"Das waren lauter Märchen"
Im Frühjahr 2010 flog der Skandal an der Odenwaldschule auf. In den 1970er und 1980er Jahren waren dort mindestens 132 Schüler sexuell missbraucht worden. Salman Ansari glaubt, dass der reformpädagogische Ansatz auch dazu benutzt wurde, um den Missbrauch zu verschleiern.
Ulrike Timm: Vor ziemlich genau einem Jahr wurde der Skandal offenbar: Schulleiter und Lehrer der berühmten Odenwaldschule hatten deren emotionale und intellektuelle Freizügigkeit für sich ausgenutzt. Nach dem Motto "Ich darf alles, und du musst alles" wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren mindestens 132 Schüler sexuell missbraucht, viele leiden darunter bis heute. Jetzt versucht man Aufarbeitung.
Der Hauptschuldige, der ehemalige Schulleiter Gerold Becker, kann nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden, er starb wenige Monate nach Auffliegen des Skandals. Kurz zuvor hatte er sich in einer Weise entschuldigt, die viele an eine Entschuldigung der Bahn fürs Zuspätkommen erinnerte: Schuldgefühl, Scham, Verantwortung konnten die Betroffenen jedenfalls nicht erkennen.
Wie macht eine berühmte Reformschule jetzt weiter, und wie ist der Stand der Aufarbeitung heute, rund ein Jahr danach? Das kann ich meinen Studiogast fragen. Salman Ansari hat an der Odenwaldschule unterrichtet und ist Mit-Initiator des Vereins "Glasbrechen", der sich für die Missbrauchsopfer einsetzt. Herr Ansari, schönen guten Tag!
Salman Ansari: Guten Tag!
Timm: Herr Ansari, derzeit hört man aus der Odenwaldschule mehr von Missstimmungen zwischen Gremien, wenn es um dieses dunkle Kapitel geht. Verliert sich jetzt alles in Klein-Klein? Was beobachten Sie dort heute?
Ansari: Ja, nicht nur heute in Klein-Klein, das ist jetzt noch viel deutlicher, eigentlich läuft die ganze Geschichte jetzt seit zwölf Jahren, das wird vergessen. Vor zwölf Jahren haben zwei Schüler, die missbraucht worden sind, das öffentlich gemacht, haben die Schule über die Misshandlungen durch den damaligen Schulleiter Gerold Becker bekanntgemacht, und dann war die Haltung des Kollegiums so, dass sie eher den Ruf der Schule retten wollten und den Ruf der Schule auch höher stellten als das Wohl der Kinder. Das sehen Sie auch daran, dass bis zum heutigen Tag es der Schule nicht gelungen ist, die Opfer einzuladen und mit ihnen einen Dialog zu beginnen.
Timm: Sie setzen sich sehr für diese Opfer ein, Sie haben auch als einer der wenigen Lehrer während ihrer Zeit dort Kritik geäußert. Trotzdem muss der Riss, Herr Ansari, dieser Riss eigentlich auch quer durch Sie selbst gehen, denn Sie waren ja viele Jahre Lehrer an der Odenwaldschule, haben 1974 dort begonnen, hatten teilweise auch eine leitende Funktion. Man fragt sich ja: Hat die exklusive Reformidee dieser Schule dort allen Menschenverstand schlicht vernebelt?
Ansari: Nicht alleine das, vielleicht auch die Unaufgeklärtheit über, sagen wir, sexuellen Missbrauch, das war außerhalb meiner Vorstellung – das entschuldigt zwar nicht –, und dann war ich auch natürlich sehr geblendet von all den Worten und von natürlich vielen wunderbaren Einrichtungen dieser Schule, und habe mir nicht denken können, dass es Parallelwelten gab: eine Welt, in der etwas Positives zu erleben war, und auf der anderen Seite eine ungeheure, unheimliche Welt, und vielleicht wollte ich die nicht akzeptieren. Und ich habe natürlich gewusst, dass dieser Schulleiter keine Distanz zu Jugendlichen hat, aber dass er Kinder sexuell missbrauchen könne, das konnte ich mir schlicht nicht vorstellen, und ich habe in dieser Richtung ja auch keinen Lehrer oder Schüler getroffen, der darüber berichtet hätte oder auch Zeichen gegeben hätte, schau mal zu, was hier passiert.
