Das Wunderkind aus berühmter Familie
Er war ein Wunderkind in einer mit Talenten übereich beschenkten Familie: Felix Mendelssohn Bartholdy - einer der größten Künstler des 19. Jahrhunderts. Thomas Lackmann, Nachkomme der Familie und Autor des Buches "Das Glück der Mendelssohns", sieht in dem Musiker, Komponisten und Pädagogen einen Menschen mit hochgesteckten Ambitionen und großartiger Begabung, der gleichzeitig ein internationaler Künstler und ein deutscher Patriot war.
Liane von Billerbeck: Keine andere bürgerliche Familie dürfte die deutsche Kultur länger geprägt haben als diese: Die Familie von Felix Mendelssohn Bartholdy, heute vor 200 Jahren wurde er geboren. Sein Großvater war der Philosoph und Aufklärer Moses Mendelssohn, sein Vater Abraham ein erfolgreicher Bankier, und von ihm, von Abraham Mendelssohn, stammt der Satz: Erst war ich der Sohn meines Vaters, jetzt bin ich der Vater meines Sohnes. Über diesen Sohn, den Musiker, Komponisten, Pädagogen und Europäer Felix Mendelssohn Bartholdy, dieses Wunderkind aus berühmter Familie, wollen wir jetzt mit Thomas Lackmann sprechen. Als Nachfahre von Moses Mendelssohn kennt er sich mit seiner Familiengeschichte bestens aus und hat auch ein Buch darüber geschrieben. Herr Lackmann, herzlich Willkommen!
Thomas Lackmann: Guten Tag!
von Billerbeck: "Das Glück der Mendelssohns" haben Sie 2005 Ihr Buch genannt über die Familie, in die Felix 1809 hineingeboren wird. Was war denn deren Glück?
Lackmann: Na ja, Glück kann man ja so oder so definieren. Das ist das Glück, das einem zugeflogen kommt, also die Talente und die Erbschaften, die wir bekommen, und in der Familie und auch bei Felix gibt es das reichlich, eine Überfülle an künstlerischen Talenten und außerdem ein wohlhabendes Elternhaus. Und dann gibt es ja noch das Glück, glücklich zu sein, als Zustand, als Fähigkeit, das Leben zu meistern und das zu genießen. Und ich denke, dass Felix nicht so ein Sonnyboy war, wie ihn dann die kritische Nachwelt dazu gemacht hat, die sagt, er hätte oberflächliche Musik gemacht. Ich glaube, dass da viele Risse und Abgründe auch in seiner Musik und in seiner Psyche gewesen sind. Aber er steht schon, Felix der Glückliche, auch für das Glück der Mendelssohns, als glückliches Leben.
von Billerbeck: Mit neun Jahren ist Felix Mendelssohn zum ersten Mal aufgetreten öffentlich als Pianist. Das riecht ja so ein bisschen nach einem Mozart des 19. Jahrhunderts, wie man ihn auch immer genannt hat. Und als ob er gewusst habe, dass er alles schneller und früher als die anderen machen müsse, weil sein Leben eben nur sehr kurz gewährt hat, er ist ja nur 38 Jahre alt geworden. Was war das für ein Kind, dieser Felix?
Lackmann: Also der Vergleich mit Mozart und Beethoven oder auch Clara Schumann hinkt insofern, weil das waren gedrillte Kinder, die für ihre Eltern auch mit Geld verdienen mussten.
von Billerbeck: Das hatte er ja nicht nötig.
