Das wichtigste Symbol staatlicher Souveränität
Wenn die UNESCO nicht alles Wesentliche verschlafen würde, hätte sie die europäischen Staatsgrenzen schon längst zum Weltkulturerbe erklärt. Denn Grenzen sind etwas Schönes und Bewahrenswertes, Traditionsreiches und Zukunftsweisendes.
Sowohl in ihrer abstrakten Gestalt von Linien auf der Landkarte als auch in ihrer konkreten Erscheinung mit Schlagbäumen und Wachhäuschen tragen Grenzen auf vielfältige Weise zur Zivilisierung der Menschen und zu einem respektvollen Umgang der Völker miteinander bei.
Das Überschreiten einer Grenze ist ein lebensphilosophischer Akt. Ein großer Teil aller Kulturanstrengungen besteht in Transgressionsritualen; der Mensch möchte die Seite wechseln, er strebt in die Fremde, die Anderwelt, und die Grenze ist der Ort, der diese köstliche Erfahrung des Übergangs und der Verwandlung beglaubigt. Die üblichen Kontrollprozeduren – Anhalten, Ausweis vorzeigen, die stereotypen Fragen der Zöllner, der prüfende Blick, das leichte Unwohlsein, das einen befällt – all diese praktischen Details sorgen für eine gefühlsmäßige Erhöhung dieses Augenblicks.
Und es gibt gute Gründe, daran festzuhalten. Denn die Grenze ist das wichtigste Symbol staatlicher Souveränität. Natürlich ist sie nicht nur ein Symbol. Wenn Grenzen verletzt werden, droht Krieg. Aber in unserem friedlichen Europa geht es hauptsächlich um Symbolik. Es geht um die innere Haltung, die Anerkennung dieser Souveränität. Die Grenze markiert nämlich auch den Unterschied zwischen Bürger und Gast, einen Unterschied der inneren Haltung, der immer mehr verwischt, genauso wie die Grenzen verschwinden.
Dabei ist die Grundlage des ganzen internationalen Miteinanders die Anerkennung der Gebietshoheit. Angesichts globaler Warenströme und Verkehrssysteme, angesichts weltumspannender Religionen und Ideologien gerät das früher selbstverständliche Territorialprinzip immer mehr in die Defensive. Das Territorialprinzip besagt zum Beispiel, dass es die Menschen in Teheran oder Islamabad einfach nichts angeht, welche Zeichnungen in dänischen Zeitungen und welche Romane in englischen Verlagen erscheinen.
Diese Form der Zurückhaltung und des Respekts ist auch zwischen den europäischen Nationen angebracht, solange es sie gibt; und es spricht nichts dafür, sie zugunsten einer totalitären Brüsseler Bürokratenfantasie abzuschaffen. Es gehört ja gerade zur EU-Folklore, die Vielfalt Europas als kulturellen Reichtum zu beschwören. Dieses ganze Pathos der Verschiedenheit hat in der Grenze seinen wichtigsten Erfahrungs- und Erfüllungsort. Hier wird Metaphysik zu Geografie: Länder stoßen auf theatralische Weise aneinander, und meist bleibt zwischen ihnen ein magischer Streifen, der schon die Fantasie von Kindern beschäftigt – das Niemandsland.
Ein Land ohne sichtbare Grenzen ist wie ein Haus ohne Türen. Mit der Abschaffung der Grenzkontrollen genauso wie der Landeswährungen ist zwar ein flüchtiger Komfort verbunden, ein minimaler Zeitgewinn, eine Illusion von Freiheit, aber mindestens ebenso schwer wiegt der Verlust jenes aufregend zwiespältigen Erlebnisraumes, den die Grenze schafft. Dazu gehört die Vorstellung der ununterbrochenen Wachheit der Grenzposten. Wie ein Hotel, dessen Rezeption Tag und Nacht besetzt ist, wirkt ein Land, das seine Grenzen kontrolliert, einfach seriöser.
Zugleich ergibt sich an der Grenze eine interessante Dialektik bei der Demonstration von Staatsmacht, denn der Auftritt von bewaffneten Beamten hat zwar etwas Einschüchterndes, aber zugleich weiß man, dass deren Zuständigkeit zentimetergenau endet. Jeder, der diese Zone betritt, spürt geradezu körperlich das Gewicht der Geschichte: Hier haben die Nationen in historischem Ringen einen existenziellen Kompromiss geschlossen und ihren Grenzverlauf festgelegt.
Wenn man die Grenze dann überquert, macht sich ein helles, triumphales Gefühl des Zugelassenseins breit, die Freude der Fremdheit erfüllt das Bewusstsein und gibt dem banalen Akt der Fortbewegung einen feierlichen Glanz. Das alles bewirken Grenzen: sie stiften Identität und veranschaulichen Differenz – zwei hohe Güter in einer zunehmend globalisierten Welt, die bloß noch kontinentale Wirtschaftsräume kennt.
Damit es hier kein Missverständnis gibt: Alles Gesagte gilt natürlich nur für die gemütlichen Grenzen in einem friedlichen Europa. Die Rede ist nicht von Todesstreifen à la DDR. Aber seit Schengen wissen wir, dass das Reisen über Grenzen, die man nicht sieht und spürt, einer gewissen Erhabenheit entbehrt.