Timm: Lassen Sie uns mal bei dieser Ausstrahlung dieser Pädagogen dort bleiben. Man sagt das so oft, Gerold Becker, charismatischer Pädagoge – warum wird Pädagogik eigentlich so schnell heilig, sobald das Wörtchen Reform davorsteht?
Ansari: Ja, weil Reformpädagogik ungefragt einen sehr positiven Klang in der Gesellschaft hat. Diejenigen, die die Reformpädagogik vertreten, müssen eigentlich gar nicht begründen, was sie da machen, welche Konzepte sie wirklich verwirklichen und welche Konzepte zum Beispiel ganz einfache Schulen von der Reformpädagogik übernehmen könnten. Mir ist kein Konzept bekannt, das veröffentlicht worden wäre im Kontext der Reformpädagogik. Und wir müssen ja auch von der Historie der Reformpädagogik weggehen. Wir leben jetzt in einem anderen Jahrhundert, wir haben ganz andere Kinder, die wachsen heute unter ganz anderen Bedingungen auf als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Da war vielleicht das Wort von Kinder beschützen oder Nähe zu Kindern, vielleicht war es angebracht, heute müssen wir definieren: Was verstehen wir unter Nähe?
Timm: Aber bevor wir das definieren, man kann natürlich das auch noch viel böser sagen: Es waren bestimmte Lehrer, die wollten so eine Art unfehlbare Gurus sein und ummäntelten diesen Wunsch mit Charisma und angeblich neuen Ideen.
Ansari: Ja, also das war der Gerold Becker auf jeden Fall, der war eine Art Guru in der Tat, und was er sagte, das wurde als die Wahrheit anerkannt oder als wahr angenommen. In Wirklichkeit waren es, wie soll ich das sagen, ich habe das Poetisierung der Pädagogik genannt, was er über die Odenwaldschüler berichtete, auch draußen, das waren lauter Märchen, und jeder nahm ihm das ab, wie gesagt, ohne nachzudenken, ja, kann das alles wahr sein? Uns, also den Odenwaldschülern gelingt offenbar alles, was woanders scheitert – wie geht das eigentlich, dass eine Schule derart viel Erfolg vorweisen kann, und die anderen, verglichen damit, quasi gar keinen Erfolg haben? Und so hat die Odenwaldschule sich auch präsentiert, als Reparaturwerkstatt für Kinder, die an Staatsschulen kaputtgehen und hierher zu uns kommen und binnen kurzer Zeit geheilt werden.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit dem Pädagogen und Wissenschaftler Salman Ansari, ein Jahr nach der Aufdeckung jahrzehntelangen sexuellen Missbrauchs an der berühmten Odenwaldschule. Gehen wir ins Heute: Was ist denn in der Szene der Reformpädagogen eigentlich seit dem vergangenen Jahr geschehen?
Ansari: Eigentlich gar nichts. Man muss ja bedenken, nicht nur seit einem Jahr, seit zwölf Jahren kennt man die Geschichte. Da ist nichts geschehen.
Timm: Ja, aber lassen Sie uns im letzten Jahr bleiben.
Ansari: Und im letzten Jahr ist auch nicht viel passiert. Eigentlich haben die Reformpädagogen jetzt eine Bringschuld, sie müssen erklären: Was ist das Besondere an dieser Pädagogik? Das Besondere bisher war ja, die Privilegien, die diese Schulen hatten. Sie müssen bedenken, dass all diese Privatschulen ja nicht besonders groß gewesen sind, sie sind von ihrer Anlage her, von allen Einrichtungen her natürlich besser ausgestattet gewesen als die Staatsschulen, und sie kosteten auch sehr viel, auch die Paul Geheebsche Schule, also die Odenwaldschule, war ja nicht billig, das konnten sich nur Leute leisten, die viel Geld hatten.
