"Das Zentrum von Athen ist kaum begehbar"
Die Lage in Athen eskaliere in "unvorstellbarem Maße", sagt der griechische Soziologe und Wissenschaftsphilosoph Gerassimos Kouzelis. Die Politik sei ratlos. Das ganze Land brauche einen völligen Neuanfang.
Liane von Billerbeck: Die Hauptstadt des krisengeschüttelten Griechenland, Athen, so lesen wir das hierzulande, steht dem Drogenhandel, der Prostitution, der aggressiven Bettelei und dem organisierten Verbrechen völlig hilflos gegenüber. Vier von fünf Griechen geben in einer Umfrage an, ihr Land bewege sich in eine falsche Richtung. Genau so viele haben für ihre politische Klasse nichts als Misstrauen und Verachtung. Die griechische Politik hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, nicht nur in der Europäischen Union, sondern vor allem in der eigenen Bevölkerung. Über die Stimmung im Land und die Maßnahmen der Regierung wollen wir jetzt sprechen mit dem griechischen Soziologen und Wissenschaftsphilosophen Gerassimos Kouzelis von der Universität Athen. Ich grüße Sie!
Gerassimos Kouzelis: Guten Tag!
von Billerbeck: In deutschen Zeitungen steht, dass Athen völlig hilflos sei. Die Stadt hätte weder dem Drogenhandel noch der Prostitution noch dem organisierten Verbrechen etwas entgegenzusetzen. Wie schlimm steht es um die Stadt? Ist das so?
Kouzelis: Schlimmer als man denken würde. Das ist eine Entwicklung, die jetzt seit ungefähr zwei Jahren läuft. Es eskaliert in unvorstellbaren Maßen. Das Zentrum von Athen ist kaum begehbar im Grunde, hauptsächlich dadurch, dass die sogenannte finanzielle Krise tatsächlich als soziale Krise unterschätzt wurde. Es heißt, dass die Ausweglosigkeit da, in dem Zentrum der Stadt, tatsächlich zu sehen ist in Formen, die man eigentlich nicht vermutet hat.
von Billerbeck: Hier wird sogar von Menschenjagden berichtet, von Rechtsextremen, die Ausländer, Einwanderer, die in der Innenstadt campieren, auf die Jagd machen. Beschreiben Sie uns das, stimmt das so?
Kouzelis: Ja, die Ausländer sind das einfache Opfer. Das ist wahr, da sind Ausländer, die total verarmt sind, total verelendet. Viele von denen – es sind aber nicht nur Ausländer – leben vom Müll, viele von denen leben von Kleinkriminalität, und daher ist das Zentrum tatsächlich eine gefährliche Zone geworden, in einer Stadt, die bis vor Kurzem eine der sichersten der Welt war, kann man kaum zu Fuß gehen.
Und das hat dazu geführt, dass die Rechtsextremisten wirklich den Grund gefunden haben, ein Pogrom richtig gegen Ausländer zu organisieren. Es gibt richtig gut organisierte faschistische Gruppen, die tatsächlich Jagd organisieren gegen Ausländer. Das hat tatsächlich stattgefunden in mehreren Teilen des Stadtzentrums, und die Entwicklung ist in jedem Sinne wirklich gefährlich für alle, für die Gesellschaft an sich.
von Billerbeck: 250 zusätzliche Streifenpolizisten sollen jetzt gestellt werden, das klingt ja wie der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Denn Athens Bürgermeister Kaminis weiß, dass er eigentlich mehr braucht. Der will nun die wachsenden Müllberge beseitigen, Straßenlaternen reparieren, die Bürger mobilisieren und die Touristen zurückholen. Ist das hilfloser Aktionismus oder eine tatsächlich Erfolg versprechende Strategie?
Kouzelis: Das, was einem wirklich Angst machen sollte und machen muss, ist tatsächlich die Aussichtslosigkeit, und das vor allem seitens der Politik. Weder der Bürgermeister noch das Ministerium scheint erst mal ein echtes Bild davon zu haben, was los ist, und zweitens Vorstellungen, wie man was dagegen machen muss. Polizei ist tatsächlich – okay, das ist keine Grundvoraussetzung, aber die Polizei bisher war nicht fähig, irgendwas in der Richtung zu organisieren oder zu garantieren. Und daher glaube ich nicht, dass es eine Frage der Polizei oder der Ordnungsmaßnahmen ist. Es ist eine Frage der sozialen Politik und die ist absolut abwesend.
von Billerbeck: Die Bevölkerung nimmt ja die politische Elite als eine Gruppe wahr, von der sie sich nicht vertreten fühlt, das ist wahrscheinlich aber viel zu schwach ausgedrückt: Sie hat kein Vertrauen mehr in die Politik. Was müsste die Politik denn jetzt tun, um dieses Vertrauen wenigstens in Ansätzen zurück zu gewinnen?
