"Das war so eine ambivalente Sache"

Alex Rühle im Gespräch mit Ulrike Timm |
Alex Rühle, Autor des Buches "Mein halbes Jahr offline", erinnert sich an die Monate ohne Mobiltelefon und Webseiten: Bei der Arbeit habe er schnell die Tage gezählt "wie ein Gefangener", sagt Rühle - und "zu Hause habe er sie als "riesigen Zugewinn" empfunden.
Ulrike Timm: Das Handy aus, die E-Mails nicht abgefragt und im Internet weder gesurft noch gespielt noch recherchiert - so hat Alex Rühle gelebt. Sein halbes Jahr ohne Netz war ein Selbstversuch. Alex Rühle hatte einen Vertrag mit sich gemacht - ich will digital fasten - und davon natürlich allen erzählt, damit er es auch durchhält. Wie das war, erzählt er uns jetzt, übrigens ganz radioklassisch von Studio zu Studio, aber seien sie gewiss, im Hintergrund läuft da ganz viel digital ab. Herr Rühle, ich grüße Sie!

Alex Rühle: Guten Tag!

Timm: Schönen guten Tag! Das war ja kommunikationstechnisch gesehen eine kleine Robinsonade, was Sie da gemacht haben - warum haben Sie sich das angetan?

Rühle: Zum einen nervt mich wahnsinnig diese ideologisch überfrachtete Debatte in Deutschland - auf der einen Seite die, na ja, ich möchte mal sagen die Blogger oder die Internetafficionados, die jeden, der irgendwie sagt, hm, vielleicht ist es ja auch ein komplexes Thema, niederkartätschen und auf der anderen Seite aber all diese Leute, die das Netz verteufeln und glauben, damit ist nun endgültig das Ende des Abendlandes oder aller Kultur erreicht. Und da habe ich gedacht, hei, ich probier es einfach mal aus, was es für Auswirkungen auf meinen Kopf hat.

Timm: Das ist ja chic, dass wir mal reden können jenseits aller Ideologie. Ich möchte nämlich wissen ...

Rühle: Ich hoff es.

Timm: ... wie sich ganz schlicht Ihr Tageslauf und Ihr Arbeitsleben verändert haben.

Rühle: Ja, radikal, also sehr stark. Ihr Kollege, der sprach ja gerade davon, dass man das Netz einfach braucht für alles journalistische Arbeiten heutzutage, das tagesaktuelle, und ich war wirklich der Redaktionstroglodyt, als der Höhlenbewohner und der analoge Zausel zum Teil. Ich habe mir dieses halbe Jahr so eingeteilt, dass ich immer einen Monat in der Redaktion war und einen Monat zu Hause, um besser zu sehen, was hat das jetzt für Auswirkungen auf mein Arbeitsleben und was es für Auswirkungen auf mein Privatleben. Und da muss man sehr stark unterscheiden.

Also in der Arbeit war es wirklich so, dass ich eigentlich sehr schnell die Tage gezählt habe wie ein Gefangener: Wann ist das wieder zu Ende und wie überlebe ich das überhaupt. Zu Hause war es ein riesiger Zugewinn, muss ich sagen.

Timm: Inwiefern?

Rühle: Na ja, ich weiß nicht, wie das Ihnen geht, aber mir ist das so, dass ich den ganzen Tag in diesen Computer reinstarre und eben sehr viel Zeit davon eben im Netz verbringe und in meiner Mailbox, und abends komme ich nach Hause, und dann habe ich nichts Besseres zu tun, als gleich wieder den Rechner hochzufahren. Oder mit dem BlackBerry ist es ja noch schlimmer, da trägt man das Zeug ja sozusagen am Körper.

Timm: Das heißt, Kollege Rühle hatte plötzlich zu Hause ganz viel Zeit?