Timm: Aber es heißt dann eigentlich konkret: Zum Beispiel leben Odenwaldschüler immer noch wie Familien, Schüler und Lehrer, zusammen in wenigen Räumen, bettmäßig nah beieinander?
Ansari: Das ist so, das ist so, und das ist etwas, was einen ziemlich erschüttert, dass Familie, sozusagen die Struktur der Familie dazu verholfen hat, den Missbrauch zu decken oder den Missbrauch zu fördern, dass diese Struktur ungefragt immer noch besteht und keine Diskussion darüber stattfindet. Ich glaube, die Odenwaldschule ist im Augenblick nicht in der Lage, aus sich heraus, von innen gesehen, selbstständig sich zu reformieren. Das können sie nicht. Sie sind zu sehr verhaftet in diesem Gefühl, sie werden von der Gesellschaft falsch verstanden und falsch angesehen.
Timm: Sie lehren heute an der Universität, und aus dem, was Sie sagen, höre ich heraus: Sie würden keinem Ihrer Studenten empfehlen, sich an der Odenwaldschule 2011 als Lehrer zu bewerben?
Ansari: Ich lehre nicht an der Universität, ich mache sehr viele Projekte mit ganz kleinen Kindern, aber ich würde jedenfalls für die Mittelstufe niemandem empfehlen, die Odenwaldschule zu wählen. Die Oberstufe ja, aber Mittelstufe nicht. Das ist meine Meinung seit sehr vielen Jahren, seit ich auch dort war, da habe ich ja immer wieder das beanstandet, dass wir sehr komplizierte Kinder aufnehmen, ohne dass wir Konzepte haben, um ihnen, diesen Kindern, zu helfen. Ich habe gesagt, wir sind bald eine therapeutische Anstalt ohne Therapeuten.
Timm: Die Odenwaldschule hat ja eigentlich ein schönes Motto: "Werde, wer du bist", heißt es. Andererseits gibt es, glaube ich, keinen konservativen Lehrer, der stärker auf Einhaltung von Regeln hält, der diesen Grundsatz von Erziehung nicht unterschreiben würde, "Werde, wer du bist", wenn er mehr sein will als ein bloßer Fakteneinpauker. Welchen Stellenwert hat denn eine Reformpädagogik heute wirklich noch?
Ansari: Das weiß ich nicht, das müssen diejenigen, die Reformpädagogik vertreten, müssen eigentlich definieren, welchen Wert diese Reformpädagogik hat. Aus meiner Sicht ist es so, dass keine Pädagogik ohne Struktur, ohne Konzepte erfolgreich sein kann. Wenn wir von den Kindern her denken, dann müssen wir uns fragen, wie Lernen überhaupt stattfindet? Wie sind denn die Konzepte des Lesens und des Lernens, was sagt die Entwicklungspsychologie darüber, was sagen die kognitiven Wissenschaften? All diese Aspekte müssen heute integriert werden in jeder Pädagogik, und dann kann sie sagen, sie denkt von den Kindern her, nur dann.
Timm: Heißt das – Sie sagen, Strukturen müssen sich ändern –, man hat in der Erziehung von Kindern Autorität und Autoritäres schlicht verwechselt, dass Kinder keinen Halt mehr haben?
Ansari: Ja. Das hat man verwechselt, selbst die Kategorie Respekt war verpönt auf der Odenwaldschule, und ja, man hat eigentlich in einem … ich verstehe gar nicht … Ich muss so sagen, dass die Familienstrukturen ganz anders waren, sie waren sehr hermetisch, wir waren nicht in der Lage, hineinzuschauen, was der Kollege oder seine Familie, heißt, die Gruppe der Odenwaldschüler, was dort passierte. Einige liefen gut, die anderen nicht, und allein daran sehen Sie dieses Wirrwarr und dieses Durcheinander von verschiedenen Ideologien eigentlich.