Kouzelis: Es ist schwer zu sagen, was die Politik jetzt machen müsste. Es sieht so aus, dass man im Grunde eine Neugründung bräuchte. Die Politik ist ratlos im Grunde, und das merkt man. Man merkt, dass die Parteien keine Antworten haben, die Bevölkerung ist dermaßen mit einer Ausweglosigkeit konfrontiert, dass sich die Politik insgesamt nicht mal traut … man müsste wirklich irgendwie von Anfang an beginnen, und man weiß nicht, wo dieser Anfang zu stellen wäre. Es ist nicht einfach, eine Antwort zu geben auf diese Frage. Ich glaube, man müsste wirklich die Bevölkerung an sich dazu motivieren, einiges selber zu übernehmen, und …
von Billerbeck: Also das Land von unten verändern!
Kouzelis: In einem gewissen Sinn auf jeden Fall die Stadt von unten zu ändern. Das Land ist nicht identisch mit dem, was im Moment in Athen ist, obwohl es in anderen großen Städten ähnliche Probleme gibt. Aber die Ratlosigkeit, die betrifft hauptsächlich die großen Zentren, das ist vielleicht Athen und Thessaloniki. die Ratlosigkeit betrifft eben den Alltag. Es gibt die Möglichkeit von kleineren, geringeren Initiativen seitens der Bevölkerung selber, das meine ich.
von Billerbeck: Viele Löhne und Renten wurden ja drastisch gekürzt – um ein Fünftel –, viele Griechen sagen aber, dass sie schon vorher kaum über die Runden gekommen sind, außerdem gibt es kein soziales Sicherungssystem. Welche Folgen hat das für die gesellschaftlichen Strukturen in Griechenland?
Kouzelis: Dadurch, dass es in Griechenland im Grunde einen Sozialstaat noch nie gab und erst in den Achtzigern langsam so was aufgebaut wurde, gründet sich alles beziehungsweise schützt alles bisher die berühmte alte griechische Familie – das waren die Netze, die vorhanden waren –, die gibt es inzwischen nicht mehr ganz so, und daher auch die ganz eindeutige verbreitete Armut, daher auch die vielen Leute auf der Straße, und das sind auch die gefährlichen Entwicklungen.
von Billerbeck: Hans-Werner Sinn, der Chef eines privaten deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, des ifo-Instituts, der sagte in der Zeitung, dass ein reiner Sparkurs, der ja von der Europäischen Union, von Griechenland gefordert wird auch, eine Kürzung von Löhnen und Preisen, das Land an den Rand eines Bürgerkriegs bringen könnte. Ist das Land in Teilen schon in dieser Situation?
Kouzelis: Okay, bürgerkriegsähnliche Situationen nicht, aber die Situation kann tatsächlich Formen annehmen, die gefährlich werden, sozial gefährlich werden. Die Auseinandersetzung zwischen Linksextremen und Rechtsextremisten, faschistischen Organisationen ist ein Teilchen davon, und tatsächlich, wenn man keinen Ausweg sieht, tatsächlich verarmt ist auch im Verhältnis zu dem, was vor zwei Jahren da war, dann ist die Ratlosigkeit tatsächlich ein sehr starker und sehr gefährlicher Faktor.
von Billerbeck: Was können denn nun die anderen europäischen Staaten tun – Griechenland ist ja immerhin Mitglied der Europäischen Union –, damit ein Wandel eingeleitet wird und radikale Kräfte eben nicht die Oberhand gewinnen?
Kouzelis: Ich meine, die finanzielle Unterstützung. Das heißt, unter anderem eventuell auch die Kürzung des Schuldenbergs im Grunde. Eine Voraussetzung für eine mögliche andere Politik im Lande wäre … das heißt, die Möglichkeit eines erst mal auch gedachten oder vorgestellten Auswegs wäre sehr wichtig, dass die Leute zum Teil auch optimistisch über die Zukunft des Landes und des eigenen Lebens denken würden. Das heißt, von der EU erwartet man in Griechenland Solidarität. Das ist auch das einzige Wort, das immer wieder veröffentlicht und wiederholt wird.
von Billerbeck: Der griechische Soziologe und Wissenschaftsphilosoph Gerassimos Kouzelis von der Universität Athen über die Lage in der griechischen Hauptstadt. Die Tonqualität bitten wir zu entschuldigen, wir konnten unseren Gesprächspartner nur via Handy erreichen.
