"Das Urteil wird große Signalwirkung haben"

Axel Harneit-Sievers im Gespräch mit Joachim Scholl · 08.08.2013
Vor acht Monaten führte die Vergewaltigung einer 23-Jährigen in Indien zu heftigen Protesten. Das Gerichtsverfahren verzögert sich, doch das Land sei weiterhin sensibilisiert, sagt Axel Harneit-Sievers von der Heinrich-Böll-Stiftung. Die Berichterstattung über Misshandlungen habe "massiv zugenommen".
Joachim Scholl: Am 16. Dezember 2012 stieg in Neu-Delhi die 23-jährige Jyoti Singh Pandey mit einem Freund in einen Bus. Dort wurde sie während der Fahrt von mehreren Männern überfallen, misshandelt, vergewaltigt, gefoltert, ihr Freund bewusstlos geschlagen, dann warfen die Täter ihre Opfer einfach auf die Straße. Zwei Wochen später starb die junge Frau an ihren schweren Verletzungen. Der Fall machte weltweit Schlagzeilen, in Indien kam es zu Demonstrationen und Protesten, seit Januar stehen die Angeklagten vor Gericht, auch ein Jugendlicher ist darunter.

In dieser Woche wurde das Urteil über ihn erneut verschoben, und bei uns im Studio ist jetzt Axel Harneit-Sievers, er leitet in Neu-Delhi die dortige Niederlassung der Heinrich-Böll-Stiftung. Guten Morgen!

Axel Harneit-Sievers: Guten Morgen!

Scholl: Dieses Verbrechen, Herr Harneit-Sievers, hat ein weltweites Medienecho ausgelöst. Wie reagiert nun die indische Öffentlichkeit auf die Gerichtsprozesse?

Harneit-Sievers: Die indische Öffentlichkeit wartet mit Spannung auf das Ergebnis der Gerichtsprozesse. Es hat nach der Vergewaltigung, wie Sie erwähnten, eine große Protestwelle gegeben, auf die die Regierung mit für indische Verhältnisse ausgesprochen schnellen Gesetzesänderungen reagiert hat. Es hat auch schon einige andere Urteile in anderen Fällen gegeben, wo er Staat oder wo die Gerichte sehr schnell reagiert haben.

In diesem Fall jetzt beginnt eine gewisse, wie soll ich sagen, Ernüchterung, glaube ich, in weiten Teilen der Gesellschaft, dass es weiterhin solche Verzögerungen gibt. Man muss allerdings durchaus anerkennen, es handelt sich um sehr schwerwiegende Verfahren, auf den Tatvorwurf steht nach indischem Gesetz die Todesstrafe. Es muss also ein Verfahrensverlauf gesichert sein, der juristisch Mindestkriterien erfüllt. Und von daher ist es nicht überraschend, dass es immer wieder zu Verzögerungen kommt. Die Öffentlichkeit wird damit auch erst mal weiter leben müssen und auch weiterleben können, das ist nicht ein grundsätzliches Problem.

Scholl: Man kann die Einzelheiten gar nicht schildern, was dieser jungen Frau an Grausamkeiten angetan wurde. Wie wird, Herr Harneit-Sievers, darüber eigentlich in den indischen Medien diskutiert, auch nach den Demonstrationen, Kundgebungen? Sie sagten schon, die Gesetzesverschärfung – ist hier auch eine allgemeine Diskussion über den Zustand, über die Stellung der indischen Frau in der Gesellschaft zu lesen?

Harneit-Sievers: Es hat Reaktionen gegeben, wo das Spektrum von Schock zu Wut, aber auch teilweise bis hin zu ausgesprochen, wie soll ich sagen, reaktionären Stellungnahmen reicht. Unterschiedliche Personen und Gruppen in der Gesellschaft haben sehr unterschiedlich darauf reagiert. Klar, die gesamte Gesellschaft ist schockiert, aber die Schlüsse, die daraus gezogen werden, sind sehr unterschiedlich. Die Einen fordern mehr Sicherheit für Frauen in Delhi, da sind auch einzelne Maßnahmen unternommen worden, die anderen fordern grundlegender eine Neudefinition des Frauen- und vor allen Dingen auch des Männerbilds in der indischen Gesellschaft. Das betrifft vielleicht nicht ganz Indien, aber jedenfalls die nordwestindische Gesellschaft trägt ausgesprochen harsche, patriarchalische Züge, und zwischen dieser Kultur, zwischen dieser patriarchalischen Kultur und diesem Vergewaltigungsfall besteht natürlich ein Zusammenhang. Wie der im Einzelnen aussieht, das kann man lange diskutieren, aber das wird im allgemeinen so anerkannt.