Lackmann: Er hatte es nicht nötig, seine Eltern wollten schon, dass er Erfolg hat, sie wollten die Anerkennung in der Gesellschaft, sie wollten auch, dass er, wenn er dann Künstler wird, damit wirklich auch gut Geld verdienen kann. Deswegen hätten sie am liebsten gehabt, dass er Opernkomponist wird, weil damals verdiente man am meisten Ruhm und Geld, wenn man Opern schrieb. Das hat übrigens nicht geklappt. Aber diese Kindheit des Drills und der ganz vielen Ausbildungsstunden, ein unglaubliches Ausbildungsprogramm den ganzen Tag über, hat zugleich wirklich eine Berliner Lausejungenkindheit, ein Junge, der sich also in der Leipziger Straße mit der Nachbarschaft geprügelt hat und der einen herrlichen Garten hinterm Haus hatte, so einen der schönsten Gärten der ganzen Stadt. Da war beides drin, die ganz hochgesteckten Ambitionen, die großartige Begabung. Es gibt Leute, die sagen, eigentlich war Felix das Wunderkind und nicht Mozart, wenn man jetzt die frühen Kompositionen vergleicht.
von Billerbeck: 1816 hat der Vater Abraham seine Kinder ja christlich taufen lassen. Welche Folgen hatte das für den Musikersohn?
Lackmann: Die Taufe war ja ein Schritt zur Sicherung der Zukunft der Kinder. Felix ist nie beschnitten worden, das heißt, schon als er geboren wurde 1809, gab es eigentlich die Überlegung, wie machen wir das mit der Zukunft der Kinder. Erst sechs Jahre nach den vier Kindern sind dann auch die Eltern konvertiert. Aber das Ganze ist ein langes Programm der Zerrissenheit gewesen, zehn Jahre lang haben die Eltern überlegt, sollen wir konvertieren, sollen wir emigrieren. Also das war ein vielfältiger Konflikt, auch mit der ganzen Umwelt, denn der Vater Abraham war verbandelt als Kompagnon mit seinem Bruder Joseph in der Mendelssohn-Bank. Und diese ganzen Trennungen, konfessionellen und geschäftlichen Trennungen, das musste alles bedacht sein. Für Felix den Musiker ist vielleicht die Folge gewesen, dass er ein erfolgreicher Kirchenkomponist wurde, aber er wurde es nicht nur für die evangelische Kirche, er hat auch Stücke der katholischen Liturgie vertont. Er hat sich sehr stark im Alten Testament bedient, was ja auch den Juden sozusagen gehört bzw. gerade denen oder was Christen und Juden miteinander teilen. Und jetzt zu sagen, er war der spezifisch gläubige Christ, da wäre ich vorsichtig. Ich glaube, dass die Kunst - Frau Musica - seine große Liebe war und die Kunstreligion des 19. Jahrhunderts, für viele Bürger eine Ersatzreligion, war für ihn sicher auch der Lebensinhalt. Bei der Kunst war er wirklich, bei der Musik war er ganz bei sich. Und ansonsten war er vielleicht der Vernunftreligion seines Großvaters Moses, der Ethik der Aufklärung sehr viel näher noch als einem spezifisch auf Christus ausgerichteten Christentum.
von Billerbeck: Felix Mendelssohn Bartholdy wird ja von manchem auch als so eine Art Bilderbuch-Europäer bezeichnet. Wie wurde er das?
Lackmann: Ja, das ist auch ein bisschen zu einseitig, und Widersprüche und Widersprüche sind ja immer schön, weil sie menschlich sind und weil sie einem die Leute vom Denkmal runterholen und nahebringen. Da würde ich sagen, sein Vater Abraham hat dem Felix aufgetragen, sich den Ort in Europa zu suchen, wo er leben will. Der Vater selber war einerseits Kosmopolit, auch ganz stark nach Frankreich ausgerichtet, andererseits dann aber auch immer häuslicher und ein preußischer Patriot. Und Felix hat sich auf großartigen Bildungsreisen, die er unternehmen durfte durch ganz Europa, umgeschaut und fand Italien toll, aber es war keine Option, dort zu leben. Und Frankreich hat er aus verschiedenen Gründen nicht gemocht wegen der Kulturatmosphäre dort, wegen der Art, wie da Kultur vermarktet wird. England hat er sehr geliebt, aber letzten Endes hat er sich für Deutschland entschieden. Er war also, ich würde es schon sagen, vom Herzen her ein deutscher Patriot, weil er in Deutschland leben wollte und weil die deutsche Kultur ganz stark sein Zuhause war. Zugleich war er aber wirklich ein internationaler, europäischer Künstler mit vielen Verbindungen in alle Welt, ein Liberaler. Und deswegen kann man ihn weder für das noch für das Programm vereinnahmen.
