"Das Wichtigste ist die Stärkung des Opferschutzes"
Der Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin, Klaus Mertes, hat in der Debatte um die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche vorgeschlagen, dass Opfer besser geschützt werden. Eine Stärkung von Opferschutz-Organisationen wäre ein großer Erfolg, sagte Mertes.
Ute Welty: Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche und die strafrechtlichen Konsequenzen – darüber waren die Bundesjustizministerin und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz durchaus unvernehmbar unterschiedlicher Ansicht. Und deshalb treffen sich Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Robert Zollitsch heute zum Gespräch. Bei dem Versuch, eine gemeinsame Haltung zu finden, könnte der jüngste Leitfaden des Vatikan helfen.
Betont wird darin die prinzipielle Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden – offenbar eine Reaktion auf die massive Kritik der vergangenen Wochen am Umgang mit Tätern und Opfern. Einer, der immer wieder den Blick auch auf die Opfer lenkt, das ist Pater Klaus Mertes, der Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin. Guten Morgen, Herr Mertes!
Klaus Mertes: Guten Morgen!
Welty: Die Frage nach den strafrechtlichen Konsequenzen für die Täter ist sicher eine wichtige, aber wie ist diese Frage zu bewerten in Hinsicht auf Hilfe für die Opfer, denn ein mögliches Verfahren bedeutet ja auch immer Öffentlichkeit, bedeutet Befragung, bedeutet Sich-erinnern-Müssen?
Mertes: Ja, das ist ein sehr wichtiger Punkt. Für Opfer ist der ganze Prozess natürlich äußerst schmerzlich, gerade auch, wenn er strafrechtlich aufgearbeitet wird, weswegen ja auch gerade von Opferverbandsseite her darauf hingewiesen wird, dass sozusagen die automatische Meldung an die Staatsanwaltschaft eben auch ihre Probleme gerade für die Opfer hat.
Auf der anderen Seite ist natürlich das Wissen darum, dass der Täter bestraft wird, für die Opfer auch wiederum wichtig für den Versöhnungsprozess, den sie mit sich selbst, mit ihrem Leben und eventuell auch mit der Institution, in der sie verletzt worden sind, missbraucht worden sind, gemacht werden muss. Das ist eine entscheidende Voraussetzung für Versöhnung, zu wissen, dass der Täter bestraft ist.
Welty: Wie stark hat Sie dieser potenzielle Konflikt beschäftigt, als Sie im Januar diesen Schritt gemacht haben und ehemaligen Schülern geschrieben haben, darunter eben auch Opfern von sexuellem Missbrauch am Kolleg, so ein Gedanke von: Helfe ich diesen Menschen wirklich?
Mertes: Ja, also der zentrale Gedanke, den ich hatte, war nicht der des Helfens, denn das steht mir nicht zu. Das steht Therapeuten zu, und die müssen sich die Opfer wählen, wenn sie denn geholfen haben wollen. Mir stand es zu, zu signalisieren, dass ich der richtige – institutionell gesehen – der richtige Ansprechpartner bin, wenn sie sich an jemanden wenden, der noch einen inneren Bezug zu den Tätern hat, den ich ja durch die institutionelle Tradition habe, weil die Täter ja in unserer Schule vor 30 Jahren ihre Missetaten vollbracht haben.
Ich kann ja nicht einfach vor die Opfer, die sich bei mir melden, hintreten und sagen, ich habe damit nichts zu tun. Also trete ich ihnen – so habe ich es immer formuliert – auf der Täterseite, systemisch gesehen, entgegen.
Und es steht dem Täter nicht zu, dem Opfer zu helfen. Aber vielleicht hilft das dem Opfer, wenn der Täter einsieht, dass er Täter ist. Aber wenn er nur einsieht, dass er Täter ist, um zu helfen, dann sieht er ja nicht ein, dass er Täter ist.
Welty: Sie haben sicherlich geahnt, dass es sich bei diesen Missbrauchsfällen der 70er- und 80er-Jahre am Canisius-Kolleg nicht um Einzelfälle gehandelt hat, jetzt bundesweit gesehen, aber haben Sie sich dieses Ausmaß vorstellen können?
Mertes: Nein, das habe ich mir natürlich nicht in diesem Maße vorstellen können. Ich hatte daran gedacht, dass es eventuell in der lokalen Presse ein paar Berichte gibt und dass ich dann in die konkrete Aufarbeitungstätigkeit sofort hineinsteigen kann und mich auf sie konzentrieren kann.
Welty: Und inwieweit verändern diese neuen Erkenntnisse Ihr Verhältnis zu Kirche und zu Ihrem Orden?
Mertes: Mein Verhältnis zu Kirche und Orden ist vollkommen unberührt, das kann ich guten Gewissens sagen. Ich bin ganz und gar Katholik und Jesuit und bin stolz darauf, dass es uns gelingt und wenn es uns gelingt, als katholische Kirche und als Jesuitenorden diese Dinge aufzuarbeiten.