Rühle: Na ja, jedenfalls habe ich zu Teilen jedenfalls die Zeit, die ich hatte, vielleicht konzentrierter verbracht. Mir ist jedenfalls nach einer Zeit aufgefallen, so im dritten, vierten, fünften Monat, dass ich wieder sehr viel mehr Bücher gelesen habe abends, was vorher doch weniger war, weil es einfach so zerfleddert ist und von den Rändern her so ausfranst. Also man hat ja fast so gläserne Wände inzwischen, das ist so schwer zu trennen zwischen privat und Berufliches. Ist ja schön zum Teil, dieses schnelle Sich-noch-was-Mailen abends. Aber zu Teilen weiß man ja gar nicht mehr, bin ich jetzt noch gerade am arbeiten und warum schicke ich um halb eins jetzt noch eine Mail hier an meinen Kollegen?

Timm: Ich habe Ihrem Buch aber auch entnommen, dass Sie zumindest zeitweilig um fünf Uhr morgens aufgestanden sind, um alles zu schaffen in Ihrem neuen analogen Leben. Das klingt nicht so, als hätten Sie Zeit gespart und es sehr gemütlich gehabt.

Rühle: Na ja, ich hab ja sozusagen hinter dem Rücken meines Experiments ein Buch darüber geschrieben, und das war sehr anstrengend, dass ich in der Redaktion geblieben bin, also jedenfalls die Hälfte der Zeit, und dann noch irgendwie das verschriftet habe. Und da habe ich mir einfach gedacht, am besten ist, ich stehe frühmorgens auf. Wir haben zwei kleine Kinder, und da ist es ja auch dann schwer, da kann man ja nicht abends um fünf nach Hause kommen und sagen: Kinder, der Papa braucht jetzt Ruhe, bitte verfügt euch in eure Kinderzimmer und lasst mich vier Stunden arbeiten.

Timm: Das Buch haben Sie aber dann am Computer geschrieben, Word haben Sie sich erlaubt, oder entstand das Buch mit der Hand, ganz klassisch?

Rühle: Ich bin überhaupt nicht abergläubisch, ich hab das natürlich alles an meinem Apple-Rechner geschrieben, was ja sehr viel praktischer ist mit dem Löschen und nicht alles neu schreiben, klar.

Timm: Alex Rühle, viele Kollegen müssen Sie, wenn Sie trotzdem in diesem halben Jahr Journalist gewesen sind, mit Informationen ja versorgt haben. Haben Sie die auch genervt, wenn Alex Rühle immer kam und sagte: Moment, in welcher Zeitung kann ich das nachlesen, habt ihr noch einen Katalog, kann mir das jemand mal erklären? Denn wer weiß, wie Journalisten am Internet hängen, der kann sich schwer vorstellen, dass Sie in dem halben Jahr berufstätig gewesen sind.

Rühle: Ja, also ich hab den Vorteil, ich bin Redakteur im Feuilleton von der "Süddeutschen", und ich hab da ein bisschen den Vorteil, dass ich so – die anderen haben alle eine feste Sparte, müssen das Theater betreuen, das Kino und so, und ich bin so bisschen so der Kulturreporter. Und das war ein Vorteil, dass ich also nicht ganz und gar von diesen Newslettern und so abhing, sondern mir selber Themen suchen konnte.

Ich hab zum Beispiel dann eine einwöchige Reise durch die bankrotten Kommunen gemacht, wo ich dann eben versucht habe, das auszugleichen, dass ich kein Netz habe, indem ich einfach vor Ort von Mensch zu Mensch gegangen bin und denen Löcher in den Bauch gefragt habe. Gleichzeitig bin ich natürlich immer wieder auch an meine Grenzen gestoßen und musste sozusagen digital outsourcen. Also Bilder kriegt man ja heutzutage nur noch übers Netz. Wenn man bei uns Seiten baut, musste ich dann die anderen Kollegen fragen, wenn ich dran war mit dem Seitenbauen, kannst du bitte die Bilder suchen.