von Billerbeck: Vor 200 Jahren wurde Felix Mendelssohn Bartholdy geboren. Wir sprechen über den Meister mit einem Kenner und zugleich Nachfahre der Familie Mendelssohn, mit Thomas Lackmann. Die Wiederentdeckung Bachs, das ist ja eine der anderen großen Leistungen, muss man sagen, Felix Mendelssohn Bartholdys. In Berlin mit der Singakademie hat er Bachs Matthäus-Passion aufgeführt. Wie kam er zu Bach?
Lackmann: Bach hat in der Familie eine große Rolle gespielt. Sein Großvater Moses hat schon Unterricht beim Bach-Schüler Kirnberger gehabt. Seine Mutter Lea hat ebenfalls Unterricht bei Kirnberger gehabt. Seine Großtante Sarah, die hat die Bach-Pflege in die Familie ganz stark hineingebracht. Die Autografen von Bach sind also durch sie in die Familie hineingekommen. Wie Goethe dann später auch wurde das ein kultureller Hausgott, ein Stern auf dem Olymp, an dem man sich ausrichtete. Das gehörte zum Handwerk für Felix und Fanny und ihren Unterricht, und das haben sie internalisiert. Und er hat sich ja selber auch formal mit Bach auseinandergesetzt in seinen Fugen, die er geschrieben hat. Also es blitzt immer wieder auf, aber nicht in dem Sinne, dass er es kopiert, sondern dass er es selber verarbeitet. Die Begeisterung von Felix hat ganz zu diesem großen Werk, zu diesem großen Projekt beigetragen, wo ganz viele Leute, ein großer Laienchor mitwirken mussten, ein Benefizkonzert, was wirklich Sensationen gemacht hat und was die Bach-Entdeckung entscheidend angestoßen hat.
von Billerbeck: Berlin, wo er also die Matthäus-Passion mit der Singakademie aufgeführt hat, hat er jedoch nicht gemocht. Ich habe in Ihrem Buch ein paar Zitate gelesen von ihm. Da steht zum Beispiel: "Dies ist wahrhaft ein Nest, die Musik geht schlecht, die Leute sind nur noch knöcherner geworden, die Besten sind gestorben, es gibt keine Geselligkeit und keine Öffentlichkeit." Wieso mochte er Berlin dann doch nicht so?
Lackmann: Also auch Berlin ist eben zwiespältig und widersprüchlich in seinem Leben. Er ist wirklich ein Berliner, obwohl weder hier gestorben noch hier geboren, aber beruflich ist es schwierig geworden. Und da gibt es am Anfang zwei ganz große Frusterfahrungen: Das Scheitern seiner ersten und einzigen Oper 1827 im Schauspielhaus auf dem Gendarmenmarkt, ein großer Flop, ein Pflichtbeifall nur, aber alle merken, es ist nichts geworden. Und sechs Jahre später dann diese Sache mit der Singakademie. Sein Lehrer Zelter hatte ihn selber als Nachfolger dieses berühmten, überhaupt ersten gemischten Chores der Welt, bürgerlichen Chores der Welt, empfohlen, aber der Chor hat ihn dann nicht gewählt, und zwar, weil er denen zu jung war, zu genial, zu wanderlustig und weil die Familie jüdischer Herkunft war. Und dann war eben Berlin auch als Kulturstadt, also eine miefige Residenzstadt, keine Weltkulturhauptstadt. Und wie hier mit Musik und Kultur umgegangen wurde, da war er verwöhnt, da war er Besseres gewöhnt andernorts. Das hat ihn dann auch wieder abgestoßen, auch wenn es die Sonntagsmusiken im Haus in der Leipziger Straße gab, die Fanny veranstaltete. All diese Dinge haben zu dieser Zerrissenheit in punkto Berlin geführt.
von Billerbeck: Aber wer ihn auf jeden Fall geholt hat, wenn ihn auch die Singakademie hier abgelehnt hat, das war das Gewandhaus-Orchester, da wurde er 1835 Gewandhaus-Kapellmeister mit nur 26 Jahren. Wie wurden denn seine Gewandhaus-Konzerte aufgenommen in Sachsen?