Timm: Salman Ansari hat lange an der Odenwaldschule unterrichtet und ist heute, ein Jahr nach der Aufdeckung des Missbrauchsskandals, immer noch einer ihrer schärfsten Kritiker. Ich danke Ihnen für den Besuch hier im Studio, Herr Ansari!
Ansari: Bitte sehr!
Der Hauptschuldige, der ehemalige Schulleiter Gerold Becker, kann nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden, er starb wenige Monate nach Auffliegen des Skandals. Kurz zuvor hatte er sich in einer Weise entschuldigt, die viele an eine Entschuldigung der Bahn fürs Zuspätkommen erinnerte: Schuldgefühl, Scham, Verantwortung konnten die Betroffenen jedenfalls nicht erkennen.
Wie macht eine berühmte Reformschule jetzt weiter, und wie ist der Stand der Aufarbeitung heute, rund ein Jahr danach? Das kann ich meinen Studiogast fragen. Salman Ansari hat an der Odenwaldschule unterrichtet und ist Mit-Initiator des Vereins "Glasbrechen", der sich für die Missbrauchsopfer einsetzt. Herr Ansari, schönen guten Tag!
Salman Ansari: Guten Tag!
Timm: Herr Ansari, derzeit hört man aus der Odenwaldschule mehr von Missstimmungen zwischen Gremien, wenn es um dieses dunkle Kapitel geht. Verliert sich jetzt alles in Klein-Klein? Was beobachten Sie dort heute?
Ansari: Ja, nicht nur heute in Klein-Klein, das ist jetzt noch viel deutlicher, eigentlich läuft die ganze Geschichte jetzt seit zwölf Jahren, das wird vergessen. Vor zwölf Jahren haben zwei Schüler, die missbraucht worden sind, das öffentlich gemacht, haben die Schule über die Misshandlungen durch den damaligen Schulleiter Gerold Becker bekanntgemacht, und dann war die Haltung des Kollegiums so, dass sie eher den Ruf der Schule retten wollten und den Ruf der Schule auch höher stellten als das Wohl der Kinder. Das sehen Sie auch daran, dass bis zum heutigen Tag es der Schule nicht gelungen ist, die Opfer einzuladen und mit ihnen einen Dialog zu beginnen.
Timm: Sie setzen sich sehr für diese Opfer ein, Sie haben auch als einer der wenigen Lehrer während ihrer Zeit dort Kritik geäußert. Trotzdem muss der Riss, Herr Ansari, dieser Riss eigentlich auch quer durch Sie selbst gehen, denn Sie waren ja viele Jahre Lehrer an der Odenwaldschule, haben 1974 dort begonnen, hatten teilweise auch eine leitende Funktion. Man fragt sich ja: Hat die exklusive Reformidee dieser Schule dort allen Menschenverstand schlicht vernebelt?
Ansari: Nicht alleine das, vielleicht auch die Unaufgeklärtheit über, sagen wir, sexuellen Missbrauch, das war außerhalb meiner Vorstellung – das entschuldigt zwar nicht –, und dann war ich auch natürlich sehr geblendet von all den Worten und von natürlich vielen wunderbaren Einrichtungen dieser Schule, und habe mir nicht denken können, dass es Parallelwelten gab: eine Welt, in der etwas Positives zu erleben war, und auf der anderen Seite eine ungeheure, unheimliche Welt, und vielleicht wollte ich die nicht akzeptieren. Und ich habe natürlich gewusst, dass dieser Schulleiter keine Distanz zu Jugendlichen hat, aber dass er Kinder sexuell missbrauchen könne, das konnte ich mir schlicht nicht vorstellen, und ich habe in dieser Richtung ja auch keinen Lehrer oder Schüler getroffen, der darüber berichtet hätte oder auch Zeichen gegeben hätte, schau mal zu, was hier passiert.