Und dann bin ich im Redaktionsausschuss bei uns, da schreibt man sich dann viele Mails hin und her, und gegen Ende haben das dann einige wirklich nur noch unter Aufbietung letzter Ironiereserven hingekriegt. Der eine schrieb mal in so einer Rundmail: Unserem analogen Kollegen werde ich das Ganze auf Tierhaut ritzen und vorbeitragen.

Timm: Auch eine Methode. Jenseits der Interna bei der "Süddeutschen Zeitung". Man muss doch eigentlich ganz anders durch eine Stadt gegangen sein. Es gibt in Städten kaum noch Uhren, weil ja sowieso alle Leute Handys haben. Ich frage mich auch, hat man Sie vielleicht für ein bisschen wunderlich gehalten, jenseits der Kollegen, und ob es Rückfälle gab?

Rühle: Also beides. Die einen haben mich für wunderlich gehalten, und ich habe natürlich, sechs Monate lang wurde ich verarscht: Schickst du jetzt deine Mails mit dem Toaster oder baust du jetzt Gemüse hier hinterm Hochhaus an und so. Die andere Seite war, dass ganz viele dann so was, so einen analogen Zauber hineingeheimnist haben, als ob ich jetzt so näher am Urgrund des Seins hocke oder ...

Timm: Der Esoteriker.

Rühle: Ja, so ein bisschen, als ob ich so den letzten Rätseln des Daseins auf den Grund komme, bloß weil ich mir sozusagen diese Qualen da auferlege. Das war so eine ambivalente Sache. Also ich hab da so Briefe bekommen von Leuten, die meinen automatischen Mailresponder da bekommen haben, und die sagten: Das ist ja fantastisch, Sie müssen ja Farben ganz anders sehen, und es wird eine ganz unglaublich reinigende Zeit. Und davon kann natürlich keine Rede sein. Aber was Sie sonst sagten: Mir ist zum ersten Mal aufgefallen, wie viel Telefonzellen es noch gibt, oder ich weiß jetzt inzwischen, wo Briefkästen stehen, und weiß auch, wo man Faxgeräte findet, weil auf solche Krücken sozusagen musste ich ausweichen.

Timm: Und jenseits des Esoterischen: Sie haben Briefe bekommen – wer bekommt heute noch Briefe?

Rühle: Genau, aber es waren sehr wenige. Es waren sehr wenig Briefe, weil einfach jeder sagt, du, das ist mir zu kompliziert, oder das macht einfach keiner mehr.

Timm: Sie waren irgendwie doch aus der Welt. Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", im Gespräch mit dem Journalisten Alex Rühle über sein halbes Jahr digitales Fasten. Und Herr Rühle, Sie sagen sehr klar, Sie haben diesen Selbstversuch nicht aus Technikfeindlichkeit unternommen, sondern aus einem, ja, sagen wir Unabhängigkeitsstreben heraus, weg von der allgemeinen Konzentrationszerbröselung. Hat das wirklich hingehauen oder haben Sie die Konzentration einfach anders bei sich zerbröselt?

Rühle: Beides, beides. Also das war der zweite Grund, dass ich zum einen das Gefühl hatte, ich komme ohne diesen BlackBerry nicht mehr aus, ich muss sofort Mails checken, wenn eine kommt, ich kann nicht einfach zehn Minuten warten und es dann machen, sondern muss es sofort machen. Und das Zweite, dass man ja doch das Gefühl hat, so von den Rändern wird die so angefressen, die Konzentration. Und beim Arbeiten fiel es mir schon auf, dass ich dieses – das macht man ja fast wie rauchen, dass man dauernd so kurz mal ins Netz abbiegt, während man schreibt. Es ist vielleicht spezifisch journalistisch, weiß ich nicht, aber da hatte ich schon das Gefühl, konzentrierter zu sein, gleichzeitig habe ich mir wieder andere Ablenkungsquellen schon gesucht. Ich bin dann ganz viel durch die Meldungen und hab mich ganz viel durch Zeitungen gefräst und durch Magazine und so weiter.