Lackmann: Er war ja derjenige - und das zeigt ja auch seine Bedeutung für Leipzig und vielleicht konnte das eben auch nur in einer Stadt wie Leipzig so funktionieren, in der das Gewandhaus diese Bedeutung hatte, wenn man in Berlin sagen kann, vielleicht wissen wir ja selber auch, wie vieles sich in Berlin verzetteln kann. In Leipzig hat er ja nicht nur als Gewandhaus-Direktor das Gewandhaus wirklich überhaupt zu diesem Weltruhm gebracht, aber in Leipzig ist er eben auch der große Erfinder eigentlich der deutschen Musikerausbildung gewesen.
von Billerbeck: Hat ja dort auch das Konservatorium gegründet, das erste deutsche Konservatorium.
Lackmann: Genau. Also er war damit ein Pionier. Und er ist auch für die Stadt Leipzig eben als Nachfolger des Thomas-Kantors letzten Endes auch ein Stern gewesen und hat dann auch die Bach-Pflege auch bis hin dazu, dass er das erste Bach-Denkmal gestiftet hat. Also um es mal so zu sagen, dass 40 Jahre nach seinem Tod ungefähr die Stadtväter von Leipzig nach langen, langen Planungsjahren ihm dann ein Denkmal gesetzt haben, ein drei Meter großes Bronzedenkmal am Gewandhaus, auf dem er eben nicht so feenhaft und flatternd, wie wir die Felix-Darstellungen des 20. Jahrhunderts kennen, wo wir alle wissen und denken an den Holocaust und Felix sozusagen als Getriebener, als Verfolgter auch. Dieser Felix des 19. Jahrhunderts, wie ihn die Leipziger in Erinnerung hatten, das ist ein antiker Lehrer, der hat eine Toga, der hat eine Schriftrolle in der Hand, der steht da so auf dem Boden, fest und stark, und hat dieser Stadt was zu sagen. Das ist ein anderes Felix-Bild, als wir es dann so elfengleich aus dem Sommernachtstraum und den Liedern ohne Worte kolportieren. Und das zeigt eben auch, dass jede Zeit ihre Felix-Bilder entwickelt.
von Billerbeck: Der Dirigent als Star auch, ist der eigentlich durch ihn kreiert worden?
Lackmann: Das weiß ich nicht, ich bin da kein Musikspezialist, aber ich weiß, dass er einer der ersten international reüssierenden Musikerstars war, er war Festivaldirektor in verschiedenen Orten in Europa. Er ist da einfach gut angekommen. Er war aber auch ein wahnsinniger Workaholic. Er hat ein Arbeits-Input da eingebracht, mit vielen Beschäftigungen gleichzeitig. Und wenn es Zeitgenossen gab, auch sein Freund Schumann, die lästern über ihn, dass er so biedermeierlich-beschaulich sich im Familienleben zurückzieht. So fragt man sich, wann hat er das eigentlich gemacht. Ich denke, die Familie war für ihn zwischendurch so ein Erholungspunkt, aber er war wirklich ein rasender Workaholic, der ... Also ich nenne mal ein Beispiel: Wo er das erste Mal Festivaldirektor in Düsseldorf war, bricht er mitten in den Proben ab, fährt rüber nach England, holt das Originalmanuskript von Händels Oratorium "Israel in Ägypten", was dann im 19. Jahrhundert wirklich zum beliebtesten Händel-Oratorium in Deutschland wird, fährt mit den Originalnoten zurück, probt weiter, alles bei brüllender Hitze, hat einen wahnsinnsrauschenden Auftritt dort, schon bei den Proben, aber dann bei dem Festival, wird vom Fleck weg engagiert dort für Jahre als Musikdirektor am Schauspielhaus, fährt danach aber wieder nach England mit seinem Vater zusammen und geht da auf Tournee und durchstreift die Salons. Also der Mann hat ein Arbeitspensum gehabt, aber auch ein gesellschaftliches, mit seinen 7000 Briefen, seinen vielen Kontakten. Und, das kann man auch sagen, der Mann hat so viel geflirtet, da kann man nur sagen, das ist vielleicht Oberflächlichkeit gewesen. Hier brauchte einer ganz schnell ganz viel Selbstbestätigung, auch von den Damen, den reiferen und jüngeren, auf jeden Fall den schönen Damen, und hat sich das geholt und auch viele gebrochene Herzen hinterlassen.