Gleichzeitig hat es auch sehr, wie soll ich sagen, sehr reaktionäre Äußerungen gegeben, einzelne religiöse und politische Führer haben im Grunde genommen die alte Behauptung wieder aufgelegt, die sagt, dass das Opfer letztlich schuld ist und dass sich die Frauen besser nicht in der Öffentlichkeit alleine bewegen sollten und so etwas. Das ist allerdings keine Mehrheitsposition, sondern das waren Stimmen, die auch dann mindestens in der englischsprachigen Öffentlichkeit doch sehr stark auch kritisiert wurden und auch sehr entschieden kritisiert wurden.

Was sich verändert hat in den letzten Monaten, was wirklich eigentlich sehr schnell nach dem Vergewaltigungsfall vom Dezember passiert ist, dass die öffentliche Berichterstattung über Vergewaltigung massiv zugenommen hat. Wenn man heute eine indische Tageszeitung aufschlägt, gibt es kaum einen Tag, wo nicht mehrere Fälle von Vergewaltigung, Gang Rapes, Kindesmissbrauch, das ganze Spektrum solcher Übergriffe und solcher kriminellen Akte, Fälle davon geschildert werden. Es gibt auch deutliche Veränderungen zum Beispiel bei den Statistiken von Fällen, die der indischen Polizei gemeldet werden. Es gab ja in der Vergangenheit vor der Vergewaltigung im Dezember eine Tendenz von vielen Frauen, nichts zu sagen, aus Scham, nicht solche Übergriffe der Polizei zu melden, das hat sich definitiv geändert. Die Zahl der angezeigten Vergewaltigungen ist massiv gestiegen, hat sich, glaube ich, verdoppelt oder verdreifacht in Delhi.

Scholl: Über den Prozess gegen die indischen Vergewaltiger – Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Axel Harneit-Sievers von der Heinrich-Böll-Stiftung in Neu-Delhi. Herr Harneit-Sievers, die indische Frauenrechtsaktivistin Ranjana Kumari hat in einem Interview kürzlich mit der Deutschen Welle die Hoffnung geäußert, dass der Prozess jetzt gegen diese Täter nun ganz entscheidend dafür sei, wie das indische Rechtssystem auch in Zukunft Gewalt gegen Frauen bewertet, und dass es auch paradigmatisch sein könnte, für eine allgemeine Wende in der Gesellschaft, im Bewusstsein – und Sie haben es schon angesprochen, so dieses patriarchalische Bewusstsein, dass vielleicht auch Gewalt gegen Frauen wegredet oder für sekundär erklärt. Ist es auch Ihr Eindruck, dass die Verurteilung dieser Täter jetzt irgendwie ein ganz entscheidender Schritt hin zu einer Wende sein könnte?

Harneit-Sievers: Unbedingt, das Urteil wird große Signalwirkung haben. Gleichzeitig rechne ich damit, dass es ein Urteil ist, mit dem wir nicht zufrieden sein werden, denn ich rechne damit, dass gegen Einzelne der Täter mindestens Todesurteile ergehen werden. Und das können wir nicht gutheißen und nicht richtig finden. In der indischen Gesellschaft besteht allerdings auf breiter Front die Überzeugung, dass die Todesstrafe für solche Fälle angemessen wäre.

Scholl: Sie arbeiten mit der Heinrich-Böll-Stiftung auch daran, dass sich diese alte, patriarchalische Einstellung zur Frau in der indischen Gesellschaft ändert, auch diese furchtbare Tradition der Gewalt eben. Sie haben im April eine Veranstaltung dazu organisiert. Ist das Land ja wirklich bereit für einen Wandel, wie waren Ihre Beobachtungen?

Harneit-Sievers: Das Land wandelt sich an vielen Fronten, das Land ist groß, es gibt eine neue Mittelklasse, es gibt eine neue, relativ gut ausgebildete jugendliche Gesellschaft, die Ideale und Wertvorstellungen hat, die eigentlich der globalen Mittelklasse entsprechen. Auch die junge Frau, die zum Opfer der Vergewaltigung geworden ist im Dezember, repräsentiert ja diese Gruppe von …

Scholl: Sie war eine junge Medizinstudentin.