Timm: Und die Familie? Sie haben zwei halbwüchsige Kinder, die dann ein halbes Jahr lang nicht an die Spiele durften, ich weiß nicht, wie Sie telefoniert haben – gab das Ärger?

Rühle: Ich habe viertelwüchsige Kinder ...

Timm: Ach so.

Rühle: ... also die sind acht ...

Timm: Die akzeptieren das noch?

Rühle: ... geworden gerade und sechs, die haben gar nicht verstanden, was ich mache. Also die fragten dann so: Was? Internet? Welches Internat denn? Also ich musste denen auch erklären, was das Internet ist, die haben das gar nicht verstanden.

Timm: Dann sind sie noch sehr klein. Jetzt sind Sie wieder drin und wieder dran, Internet, Mail und Handy wieder auf Empfang gestellt. Ist nach der Diät alles wie zuvor?

Rühle: Da ich sozusagen mir selbst misstraut hab und weiß, wie sehr ich da sozusagen eine Klatsche hab, hab ich mir einfach selber zwei Barrieren gebaut: Ich hab diesen BlackBerry, den wollte ich nicht wieder, den ich vor dem Experiment abgegeben hab, ich hab mir ein altes Handy geben lassen.

Timm: Ein Handy, mit dem man nur telefonieren kann?

Rühle: Ja, genau, oder SMS schicken, aber mit dem man nicht ins Netz kommt und mit dem man nicht diese Mails dauernd in die Hosentasche geschickt bekommt.

Timm: Die gibt es noch?

Rühle: Ja, die genau, die bei uns in der Technik sagten, nein, so was haben wir nicht mehr. Und da haben sie noch eins gefunden, und das hab ich jetzt. Und das Zweite ist, dass ich jetzt so rum experimentiere mit einem zweiten Rechner, der so an einem ungemütlichen Ort da irgendwo steht im Flur, dass ich einen Rechner hab auf dem Schreibtisch, an dem ich nicht ins Netz gehe und meine Texte schreibe und ...

Timm: Aber mit Verlaub, entschleunigt klingen Sie nicht.

Rühle: Weil ich so schnell rede, meinen Sie? Oder ...

Timm: Nein, einfach wenn Sie jetzt in der Technik wieder voll drin sind, Sie haben sich ja ganz bewusst verweigert, aus heutiger Sicht mal ganz hinterwändlerisch gelebt, zählen Sie schon wieder zur Avantgarde, denn der Wunsch nach Entschleunigung, nach Muße und weniger Rundum-Verfügbarkeit, der wird ja derzeit sehr gerne publik gemacht.

Rühle: Ja, das stimmt. Also es ist ein ziemliches Modethema geworden, was ich nicht wusste, als ich diesen Versuch da beschlossen habe. Zum einen hängt es ja mit unserem Beruf auch sehr zusammen, das ist ja einfach so ein – man erlebt Zeit ja dauernd als Countdown, weil man sozusagen gegen die Uhr schreibt, um 16 Uhr wird belichtet, und da bin ich ja nun nicht irgendwie auf so einer Insel der Seligen gewesen und jetzt natürlich erst recht nicht. Und da bin ich auch wieder vollkommen drin. Die Mailwalze, die walzt sich sozusagen wieder über mich hinweg, jeden Tag die, weiß ich nicht, 30 Mails, 45, ich weiß es nicht.

Timm: Alex Rühles Erfahrungen ohne Netz, "Mein halbes Jahr offline", sind gerade erschienen, haben auch Spuren hinterlassen, aber im Berufsalltag glaube ich nicht so viel. Das Buch ist ganz klassisch erschienen bei Klett-Cotta. Alex Rühle, ich danke Ihnen fürs Gespräch!

Rühle: Ja, vielen Dank!