Welty: Inwieweit hat sich Ihr Alltag verändert?
Mertes: Der hat sich sehr radikal verändert, weil ich natürlich zum Beispiel morgens früh Pressegespräche führen muss und Ähnliches und mich auch dann mit den Rückkoppelungswirkungen beschäftigen muss in den Betrieb hinein, die solche Interviews und Ähnliches haben. Aber viel wichtiger ist natürlich, dass ich ein neues Thema habe, nämlich die Kommunikation mit den von Missbräuchen betroffenen ehemaligen Schülerinnen und Schülern.
Welty: Was bedeutet Rückkopplungsmechanismus?
Mertes: Na ja, wenn ich jetzt heute Morgen mit Ihnen spreche, werde ich gleich im Kollegium darauf angesprochen werden, was ich gerade gesagt habe, und dann ist das wieder ein Thema.
Welty: Wenn Sie sich vor Augen führen, was in den letzten Monaten und Wochen geschehen ist an Gesprächen, an Maßnahmen, an Stellungnahmen, reicht das aus in Hinblick auf die Bewältigung der Vergangenheit und vor allem in Hinblick auf die Bewältigung der Zukunft, Stichwort Prävention?
Mertes: Ich kann das ehrlich gesagt nicht beurteilen, dazu bin ich noch selbst zu sehr im Sturm drin und fühle mich auch nicht als der Oberkompetente, um diese Frage zu beantworten. Es ist wichtig, dass diese Themen überhaupt an uns herankommen.
Stichwort Prävention ist das Allerwichtigste, dass die Präventionsfragestellung als Fragestellung überhaupt gesellschaftlich und in den Institutionen akzeptiert wird. Es kann ja auf der anderen Seite nicht sein, dass alle Schulen und alle Lehrerinnen und Lehrer und katholische Priester unter Generalverdacht gestellt werden, das ist ja auch richtig. Trotzdem muss die Präventionsfrage angenommen werden, weil die Ursachen ja nicht nur individuell, sondern auch strukturell sind, und das ist sehr deutlich geworden in den letzten Monaten.
Welty: Was würden Sie sich wünschen, das beim Gespräch von Bundesjustizministerin und Vorsitzenden der Bischofskonferenz herauskommt? Was würden Sie beiden mit ins Gespräch geben wollen?
Mertes: Das Wichtigste ist die Stärkung des Opferschutzes, und wenn das institutionell möglich ist, durch Stärkung von Opferschutzinstitutionen, dann wäre das ein großer Erfolg.
Welty: Pater Klaus Mertes in Deutschlandradio Kultur. Sein Brief an ehemalige Schüler des Canisius-Kollegs hat die Öffentlichkeit aufmerksam gemacht auf den Missbrauch in der katholischen Kirche. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!
Mertes: Bitte sehr, gerne!
Betont wird darin die prinzipielle Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden – offenbar eine Reaktion auf die massive Kritik der vergangenen Wochen am Umgang mit Tätern und Opfern. Einer, der immer wieder den Blick auch auf die Opfer lenkt, das ist Pater Klaus Mertes, der Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin. Guten Morgen, Herr Mertes!
Klaus Mertes: Guten Morgen!
Welty: Die Frage nach den strafrechtlichen Konsequenzen für die Täter ist sicher eine wichtige, aber wie ist diese Frage zu bewerten in Hinsicht auf Hilfe für die Opfer, denn ein mögliches Verfahren bedeutet ja auch immer Öffentlichkeit, bedeutet Befragung, bedeutet Sich-erinnern-Müssen?
Mertes: Ja, das ist ein sehr wichtiger Punkt. Für Opfer ist der ganze Prozess natürlich äußerst schmerzlich, gerade auch, wenn er strafrechtlich aufgearbeitet wird, weswegen ja auch gerade von Opferverbandsseite her darauf hingewiesen wird, dass sozusagen die automatische Meldung an die Staatsanwaltschaft eben auch ihre Probleme gerade für die Opfer hat.
Auf der anderen Seite ist natürlich das Wissen darum, dass der Täter bestraft wird, für die Opfer auch wiederum wichtig für den Versöhnungsprozess, den sie mit sich selbst, mit ihrem Leben und eventuell auch mit der Institution, in der sie verletzt worden sind, missbraucht worden sind, gemacht werden muss. Das ist eine entscheidende Voraussetzung für Versöhnung, zu wissen, dass der Täter bestraft ist.
Welty: Wie stark hat Sie dieser potenzielle Konflikt beschäftigt, als Sie im Januar diesen Schritt gemacht haben und ehemaligen Schülern geschrieben haben, darunter eben auch Opfern von sexuellem Missbrauch am Kolleg, so ein Gedanke von: Helfe ich diesen Menschen wirklich?