Harneit-Sievers: Ja, eine Medizinstudentin aus nicht ganz armem Hause, aber jedenfalls nicht aus wohlhabendem Hause, aus einer Familie, die versucht hat, über Bildung, auch Bildung für Ihre Töchter – was absolut nicht selbstverständlich ist –, wirklich voranzukommen. Und die repräsentiert die Hoffnung, die weite Teile der indischen Gesellschaft haben. Insofern, dieser Wandel findet statt, und er trifft gleichzeitig natürlich auf einen großen Pool an Armut und Rückständigkeit in verschiedenster Weise, was Wertvorstellungen angeht, Wert- und Moralvorstellungen. Und es gibt immer wieder Situationen, wo das halt direkt in Konflikt miteinander gerät.

Und die Form des Umgangs zwischen Männern und Frauen in Nordwestindien – also in Delhi kann man das überall beobachten, aber generell in Nordwestindien – sind, ich habe manchmal den Eindruck, dass man sagen könnte, die sind fast von einer Unmöglichkeit einer, wie soll ich sagen, entspannten Kommunikation geprägt. Das ist eigentlich das größte Problem, der Großteil der Männer ist nicht in dem Sinne physisch aggressiv, auch wenn es sozusagen zu Tätlichkeiten häufiger kommt, häufiger als in jedem anderen Teil der Welt, in dem ich jemals gewesen bin - aber Übergriffe sozusagen, Berührungen und solche Dinge in der U-Bahn, so was passiert da. Aber es sind natürlich auch nicht die Mehrheit der Männer, die so etwas tut.

Man muss auch einfach sagen, dass viele dieser jungen Männer relativ wenig Chancen für sich sehen, die Frauen sind also inzwischen vielfach besser ausgebildet, sind zielstrebiger, sind stärker, vielleicht auch besser diszipliniert einfach, um voranzukommen. Es gibt viele frustrierte junge Männer, und gleichzeitig eine Gesellschaftsstruktur, die es nicht leicht macht, einfach ein entspanntes gleiches Verhältnis in der Kommunikation zwischen den Geschlechtern, dazu zu kommen.

Scholl: Was können Sie als Institution, als Heinrich-Böll-Stiftung, hier leisten?

Harneit-Sievers: Ja, wir sind eine grüne politische Stiftung, eine kleine grüne politische Stiftung in einem großen Land. Jetzt auf breiter Basis Umdenkprozesse einzuleiten, das können wir sicherlich nicht als unsere Aufgabe ansehen. Wir können indische Organisationen, also Frauenrechtsorganisationen, Frauenorganisationen, von denen es viele gibt, dabei unterstützen in ihrer Arbeit für mehr Gerechtigkeit unter den Geschlechtern, wir können – das tun wir momentan gerade in einer ganzen Reihe von Projekten – das Bewusstsein dafür schärfen, welchen ökonomischen Beitrag eigentlich die Frauen in Indien leisten.

Das ist eine Haltung in weiten Teilen der Gesellschaft, die ja auch aus Deutschland nicht unbekannt ist, wo die gesamte weibliche Arbeit, sei es im Haushalt, sei es auf dem Feld – Indien ist nach wie vor wesentlich eine landwirtschaftliche Gesellschaft – überhaupt nicht als produktive Arbeit gewertet wird, und in Indien wie in Europa wird sozusagen die gesellschaftliche Wertschätzung einer Person ganz wesentlich natürlich über ihren arbeitsmäßigen Beitrag zum Familieneinkommen, zum Leben definiert. Das ist jetzt ein Thema, an dem wir gerade sehr stark sind, mit verschiedenen Projekten, mit einem Film, den wir gemacht haben und diversen Studien, die wir für Frauenorganisationen erstellen lassen - die Rolle von Frauen in der Wirtschaft, also auch ihre makroökonomische Bedeutung, dafür stärker das Bewusstsein zu schaffen.

Scholl: Gewalt gegen Frauen in Indien und ein neues Bild der Frau in Indien, wir haben dazu Axel Harneit-Sievers gehört, er leitet die Heinrich-Böll-Stiftung in Neu-Delhi. Danke für Ihren Besuch und alles Gute für Ihre Arbeit!

Harneit-Sievers: Danke sehr!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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