Das Vergangene im Gegenwärtigen

Von Bernhard Doppler |
Der russische Komponist Modest Mussorgski hat gesagt, er möchte das Vergangene im Gegenwärtigen aufscheinen lassen. Und auch Andrea Moses scheint dies bei ihrer Inszenierung der "Chowanschtschina" am Anhaltischen Theater in Dessau beherzigt zu haben.
Es ist ein über 300 Jahre zurückliegendes Detail aus der Geschichte Moskaus, das Modest Mussorgski in seinem musikalischen Volksdrama "Chowanschtschina" rekonstruiert: einen Putsch der Strelitzen zur Zeit der Erbstreitigkeiten vor der Thronbesteigung Peters des Großen 1698; eine Zeit der Aufstände, Hinrichtungen, Plünderungen, Verschwörungen und der Religionskämpfe - und doch ist das Panorama, das "Chowanschtschina" entwirft, gespenstisch aktuell: zur Zeit der Komposition der Oper natürlich in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, aber durchaus auch 2011. "Das Vergangene im Gegenwärtigen – das ist meine Aufgabe" erklärt Mussorgski, wobei seine Perspektive dabei klar ist: Dem russischen Volk will Mussorgski zeigen, was man "aus ihm zusammenbraut".

"Chowanschtschina" übersetzt: "Die Sache Chowanski", des Anführers der Strelitzen: Fürst Iwan Chowanski und sein Sohn Fürst Andrej Chowanski, Wüstlinge, wie ihre plündernden, zum Aufstand bereiten Anhänger. "Chowanschtschina": die "Schweinerei Chowanski" hat später Zar Peter geurteilt.

Regisseurin Andrea Moses lässt die Oper am Roten Platz in Moskau spielen, doch die roten Kathedralen sind mit blasphemischer Werbung übermalt. "MacDonald this is my body”, "Coca Cola this is my blood” (und zitieren damit den russischen Maler Alexanr Kosolapov). Die Silhouetten dieser Kirchen lassen sich auch, wenn die Vororte, in denen die Strelitzen wohnen, gezeigt werden, im eindrucksvollen satirischen Bühnenbild von Christian Wiehle in ein von Menschen wimmelndes Hochhaus verwandeln.

Mag sein, in Dessau denkt man vor allem an die Umstürze von 1989, an die damit verbundenen Utopien und Enttäuschungen, aber auch Assoziationen zu den Plätzen der Umstürze in Kairo und Tunis stellen sich ein. Andrea Moses spielt durchaus lustvoll mit solcher Aktualität, etwa wenn der alte Strelitzenfürst bei einer seiner Ansprachen wie Diktator Gadaffi mit seinem Regenschirm posiert. Doch die Aktualisierungen wirken nirgendwo konstruiert, sondern ergeben sich aus der lustvollen, psychologisch genauen Personenführung bei jedem einzelnen Chormitglied und dem satirischen Kommentar der Musik, die damit durchaus das 20. Jahrhundert, Dimitirij Schostakowisch, vorwegnimmt, dessen nachträgliche Instrumentierung von Mussorgskis Partitur in Dessau auch gespielt wird.

Plündernder Mob, Bedrängung einer Ausländerin (einer Deutschen in Moskau), während das Volk weg sieht, Koalitionen und Intrigen der Herrschenden, der Fürsten, und viel religiöser Fundamentalismus: die Altgläubigen unter ihrem Führer Dossifei. Am Finale gibt es kollektiven Selbstmord. Nicht durch Verbrennung, wie im Original, sondern in Andrea Moses Inszenierung durch Gas, wie beim kollektiven Selbstmord einer religiösen Sekte im kalifornischen Jonestown. Chowanschtschin-Schweinereien sind auch Schweinereien des 21. Jahrhunderts.

Das Konzept von Intendant Andre Bücker, in Dessau "Grand opera" auf der für die kleine Stadt scheinbar viel zu großen Bühne zu zeigen, ist glänzend aufgegangen. Vor allem der Chor, verstärkt durch Extrachor, Kinderchor und die Chöre Weimars - das Nationaltheater Weimar ist Koproduzent -, aber auch das Orchester und ein sehr engagiertes Ensemble, 200 Mitwirkende also, setzen kraftvoll und mit viel komödiantischer und musikalischer Energie das so häufig sonst eingeschränkte Potenzial des Theaters frei.

Theatralisch lustvoll, wie die Strelitzen (besonders komödiantisch: Alexey Antonov als alter Chowanski) mit dem germanophilen Golizyn (Angus Wood) koalieren, und schließlich die unheimliche Figur des kalten Technokraten und Drahtziehers Schaklowity (eindrucksvoll Ulf Paulsen) die Bühne betritt, oder wenn der Anführer der Altgläubigen, Dossifej (Pavel Shumelvich), ein fundamentalistischer Sektenführer, sich auch sängerisch sehr eindrucksvoll orgelnd Respekt verschafft.

Dass vier Sänger Russisch als Muttersprache haben, unterstützt sicherlich die Spiellust der Sänger. Doch die Musik und das Orchester unter Generalmusikdirektor Antony Hermus, das vom altrussischen Choral bis zur kabarettreifen Showeinlage die Emotionen der Politiker, der Intriganten und des Volks kraftvoll vertieft und sie gleichzeitig bissig kommentiert, bleiben das Zentrum. Und verblüffend: Eine vor 126 Jahren uraufgeführte Oper, die ein marginales Ereignis der russischen Geschichte vor 313 Jahren vorführt, wirkt tagesaktueller als so mancher politische journalistische Kommentar. Chowantschina in Dessau ist eine eindrucksvolle Demonstration für die große Oper im Stadttheater.