Christian Lammert ist Politikwissenschaftler und Professor für nordamerikanische Politik an der Freien Universität Berlin. Er ist Autor mehrerer Bücher über das US-amerikanische politische System sowie die Krise der Demokratie. Zuletzt erschien von ihm 2022 im Campus-Verlag das Buch "Das Versprechen der Gleichheit" (gemeinsam mit Boris Vormann).
Demokratie in Gefahr
Die gleichberechtigte Teilhabe muss auch global umgesetzt werden, fordert der Politikwissenschaftler Christian Lammert. © imago / fStop Images / Malte Mueller
Das nie eingelöste Gleichheitsversprechen
Die Idee der Gleichheit ist zentrales Element der Demokratie. Verwirklicht wurde sie aber nie, kritisiert der Politologe Christian Lammert. Sozial und wirtschaftlich Benachteiligte bleiben vielfach ausgeschlossen. Das lässt unsere Demokratie wanken.
Stellen Sie sich vor, Sie wurden 1632 als weißer Junge in England geboren. Ihre Eltern sind wohlhabende Bürger. Sie selbst werden später ein erfolgreicher Unternehmer und sind Teil der aufsteigenden kaufmännischen Klasse. Sie schreiben gegen die absolutistische Ordnung an und setzen sich für die Gleichheit der Bürger ein. Sie meinen damit: die Gleichheit der Privilegierten, selbstverständlich allesamt Männer.
Oder nehmen wir an, Sie sind 1805 geboren. Wieder sind Sie ein weißer Junge aus gebildeter, wohlhabender Familie. Sie verstehen sich als progressiv, sind gegen die Sklaverei und für Demokratie und Gleichheit. Gleichzeitig erscheint Ihnen der nordamerikanische Kontinent als Tabula rasa und Sie befürworten die Westexpansion und den damit verbundenen Siedlerkolonialismus, der die indigene Bevölkerung vertrieb, entrechtete und zu Tausenden ermordete.
Und stellen wir uns schließlich vor, Sie würden in 200 Jahren geboren. Wie würden Sie auf unsere heutige Zeit zurückblicken? Vielleicht wären Sie entsetzt über den Zustand der Demokratien, in der zwar vielerorts prinzipiell die Gleichheit vor dem Gesetz herrscht, aber faktisch Ungleichheiten dominieren.
Wer zählt zur Gemeinschaft der Gleichen?
Ganz klar: Die Idee der Gleichheit war und ist ein wichtiger Baustein zur Legitimation von politischer Herrschaft in repräsentativen Demokratien. Liberale Demokratien müssen sich zum Prinzip der Gleichheit bekennen, wollen sie die Unterstützung ihrer Bürger haben.
Doch wer zur Gemeinschaft der Gleichen gezählt wird und wer nicht, ist bis heute umkämpft, wie die Black Lives Matter Bewegung in den USA aktuell zeigt. Noch problematischer wird es, wenn wir auf den ökonomischen Bereich schauen. Hier fordert kaum jemand, dass alle gleich sein sollen, ganz im Gegenteil. Aber zu viel an ökonomische Ungleichheit kann der Demokratie schaden. Deshalb muss der Staat die nötigen Ressourcen zu- und umverteilen, um auch so Legitimation zu erzielen und die BürgerInnen zufriedenzustellen.
Ausbeutung anderer Länder statt Umverteilung
Das lässt sich durch sozialpolitische Umverteilung im Innern erzielen. Historisch betrachtet war das allerdings eher die Ausnahme. Stattdessen haben Demokratien oft Strukturen geschaffen, um durch Ausbeutung anderer den Kuchen zu vergrößern, den es unter den Mitgliedern der Gemeinschaft der Gleichen zu verteilen galt. Die Westausdehnung und die Sklaverei in den USA, aber auch die Ausplünderung der Kolonien durch den globalen Norden sind Beispiele, wie solche zusätzlichen Ressourcen geschaffen wurden. Gleichheit für die einen erkaufte man so immer durch Ungleichheit im Verhältnis zu anderen.
Doch dieses Modell kommt momentan an seine Grenzen: Sklaverei ist zum Glück schon lange keine legitime Option mehr, wirtschaftliches Wachstum auf Kosten der Erde lässt sich auch immer schwerer rechtfertigen, und nicht zuletzt ist auch der globale Süden immer weniger bereit, sich der Logik der postkolonialen Ausbeutung unterzuordnen. Es stellt sich also die Frage, ob die Idee der Gleichheit im aktuellen globalen Kontext noch zur Legitimation von politischer Herrschaft brauchbar ist?
Wir brauchen globale Umverteilung
Zwei Szenarien lassen sich denken. Das erste hat Donald Trump aufgezeigt: Rückzug in einen exklusiven nationalstaatlichen Raum, Grenzen dicht und die Gemeinschaft der Gleichen kleiner machen und wieder ethnisch definieren. Auf der globalen Ebene gibt es nur Gewinner oder Verlierer.
Das zweite Szenario ist der bessere Weg, aber auch der kompliziertere: Gleichheit und Demokratie muss jenseits und mit dem Nationalstaat neu gedacht werden. Menschenrechte und Staatsbürgerrechte müssen neu justiert werden, globale Märkte müssen stärker reguliert und Umverteilung global gedacht werden.
Das heißt nicht das Ende des Nationalstaats. Aber der Nationalstaat muss einige seiner Hoheitsrechte abgeben. Und ohne ein globales System der Umverteilung, das Kooperation in Steuer- und Transfersystemen zwischen den Nationalstaaten zur Grundlage nimmt, lässt sich globale Politik und Herrschaft nicht mit der Idee der Gleichheit legitimieren.