Burkhard Müller-Ullrich, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie. Schreibt für alle deutschsprachigen Rundfunkanstalten und viele Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war Redakteur beim Abendstudio des Schweizer Radios, beim Schweizer Buchmagazin "Bücherpick" und Leiter der Redaktion "Kultur heute" beim Deutschlandfunk. Mitglied der Autorengruppe "Achse des Guten".
Das Überschreiten einer Grenze ist ein lebensphilosophischer Akt. Ein großer Teil aller Kulturanstrengungen besteht in Transgressionsritualen; der Mensch möchte die Seite wechseln, er strebt in die Fremde, die Anderwelt, und die Grenze ist der Ort, der diese köstliche Erfahrung des Übergangs und der Verwandlung beglaubigt. Die üblichen Kontrollprozeduren – Anhalten, Ausweis vorzeigen, die stereotypen Fragen der Zöllner, der prüfende Blick, das leichte Unwohlsein, das einen befällt – all diese praktischen Details sorgen für eine gefühlsmäßige Erhöhung dieses Augenblicks.
Und es gibt gute Gründe, daran festzuhalten. Denn die Grenze ist das wichtigste Symbol staatlicher Souveränität. Natürlich ist sie nicht nur ein Symbol. Wenn Grenzen verletzt werden, droht Krieg. Aber in unserem friedlichen Europa geht es hauptsächlich um Symbolik. Es geht um die innere Haltung, die Anerkennung dieser Souveränität. Die Grenze markiert nämlich auch den Unterschied zwischen Bürger und Gast, einen Unterschied der inneren Haltung, der immer mehr verwischt, genauso wie die Grenzen verschwinden.
Dabei ist die Grundlage des ganzen internationalen Miteinanders die Anerkennung der Gebietshoheit. Angesichts globaler Warenströme und Verkehrssysteme, angesichts weltumspannender Religionen und Ideologien gerät das früher selbstverständliche Territorialprinzip immer mehr in die Defensive. Das Territorialprinzip besagt zum Beispiel, dass es die Menschen in Teheran oder Islamabad einfach nichts angeht, welche Zeichnungen in dänischen Zeitungen und welche Romane in englischen Verlagen erscheinen.
Diese Form der Zurückhaltung und des Respekts ist auch zwischen den europäischen Nationen angebracht, solange es sie gibt; und es spricht nichts dafür, sie zugunsten einer totalitären Brüsseler Bürokratenfantasie abzuschaffen. Es gehört ja gerade zur EU-Folklore, die Vielfalt Europas als kulturellen Reichtum zu beschwören. Dieses ganze Pathos der Verschiedenheit hat in der Grenze seinen wichtigsten Erfahrungs- und Erfüllungsort. Hier wird Metaphysik zu Geografie: Länder stoßen auf theatralische Weise aneinander, und meist bleibt zwischen ihnen ein magischer Streifen, der schon die Fantasie von Kindern beschäftigt – das Niemandsland.
Ein Land ohne sichtbare Grenzen ist wie ein Haus ohne Türen. Mit der Abschaffung der Grenzkontrollen genauso wie der Landeswährungen ist zwar ein flüchtiger Komfort verbunden, ein minimaler Zeitgewinn, eine Illusion von Freiheit, aber mindestens ebenso schwer wiegt der Verlust jenes aufregend zwiespältigen Erlebnisraumes, den die Grenze schafft. Dazu gehört die Vorstellung der ununterbrochenen Wachheit der Grenzposten. Wie ein Hotel, dessen Rezeption Tag und Nacht besetzt ist, wirkt ein Land, das seine Grenzen kontrolliert, einfach seriöser.
Zugleich ergibt sich an der Grenze eine interessante Dialektik bei der Demonstration von Staatsmacht, denn der Auftritt von bewaffneten Beamten hat zwar etwas Einschüchterndes, aber zugleich weiß man, dass deren Zuständigkeit zentimetergenau endet. Jeder, der diese Zone betritt, spürt geradezu körperlich das Gewicht der Geschichte: Hier haben die Nationen in historischem Ringen einen existenziellen Kompromiss geschlossen und ihren Grenzverlauf festgelegt.
Wenn man die Grenze dann überquert, macht sich ein helles, triumphales Gefühl des Zugelassenseins breit, die Freude der Fremdheit erfüllt das Bewusstsein und gibt dem banalen Akt der Fortbewegung einen feierlichen Glanz. Das alles bewirken Grenzen: sie stiften Identität und veranschaulichen Differenz – zwei hohe Güter in einer zunehmend globalisierten Welt, die bloß noch kontinentale Wirtschaftsräume kennt.
Damit es hier kein Missverständnis gibt: Alles Gesagte gilt natürlich nur für die gemütlichen Grenzen in einem friedlichen Europa. Die Rede ist nicht von Todesstreifen à la DDR. Aber seit Schengen wissen wir, dass das Reisen über Grenzen, die man nicht sieht und spürt, einer gewissen Erhabenheit entbehrt.
Burkhard Müller-Ullrich, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie. Schreibt für alle deutschsprachigen Rundfunkanstalten und viele Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war Redakteur beim Abendstudio des Schweizer Radios, beim Schweizer Buchmagazin "Bücherpick" und Leiter der Redaktion "Kultur heute" beim Deutschlandfunk. Mitglied der Autorengruppe "Achse des Guten".