Das Wiedersehen der Riesen

Von Tobias Wenzel |
Er mache keine Politik, sondern Poesie, hatte der französische Regisseur Jean Luc Courcoult über seine neue Freilufttheateraktion in Berlin gesagt. Und das, obwohl seine Riesenmarionetten an geschichtsträchtigen Orten in Berlin zu sehen waren und sind. Am Freitag erwachte die sogenannte Kleine Riesin vor dem Roten Rathaus und marschierte durch die Stadt. "Das Wiedersehen von Berlin" hat Courcoult seine Freiluftinszenierung genannt. Denn am Samstag tauchte plötzlich auch ein großer Riese in Berlin auf, ein Tiefseetaucher aus dem Westen, der von seiner Nichte aus dem Osten durch den Mauerbau getrennt wurde. Am Tag der Deutschen Einheit sollten die beiden sich endlich wiedersehen.
Das kleine Riesenrad an der Straße des 17. Juni ist so besetzt wie noch nie. Denn aus den Gondeln hat man einen perfekten Blick auf den 15 Meter hohen Riesen im Taucheranzug. Gerade hat er, in Sichtweite zum Brandenburger Tor, seinen Taucherhelm abgenommen. Nun sitzt er auf einem blauen Container und ist eingenickt. Die rund 20 Marionettenspieler der Companie Royal de Luxe aus Nantes, die die riesengroße Puppe mit einem Kran und mit Seilen über Flaschenzügen bewegen, haben Pause. Nur der Atem des schlafenden Riesen ist zu hören:

"Wir wollen uns dieses Ereignis nicht entgehen lassen, diese einmaligen Riesenmarionetten anzugucken. Muss aber zugeben, jetzt bin ich doch ein bisschen enttäuscht. Jetzt haben wir uns mit zwei kleinen Kindern durch die Menschenmenge hier durchgewuselt. Und jetzt stellen wir fest, dass wir hier jemanden haben, der noch eine Stunde schläft, also hier der Riese, bevor es weiter geht."

Der Sohn auf den Schultern des Vaters ist dagegen vom Riesen begeistert:

4) O-Ton: Sohn auf Schulter (8 Sek.)
"Toll! Ich finde toll, dass er seine Haare bewegt und den Mund!"

Bald wird er auch seine Beine in Richtung Brandenburger bewegen. Dort soll der große Riese, der im Humboldt-Hafen aufgetaucht ist, seine ostdeutsche Nichte, die kleine Riesin, wiedertreffen. Auch die schläft gerade, allerdings auf der anderen Seite des Brandenburger Tors, "Unter den Linden":

"Aufwachen, aufwachen, aufwachen!"

Die ungeduldigen Schreie der Kinder werden nach zwei Stunden erhört. Die Riesin blinzelt schlaftrunken, um dann die Augen ganz zu öffnen:

15 Männer in roter Zirkusmontur stehen bereit an den Seilen. Sie ziehen der kleinen Riesin eine gelbe Reckenjacke und Regenkappe an. Eine Frau aus der Straßentheatertruppe gibt über ein Megafon das Kommando zum Aufbruch:

Plötzlich geht alles ganz schnell. Die kleine Riesin schreitet mit großen Schritten auf das Brandenburger Tor zu.

Leider kämen sie nicht nah genug an die beiden Riesen heran, sagt ein Bolivianer, der sich in der Menschenmasse weder vor noch zurück bewegen kann. Seine Tochter hat ihren Schuh ausgezogen, um ihn der kleinen Riesin zu schenken:

Keine Chance, den Schuh der Riesin zu übergeben. Die Straße "Unter den Linden" ist so vollgestopft, dass viele die kleine Riesin und ihren großen Onkel nur erahnen können:

" Tochter: "Papi, hier ist kein Onkel!"
Vater: "Ela, guck mal unter dem Brandenburger Tor, da, siehst du seinen Helm?"
Tochter:"Neeeein! Das ist kein Onkel."
Vater: "Guck mal da hinten!"
Tochter: "Nein, da ist kein Onkel... Hab ich gesehen!"
Vater: "Na endlich!"
Tochter: "Ja." (Lacht) "

Der kleinen Riesin reist langsam der Geduldsfaden. Ihr Onkel ist noch weit entfernt. Da lässt sie ihrem Harndrang freien Lauf auf dem Pariser Platz. Ausgeführt von französischen Puppenspielern. Also doch nicht nur Poesie, sondern auch Politik?

Dann ist es endlich so weit: Die Riesin fliegt ihrem Onkel in die Arme. Eine logistische Meisterleistung der beiden Puppenspieler-Trupps. Dann tanzt die kleine Nichte noch ein bisschen für das Publikum, bis ihr Onkel sie schließlich wieder in seine Arme nimmt.

Faszinierend geschmeidig sehen die Bewegungen der Puppen aus. Faszinierend für jene Menschen, die nah genug ans Brandenburger Tor gekommen sind:

" Mutter: "Eigentlich möchte ich hier nur noch raus. Wir haben das Leben, das Erleben der kleinen Puppe gesehen. Und das fanden wir eigentlich auch ganz schön, aber jetzt wollen wir eigentlich nur noch aus der Menge raus."
Mann: "Falsche Planung alles hier!"
Sohn: "Fand's auch so schön. Hab immer nix gesehen." "

Am Sonntag, dem 4. Oktober, kann man die beiden Riesen erneut live erleben. Dann ziehen sie vom Brandenburger Tor durch das Regierungsviertel bis zur Moltkebrücke.