Timm: Lassen Sie uns mal bei dieser Ausstrahlung dieser Pädagogen dort bleiben. Man sagt das so oft, Gerold Becker, charismatischer Pädagoge – warum wird Pädagogik eigentlich so schnell heilig, sobald das Wörtchen Reform davorsteht?
Ansari: Ja, weil Reformpädagogik ungefragt einen sehr positiven Klang in der Gesellschaft hat. Diejenigen, die die Reformpädagogik vertreten, müssen eigentlich gar nicht begründen, was sie da machen, welche Konzepte sie wirklich verwirklichen und welche Konzepte zum Beispiel ganz einfache Schulen von der Reformpädagogik übernehmen könnten. Mir ist kein Konzept bekannt, das veröffentlicht worden wäre im Kontext der Reformpädagogik. Und wir müssen ja auch von der Historie der Reformpädagogik weggehen. Wir leben jetzt in einem anderen Jahrhundert, wir haben ganz andere Kinder, die wachsen heute unter ganz anderen Bedingungen auf als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Da war vielleicht das Wort von Kinder beschützen oder Nähe zu Kindern, vielleicht war es angebracht, heute müssen wir definieren: Was verstehen wir unter Nähe?
Timm: Aber bevor wir das definieren, man kann natürlich das auch noch viel böser sagen: Es waren bestimmte Lehrer, die wollten so eine Art unfehlbare Gurus sein und ummäntelten diesen Wunsch mit Charisma und angeblich neuen Ideen.
Ansari: Ja, also das war der Gerold Becker auf jeden Fall, der war eine Art Guru in der Tat, und was er sagte, das wurde als die Wahrheit anerkannt oder als wahr angenommen. In Wirklichkeit waren es, wie soll ich das sagen, ich habe das Poetisierung der Pädagogik genannt, was er über die Odenwaldschüler berichtete, auch draußen, das waren lauter Märchen, und jeder nahm ihm das ab, wie gesagt, ohne nachzudenken, ja, kann das alles wahr sein? Uns, also den Odenwaldschülern gelingt offenbar alles, was woanders scheitert – wie geht das eigentlich, dass eine Schule derart viel Erfolg vorweisen kann, und die anderen, verglichen damit, quasi gar keinen Erfolg haben? Und so hat die Odenwaldschule sich auch präsentiert, als Reparaturwerkstatt für Kinder, die an Staatsschulen kaputtgehen und hierher zu uns kommen und binnen kurzer Zeit geheilt werden.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit dem Pädagogen und Wissenschaftler Salman Ansari, ein Jahr nach der Aufdeckung jahrzehntelangen sexuellen Missbrauchs an der berühmten Odenwaldschule. Gehen wir ins Heute: Was ist denn in der Szene der Reformpädagogen eigentlich seit dem vergangenen Jahr geschehen?
Ansari: Eigentlich gar nichts. Man muss ja bedenken, nicht nur seit einem Jahr, seit zwölf Jahren kennt man die Geschichte. Da ist nichts geschehen.
Timm: Ja, aber lassen Sie uns im letzten Jahr bleiben.
Ansari: Und im letzten Jahr ist auch nicht viel passiert. Eigentlich haben die Reformpädagogen jetzt eine Bringschuld, sie müssen erklären: Was ist das Besondere an dieser Pädagogik? Das Besondere bisher war ja, die Privilegien, die diese Schulen hatten. Sie müssen bedenken, dass all diese Privatschulen ja nicht besonders groß gewesen sind, sie sind von ihrer Anlage her, von allen Einrichtungen her natürlich besser ausgestattet gewesen als die Staatsschulen, und sie kosteten auch sehr viel, auch die Paul Geheebsche Schule, also die Odenwaldschule, war ja nicht billig, das konnten sich nur Leute leisten, die viel Geld hatten.
Timm: Aber es heißt dann eigentlich konkret: Zum Beispiel leben Odenwaldschüler immer noch wie Familien, Schüler und Lehrer, zusammen in wenigen Räumen, bettmäßig nah beieinander?