von Billerbeck: Thomas Lackmann, ein Nachfahre Moses Mendelssohns über Felix Mendelssohn Bartholdy, der heute vor 200 Jahren geboren wurde. Herzlichen Dank für Ihr Kommen und das Gespräch!
Thomas Lackmann: Guten Tag!
von Billerbeck: "Das Glück der Mendelssohns" haben Sie 2005 Ihr Buch genannt über die Familie, in die Felix 1809 hineingeboren wird. Was war denn deren Glück?
Lackmann: Na ja, Glück kann man ja so oder so definieren. Das ist das Glück, das einem zugeflogen kommt, also die Talente und die Erbschaften, die wir bekommen, und in der Familie und auch bei Felix gibt es das reichlich, eine Überfülle an künstlerischen Talenten und außerdem ein wohlhabendes Elternhaus. Und dann gibt es ja noch das Glück, glücklich zu sein, als Zustand, als Fähigkeit, das Leben zu meistern und das zu genießen. Und ich denke, dass Felix nicht so ein Sonnyboy war, wie ihn dann die kritische Nachwelt dazu gemacht hat, die sagt, er hätte oberflächliche Musik gemacht. Ich glaube, dass da viele Risse und Abgründe auch in seiner Musik und in seiner Psyche gewesen sind. Aber er steht schon, Felix der Glückliche, auch für das Glück der Mendelssohns, als glückliches Leben.
von Billerbeck: Mit neun Jahren ist Felix Mendelssohn zum ersten Mal aufgetreten öffentlich als Pianist. Das riecht ja so ein bisschen nach einem Mozart des 19. Jahrhunderts, wie man ihn auch immer genannt hat. Und als ob er gewusst habe, dass er alles schneller und früher als die anderen machen müsse, weil sein Leben eben nur sehr kurz gewährt hat, er ist ja nur 38 Jahre alt geworden. Was war das für ein Kind, dieser Felix?
Lackmann: Also der Vergleich mit Mozart und Beethoven oder auch Clara Schumann hinkt insofern, weil das waren gedrillte Kinder, die für ihre Eltern auch mit Geld verdienen mussten.
von Billerbeck: Das hatte er ja nicht nötig.
Lackmann: Er hatte es nicht nötig, seine Eltern wollten schon, dass er Erfolg hat, sie wollten die Anerkennung in der Gesellschaft, sie wollten auch, dass er, wenn er dann Künstler wird, damit wirklich auch gut Geld verdienen kann. Deswegen hätten sie am liebsten gehabt, dass er Opernkomponist wird, weil damals verdiente man am meisten Ruhm und Geld, wenn man Opern schrieb. Das hat übrigens nicht geklappt. Aber diese Kindheit des Drills und der ganz vielen Ausbildungsstunden, ein unglaubliches Ausbildungsprogramm den ganzen Tag über, hat zugleich wirklich eine Berliner Lausejungenkindheit, ein Junge, der sich also in der Leipziger Straße mit der Nachbarschaft geprügelt hat und der einen herrlichen Garten hinterm Haus hatte, so einen der schönsten Gärten der ganzen Stadt. Da war beides drin, die ganz hochgesteckten Ambitionen, die großartige Begabung. Es gibt Leute, die sagen, eigentlich war Felix das Wunderkind und nicht Mozart, wenn man jetzt die frühen Kompositionen vergleicht.
von Billerbeck: 1816 hat der Vater Abraham seine Kinder ja christlich taufen lassen. Welche Folgen hatte das für den Musikersohn?