Mertes: Ja, also der zentrale Gedanke, den ich hatte, war nicht der des Helfens, denn das steht mir nicht zu. Das steht Therapeuten zu, und die müssen sich die Opfer wählen, wenn sie denn geholfen haben wollen. Mir stand es zu, zu signalisieren, dass ich der richtige – institutionell gesehen – der richtige Ansprechpartner bin, wenn sie sich an jemanden wenden, der noch einen inneren Bezug zu den Tätern hat, den ich ja durch die institutionelle Tradition habe, weil die Täter ja in unserer Schule vor 30 Jahren ihre Missetaten vollbracht haben.
Ich kann ja nicht einfach vor die Opfer, die sich bei mir melden, hintreten und sagen, ich habe damit nichts zu tun. Also trete ich ihnen – so habe ich es immer formuliert – auf der Täterseite, systemisch gesehen, entgegen.
Und es steht dem Täter nicht zu, dem Opfer zu helfen. Aber vielleicht hilft das dem Opfer, wenn der Täter einsieht, dass er Täter ist. Aber wenn er nur einsieht, dass er Täter ist, um zu helfen, dann sieht er ja nicht ein, dass er Täter ist.
Welty: Sie haben sicherlich geahnt, dass es sich bei diesen Missbrauchsfällen der 70er- und 80er-Jahre am Canisius-Kolleg nicht um Einzelfälle gehandelt hat, jetzt bundesweit gesehen, aber haben Sie sich dieses Ausmaß vorstellen können?
Mertes: Nein, das habe ich mir natürlich nicht in diesem Maße vorstellen können. Ich hatte daran gedacht, dass es eventuell in der lokalen Presse ein paar Berichte gibt und dass ich dann in die konkrete Aufarbeitungstätigkeit sofort hineinsteigen kann und mich auf sie konzentrieren kann.
Welty: Und inwieweit verändern diese neuen Erkenntnisse Ihr Verhältnis zu Kirche und zu Ihrem Orden?
Mertes: Mein Verhältnis zu Kirche und Orden ist vollkommen unberührt, das kann ich guten Gewissens sagen. Ich bin ganz und gar Katholik und Jesuit und bin stolz darauf, dass es uns gelingt und wenn es uns gelingt, als katholische Kirche und als Jesuitenorden diese Dinge aufzuarbeiten.
Welty: Inwieweit hat sich Ihr Alltag verändert?
Mertes: Der hat sich sehr radikal verändert, weil ich natürlich zum Beispiel morgens früh Pressegespräche führen muss und Ähnliches und mich auch dann mit den Rückkoppelungswirkungen beschäftigen muss in den Betrieb hinein, die solche Interviews und Ähnliches haben. Aber viel wichtiger ist natürlich, dass ich ein neues Thema habe, nämlich die Kommunikation mit den von Missbräuchen betroffenen ehemaligen Schülerinnen und Schülern.
Welty: Was bedeutet Rückkopplungsmechanismus?
Mertes: Na ja, wenn ich jetzt heute Morgen mit Ihnen spreche, werde ich gleich im Kollegium darauf angesprochen werden, was ich gerade gesagt habe, und dann ist das wieder ein Thema.
Welty: Wenn Sie sich vor Augen führen, was in den letzten Monaten und Wochen geschehen ist an Gesprächen, an Maßnahmen, an Stellungnahmen, reicht das aus in Hinblick auf die Bewältigung der Vergangenheit und vor allem in Hinblick auf die Bewältigung der Zukunft, Stichwort Prävention?
Mertes: Ich kann das ehrlich gesagt nicht beurteilen, dazu bin ich noch selbst zu sehr im Sturm drin und fühle mich auch nicht als der Oberkompetente, um diese Frage zu beantworten. Es ist wichtig, dass diese Themen überhaupt an uns herankommen.
Stichwort Prävention ist das Allerwichtigste, dass die Präventionsfragestellung als Fragestellung überhaupt gesellschaftlich und in den Institutionen akzeptiert wird. Es kann ja auf der anderen Seite nicht sein, dass alle Schulen und alle Lehrerinnen und Lehrer und katholische Priester unter Generalverdacht gestellt werden, das ist ja auch richtig. Trotzdem muss die Präventionsfrage angenommen werden, weil die Ursachen ja nicht nur individuell, sondern auch strukturell sind, und das ist sehr deutlich geworden in den letzten Monaten.
Welty: Was würden Sie sich wünschen, das beim Gespräch von Bundesjustizministerin und Vorsitzenden der Bischofskonferenz herauskommt? Was würden Sie beiden mit ins Gespräch geben wollen?
Mertes: Das Wichtigste ist die Stärkung des Opferschutzes, und wenn das institutionell möglich ist, durch Stärkung von Opferschutzinstitutionen, dann wäre das ein großer Erfolg.
Welty: Pater Klaus Mertes in Deutschlandradio Kultur. Sein Brief an ehemalige Schüler des Canisius-Kollegs hat die Öffentlichkeit aufmerksam gemacht auf den Missbrauch in der katholischen Kirche. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!
Mertes: Bitte sehr, gerne!