Ansari: Das ist so, das ist so, und das ist etwas, was einen ziemlich erschüttert, dass Familie, sozusagen die Struktur der Familie dazu verholfen hat, den Missbrauch zu decken oder den Missbrauch zu fördern, dass diese Struktur ungefragt immer noch besteht und keine Diskussion darüber stattfindet. Ich glaube, die Odenwaldschule ist im Augenblick nicht in der Lage, aus sich heraus, von innen gesehen, selbstständig sich zu reformieren. Das können sie nicht. Sie sind zu sehr verhaftet in diesem Gefühl, sie werden von der Gesellschaft falsch verstanden und falsch angesehen.
Timm: Sie lehren heute an der Universität, und aus dem, was Sie sagen, höre ich heraus: Sie würden keinem Ihrer Studenten empfehlen, sich an der Odenwaldschule 2011 als Lehrer zu bewerben?
Ansari: Ich lehre nicht an der Universität, ich mache sehr viele Projekte mit ganz kleinen Kindern, aber ich würde jedenfalls für die Mittelstufe niemandem empfehlen, die Odenwaldschule zu wählen. Die Oberstufe ja, aber Mittelstufe nicht. Das ist meine Meinung seit sehr vielen Jahren, seit ich auch dort war, da habe ich ja immer wieder das beanstandet, dass wir sehr komplizierte Kinder aufnehmen, ohne dass wir Konzepte haben, um ihnen, diesen Kindern, zu helfen. Ich habe gesagt, wir sind bald eine therapeutische Anstalt ohne Therapeuten.
Timm: Die Odenwaldschule hat ja eigentlich ein schönes Motto: "Werde, wer du bist", heißt es. Andererseits gibt es, glaube ich, keinen konservativen Lehrer, der stärker auf Einhaltung von Regeln hält, der diesen Grundsatz von Erziehung nicht unterschreiben würde, "Werde, wer du bist", wenn er mehr sein will als ein bloßer Fakteneinpauker. Welchen Stellenwert hat denn eine Reformpädagogik heute wirklich noch?
Ansari: Das weiß ich nicht, das müssen diejenigen, die Reformpädagogik vertreten, müssen eigentlich definieren, welchen Wert diese Reformpädagogik hat. Aus meiner Sicht ist es so, dass keine Pädagogik ohne Struktur, ohne Konzepte erfolgreich sein kann. Wenn wir von den Kindern her denken, dann müssen wir uns fragen, wie Lernen überhaupt stattfindet? Wie sind denn die Konzepte des Lesens und des Lernens, was sagt die Entwicklungspsychologie darüber, was sagen die kognitiven Wissenschaften? All diese Aspekte müssen heute integriert werden in jeder Pädagogik, und dann kann sie sagen, sie denkt von den Kindern her, nur dann.
Timm: Heißt das – Sie sagen, Strukturen müssen sich ändern –, man hat in der Erziehung von Kindern Autorität und Autoritäres schlicht verwechselt, dass Kinder keinen Halt mehr haben?
Ansari: Ja. Das hat man verwechselt, selbst die Kategorie Respekt war verpönt auf der Odenwaldschule, und ja, man hat eigentlich in einem … ich verstehe gar nicht … Ich muss so sagen, dass die Familienstrukturen ganz anders waren, sie waren sehr hermetisch, wir waren nicht in der Lage, hineinzuschauen, was der Kollege oder seine Familie, heißt, die Gruppe der Odenwaldschüler, was dort passierte. Einige liefen gut, die anderen nicht, und allein daran sehen Sie dieses Wirrwarr und dieses Durcheinander von verschiedenen Ideologien eigentlich.
Timm: Salman Ansari hat lange an der Odenwaldschule unterrichtet und ist heute, ein Jahr nach der Aufdeckung des Missbrauchsskandals, immer noch einer ihrer schärfsten Kritiker. Ich danke Ihnen für den Besuch hier im Studio, Herr Ansari!
Ansari: Bitte sehr!