Lackmann: Die Taufe war ja ein Schritt zur Sicherung der Zukunft der Kinder. Felix ist nie beschnitten worden, das heißt, schon als er geboren wurde 1809, gab es eigentlich die Überlegung, wie machen wir das mit der Zukunft der Kinder. Erst sechs Jahre nach den vier Kindern sind dann auch die Eltern konvertiert. Aber das Ganze ist ein langes Programm der Zerrissenheit gewesen, zehn Jahre lang haben die Eltern überlegt, sollen wir konvertieren, sollen wir emigrieren. Also das war ein vielfältiger Konflikt, auch mit der ganzen Umwelt, denn der Vater Abraham war verbandelt als Kompagnon mit seinem Bruder Joseph in der Mendelssohn-Bank. Und diese ganzen Trennungen, konfessionellen und geschäftlichen Trennungen, das musste alles bedacht sein. Für Felix den Musiker ist vielleicht die Folge gewesen, dass er ein erfolgreicher Kirchenkomponist wurde, aber er wurde es nicht nur für die evangelische Kirche, er hat auch Stücke der katholischen Liturgie vertont. Er hat sich sehr stark im Alten Testament bedient, was ja auch den Juden sozusagen gehört bzw. gerade denen oder was Christen und Juden miteinander teilen. Und jetzt zu sagen, er war der spezifisch gläubige Christ, da wäre ich vorsichtig. Ich glaube, dass die Kunst - Frau Musica - seine große Liebe war und die Kunstreligion des 19. Jahrhunderts, für viele Bürger eine Ersatzreligion, war für ihn sicher auch der Lebensinhalt. Bei der Kunst war er wirklich, bei der Musik war er ganz bei sich. Und ansonsten war er vielleicht der Vernunftreligion seines Großvaters Moses, der Ethik der Aufklärung sehr viel näher noch als einem spezifisch auf Christus ausgerichteten Christentum.
von Billerbeck: Felix Mendelssohn Bartholdy wird ja von manchem auch als so eine Art Bilderbuch-Europäer bezeichnet. Wie wurde er das?
Lackmann: Ja, das ist auch ein bisschen zu einseitig, und Widersprüche und Widersprüche sind ja immer schön, weil sie menschlich sind und weil sie einem die Leute vom Denkmal runterholen und nahebringen. Da würde ich sagen, sein Vater Abraham hat dem Felix aufgetragen, sich den Ort in Europa zu suchen, wo er leben will. Der Vater selber war einerseits Kosmopolit, auch ganz stark nach Frankreich ausgerichtet, andererseits dann aber auch immer häuslicher und ein preußischer Patriot. Und Felix hat sich auf großartigen Bildungsreisen, die er unternehmen durfte durch ganz Europa, umgeschaut und fand Italien toll, aber es war keine Option, dort zu leben. Und Frankreich hat er aus verschiedenen Gründen nicht gemocht wegen der Kulturatmosphäre dort, wegen der Art, wie da Kultur vermarktet wird. England hat er sehr geliebt, aber letzten Endes hat er sich für Deutschland entschieden. Er war also, ich würde es schon sagen, vom Herzen her ein deutscher Patriot, weil er in Deutschland leben wollte und weil die deutsche Kultur ganz stark sein Zuhause war. Zugleich war er aber wirklich ein internationaler, europäischer Künstler mit vielen Verbindungen in alle Welt, ein Liberaler. Und deswegen kann man ihn weder für das noch für das Programm vereinnahmen.
von Billerbeck: Vor 200 Jahren wurde Felix Mendelssohn Bartholdy geboren. Wir sprechen über den Meister mit einem Kenner und zugleich Nachfahre der Familie Mendelssohn, mit Thomas Lackmann. Die Wiederentdeckung Bachs, das ist ja eine der anderen großen Leistungen, muss man sagen, Felix Mendelssohn Bartholdys. In Berlin mit der Singakademie hat er Bachs Matthäus-Passion aufgeführt. Wie kam er zu Bach?
