer des Grabtuches ist, auch wenn es in Turin verwahrt wird, ist man auf einen hundertprozentigen wissenschaftlichen Nachweis nicht angewiesen.
Padre Lombardi:
In seiner Kirche, so Padre Federico Lombardi, Pressesprecher des Vatikans und des Papstes, der der offizielle Besitzer des Grabtuches ist, auch wenn es in Turin verwahrt wird, ist man auf einen hundertprozentigen wissenschaftlichen Nachweis nicht angewiesen.
Padre Lombardi:
"Der Mensch ist heute durcheinander, desorientiert. Die heutige Kultur, in der man nur glaubt was man sieht und anfassen kann, kommt ihm nicht entgegen. Und deshalb scheint ein so mysteriöses Symbol wie das Sindone eine Tür zu einer Dimension zu öffnen, die man gerade heute immer wieder vergisst, die aber fundamental ist."
Lombardi meint damit jene Dimension, die Skeptiker und Agnostiker von den Gläubigen unterscheidet. Und so wird schließlich, das geben selbst entschiedene Gegner der Echtheitsthese zu, nur der jeweilige Glaube einer Person darüber entscheiden, ob in dem Tuch der verstorbene Christus eingewickelt war oder nicht. Das ist inzwischen auch offizielles Credo der Amtskirche in Sachen Sindone.