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Veredelte Virtuosität
Zu schön, um wahr zu sein? Das Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy ist einerseits eines der beliebtesten Werke seiner Art. Andererseits wurde gerade das „Vollendete“ dieser Musik immer wieder kritisch betrachtet.
Was dem Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy so gar nicht anzumerken ist: dass es ein "Schmerzenskind" des Komponisten war. Zwar stellte sich der Erfolg des Stücks bei der Uraufführung sogleich ein, und seine nachhaltige Popularität bei den Interpreten und dem Publikum schien absehbar. Zugleich aber schürte der breite Zuspruch eher Mendelssohns Zweifel, ob das Geschaffene schon wirklich vollendet sei.
Die überkritische Rechenschaft Mendelssohns über das Gelingen eines Werks hatte in der "Vollendung", sprich: Klassizität, ihren Maßstab. Sie ließ ihn nicht ruhen, bis nicht die letzten Unebenheiten einer melodischen Linie, die letzten Disproportionen im formalen Aufbau usw. getilgt waren. Von ihm selbst als "Revisionskrankheit" bezeichnet, führte ihn diese produktive Manie zu schöpferischer Höchstleistung – freilich zu einer bereits unzeitgemäßen. Denn längst hatte ein Mentalitätswandel um sich gegriffen, durch den das Gelungene oder das "Glatte", für Goethe und für Schiller noch Kriterien des Schönen, zu Makeln wurden. Als neue Qualitätsmale rückten, wie Peter Gülke in einer gedankenreichen Mendelssohn-Studie bemerkt, das Originelle und Charakteristische, auch das Grelle und Sensationelle "ungebührlich" in den Vordergrund.
Originalität statt Effekt
Eben diesem Trend moderner Genieästhetik mochte Mendelssohn nicht folgen. Und so bekam er es – wenn auch vornehmlich posthum – mit Kritikern zu tun (darunter Richard Wagner), die seiner Musik eine "tiefe, Seele und Herz ergreifende Wirkung" sowie "Pathos und Leidenschaft" absprachen. Dem Violinkonzert haben solche – oft antisemitisch gefärbten – Verdikte und Ressentiments nichts anhaben können. Dank seiner Beliebtheit beim Publikum und dank seiner Attraktivität für Generationen von Geigerinnen und Geigern widerstand das Werk all den Anfechtungen, denen die Musik Mendelssohns ansonsten ausgesetzt war.
Problematisch bleibt indessen, dass sich hinter der Noblesse dieser Musik gerade jene Eigenschaften verstecken, die neuartig und innovativ sind. Eben dies scheint das Paradoxon des klassizistischen Romantikers zu sein: dass er der Originalität des "Einfalls" nicht entsagt, dass er den äußerlichen Effekt aber verschmäht.
Partner statt Helden
Im Violinkonzert sucht Mendelssohn diesen Zwiespalt zu überwinden: indem er das Rollenspiel zwischen Solo und Tutti als dialogische Partnerschaft gestaltet und der Virtuosität jedwede heldische Attitüde streitig macht, sie gleichsam "veredelt". Dass all dies gelingt, garantiert die Partitur allein nicht. Interpreten müssen das ihre dazu beitragen und "hinter den Noten" zu lesen verstehen.
Zum Glück sind die Voraussetzungen dafür günstig. Denn Mendelssohn – in seiner Jugend zum tüchtigen Violinspieler ausgebildet – wusste sehr präzise Angaben zu machen, wie er sich die Ausführung des Konzerts vorstellte. Übermittelt wurden sie von den Geigern, mit denen er es selbst noch einstudiert und aufgeführt hatte: von Ferdinand David (dem Uraufführungssolisten), von Joseph Joachim sowie dem Belgier Hubert Léonard und dem Italiener Camillo Sivori. Diesen Fundus an detaillierten Hinweisen nutzen bislang noch recht wenige Solistinnen und Solisten. Wenn sie es denn tun, so mit überraschenden Resultaten: Historische Rekonstruktion gerät dann zur Wiederbelebung eines vermeintlich bekannten und "gefälligen" Werks.