Lackmann: Bach hat in der Familie eine große Rolle gespielt. Sein Großvater Moses hat schon Unterricht beim Bach-Schüler Kirnberger gehabt. Seine Mutter Lea hat ebenfalls Unterricht bei Kirnberger gehabt. Seine Großtante Sarah, die hat die Bach-Pflege in die Familie ganz stark hineingebracht. Die Autografen von Bach sind also durch sie in die Familie hineingekommen. Wie Goethe dann später auch wurde das ein kultureller Hausgott, ein Stern auf dem Olymp, an dem man sich ausrichtete. Das gehörte zum Handwerk für Felix und Fanny und ihren Unterricht, und das haben sie internalisiert. Und er hat sich ja selber auch formal mit Bach auseinandergesetzt in seinen Fugen, die er geschrieben hat. Also es blitzt immer wieder auf, aber nicht in dem Sinne, dass er es kopiert, sondern dass er es selber verarbeitet. Die Begeisterung von Felix hat ganz zu diesem großen Werk, zu diesem großen Projekt beigetragen, wo ganz viele Leute, ein großer Laienchor mitwirken mussten, ein Benefizkonzert, was wirklich Sensationen gemacht hat und was die Bach-Entdeckung entscheidend angestoßen hat.
von Billerbeck: Berlin, wo er also die Matthäus-Passion mit der Singakademie aufgeführt hat, hat er jedoch nicht gemocht. Ich habe in Ihrem Buch ein paar Zitate gelesen von ihm. Da steht zum Beispiel: "Dies ist wahrhaft ein Nest, die Musik geht schlecht, die Leute sind nur noch knöcherner geworden, die Besten sind gestorben, es gibt keine Geselligkeit und keine Öffentlichkeit." Wieso mochte er Berlin dann doch nicht so?
Lackmann: Also auch Berlin ist eben zwiespältig und widersprüchlich in seinem Leben. Er ist wirklich ein Berliner, obwohl weder hier gestorben noch hier geboren, aber beruflich ist es schwierig geworden. Und da gibt es am Anfang zwei ganz große Frusterfahrungen: Das Scheitern seiner ersten und einzigen Oper 1827 im Schauspielhaus auf dem Gendarmenmarkt, ein großer Flop, ein Pflichtbeifall nur, aber alle merken, es ist nichts geworden. Und sechs Jahre später dann diese Sache mit der Singakademie. Sein Lehrer Zelter hatte ihn selber als Nachfolger dieses berühmten, überhaupt ersten gemischten Chores der Welt, bürgerlichen Chores der Welt, empfohlen, aber der Chor hat ihn dann nicht gewählt, und zwar, weil er denen zu jung war, zu genial, zu wanderlustig und weil die Familie jüdischer Herkunft war. Und dann war eben Berlin auch als Kulturstadt, also eine miefige Residenzstadt, keine Weltkulturhauptstadt. Und wie hier mit Musik und Kultur umgegangen wurde, da war er verwöhnt, da war er Besseres gewöhnt andernorts. Das hat ihn dann auch wieder abgestoßen, auch wenn es die Sonntagsmusiken im Haus in der Leipziger Straße gab, die Fanny veranstaltete. All diese Dinge haben zu dieser Zerrissenheit in punkto Berlin geführt.
von Billerbeck: Aber wer ihn auf jeden Fall geholt hat, wenn ihn auch die Singakademie hier abgelehnt hat, das war das Gewandhaus-Orchester, da wurde er 1835 Gewandhaus-Kapellmeister mit nur 26 Jahren. Wie wurden denn seine Gewandhaus-Konzerte aufgenommen in Sachsen?
Lackmann: Er war ja derjenige - und das zeigt ja auch seine Bedeutung für Leipzig und vielleicht konnte das eben auch nur in einer Stadt wie Leipzig so funktionieren, in der das Gewandhaus diese Bedeutung hatte, wenn man in Berlin sagen kann, vielleicht wissen wir ja selber auch, wie vieles sich in Berlin verzetteln kann. In Leipzig hat er ja nicht nur als Gewandhaus-Direktor das Gewandhaus wirklich überhaupt zu diesem Weltruhm gebracht, aber in Leipzig ist er eben auch der große Erfinder eigentlich der deutschen Musikerausbildung gewesen.
von Billerbeck: Hat ja dort auch das Konservatorium gegründet, das erste deutsche Konservatorium.
Lackmann: Genau. Also er war damit ein Pionier. Und er ist auch für die Stadt Leipzig eben als Nachfolger des Thomas-Kantors letzten Endes auch ein Stern gewesen und hat dann auch die Bach-Pflege auch bis hin dazu, dass er das erste Bach-Denkmal gestiftet hat. Also um es mal so zu sagen, dass 40 Jahre nach seinem Tod ungefähr die Stadtväter von Leipzig nach langen, langen Planungsjahren ihm dann ein Denkmal gesetzt haben, ein drei Meter großes Bronzedenkmal am Gewandhaus, auf dem er eben nicht so feenhaft und flatternd, wie wir die Felix-Darstellungen des 20. Jahrhunderts kennen, wo wir alle wissen und denken an den Holocaust und Felix sozusagen als Getriebener, als Verfolgter auch. Dieser Felix des 19. Jahrhunderts, wie ihn die Leipziger in Erinnerung hatten, das ist ein antiker Lehrer, der hat eine Toga, der hat eine Schriftrolle in der Hand, der steht da so auf dem Boden, fest und stark, und hat dieser Stadt was zu sagen. Das ist ein anderes Felix-Bild, als wir es dann so elfengleich aus dem Sommernachtstraum und den Liedern ohne Worte kolportieren. Und das zeigt eben auch, dass jede Zeit ihre Felix-Bilder entwickelt.
von Billerbeck: Der Dirigent als Star auch, ist der eigentlich durch ihn kreiert worden?
Lackmann: Das weiß ich nicht, ich bin da kein Musikspezialist, aber ich weiß, dass er einer der ersten international reüssierenden Musikerstars war, er war Festivaldirektor in verschiedenen Orten in Europa. Er ist da einfach gut angekommen. Er war aber auch ein wahnsinniger Workaholic. Er hat ein Arbeits-Input da eingebracht, mit vielen Beschäftigungen gleichzeitig. Und wenn es Zeitgenossen gab, auch sein Freund Schumann, die lästern über ihn, dass er so biedermeierlich-beschaulich sich im Familienleben zurückzieht. So fragt man sich, wann hat er das eigentlich gemacht. Ich denke, die Familie war für ihn zwischendurch so ein Erholungspunkt, aber er war wirklich ein rasender Workaholic, der ... Also ich nenne mal ein Beispiel: Wo er das erste Mal Festivaldirektor in Düsseldorf war, bricht er mitten in den Proben ab, fährt rüber nach England, holt das Originalmanuskript von Händels Oratorium "Israel in Ägypten", was dann im 19. Jahrhundert wirklich zum beliebtesten Händel-Oratorium in Deutschland wird, fährt mit den Originalnoten zurück, probt weiter, alles bei brüllender Hitze, hat einen wahnsinnsrauschenden Auftritt dort, schon bei den Proben, aber dann bei dem Festival, wird vom Fleck weg engagiert dort für Jahre als Musikdirektor am Schauspielhaus, fährt danach aber wieder nach England mit seinem Vater zusammen und geht da auf Tournee und durchstreift die Salons. Also der Mann hat ein Arbeitspensum gehabt, aber auch ein gesellschaftliches, mit seinen 7000 Briefen, seinen vielen Kontakten. Und, das kann man auch sagen, der Mann hat so viel geflirtet, da kann man nur sagen, das ist vielleicht Oberflächlichkeit gewesen. Hier brauchte einer ganz schnell ganz viel Selbstbestätigung, auch von den Damen, den reiferen und jüngeren, auf jeden Fall den schönen Damen, und hat sich das geholt und auch viele gebrochene Herzen hinterlassen.
von Billerbeck: Thomas Lackmann, ein Nachfahre Moses Mendelssohns über Felix Mendelssohn Bartholdy, der heute vor 200 Jahren geboren wurde. Herzlichen Dank für Ihr Kommen und das Gespräch!