Gerassimos Kouzelis: Guten Tag!
von Billerbeck: In deutschen Zeitungen steht, dass Athen völlig hilflos sei. Die Stadt hätte weder dem Drogenhandel noch der Prostitution noch dem organisierten Verbrechen etwas entgegenzusetzen. Wie schlimm steht es um die Stadt? Ist das so?
Kouzelis: Schlimmer als man denken würde. Das ist eine Entwicklung, die jetzt seit ungefähr zwei Jahren läuft. Es eskaliert in unvorstellbaren Maßen. Das Zentrum von Athen ist kaum begehbar im Grunde, hauptsächlich dadurch, dass die sogenannte finanzielle Krise tatsächlich als soziale Krise unterschätzt wurde. Es heißt, dass die Ausweglosigkeit da, in dem Zentrum der Stadt, tatsächlich zu sehen ist in Formen, die man eigentlich nicht vermutet hat.
von Billerbeck: Hier wird sogar von Menschenjagden berichtet, von Rechtsextremen, die Ausländer, Einwanderer, die in der Innenstadt campieren, auf die Jagd machen. Beschreiben Sie uns das, stimmt das so?
Kouzelis: Ja, die Ausländer sind das einfache Opfer. Das ist wahr, da sind Ausländer, die total verarmt sind, total verelendet. Viele von denen – es sind aber nicht nur Ausländer – leben vom Müll, viele von denen leben von Kleinkriminalität, und daher ist das Zentrum tatsächlich eine gefährliche Zone geworden, in einer Stadt, die bis vor Kurzem eine der sichersten der Welt war, kann man kaum zu Fuß gehen.
Und das hat dazu geführt, dass die Rechtsextremisten wirklich den Grund gefunden haben, ein Pogrom richtig gegen Ausländer zu organisieren. Es gibt richtig gut organisierte faschistische Gruppen, die tatsächlich Jagd organisieren gegen Ausländer. Das hat tatsächlich stattgefunden in mehreren Teilen des Stadtzentrums, und die Entwicklung ist in jedem Sinne wirklich gefährlich für alle, für die Gesellschaft an sich.
von Billerbeck: 250 zusätzliche Streifenpolizisten sollen jetzt gestellt werden, das klingt ja wie der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Denn Athens Bürgermeister Kaminis weiß, dass er eigentlich mehr braucht. Der will nun die wachsenden Müllberge beseitigen, Straßenlaternen reparieren, die Bürger mobilisieren und die Touristen zurückholen. Ist das hilfloser Aktionismus oder eine tatsächlich Erfolg versprechende Strategie?
Kouzelis: Das, was einem wirklich Angst machen sollte und machen muss, ist tatsächlich die Aussichtslosigkeit, und das vor allem seitens der Politik. Weder der Bürgermeister noch das Ministerium scheint erst mal ein echtes Bild davon zu haben, was los ist, und zweitens Vorstellungen, wie man was dagegen machen muss. Polizei ist tatsächlich – okay, das ist keine Grundvoraussetzung, aber die Polizei bisher war nicht fähig, irgendwas in der Richtung zu organisieren oder zu garantieren. Und daher glaube ich nicht, dass es eine Frage der Polizei oder der Ordnungsmaßnahmen ist. Es ist eine Frage der sozialen Politik und die ist absolut abwesend.
von Billerbeck: Die Bevölkerung nimmt ja die politische Elite als eine Gruppe wahr, von der sie sich nicht vertreten fühlt, das ist wahrscheinlich aber viel zu schwach ausgedrückt: Sie hat kein Vertrauen mehr in die Politik. Was müsste die Politik denn jetzt tun, um dieses Vertrauen wenigstens in Ansätzen zurück zu gewinnen?
Kouzelis: Es ist schwer zu sagen, was die Politik jetzt machen müsste. Es sieht so aus, dass man im Grunde eine Neugründung bräuchte. Die Politik ist ratlos im Grunde, und das merkt man. Man merkt, dass die Parteien keine Antworten haben, die Bevölkerung ist dermaßen mit einer Ausweglosigkeit konfrontiert, dass sich die Politik insgesamt nicht mal traut … man müsste wirklich irgendwie von Anfang an beginnen, und man weiß nicht, wo dieser Anfang zu stellen wäre. Es ist nicht einfach, eine Antwort zu geben auf diese Frage. Ich glaube, man müsste wirklich die Bevölkerung an sich dazu motivieren, einiges selber zu übernehmen, und …
von Billerbeck: Also das Land von unten verändern!
Kouzelis: In einem gewissen Sinn auf jeden Fall die Stadt von unten zu ändern. Das Land ist nicht identisch mit dem, was im Moment in Athen ist, obwohl es in anderen großen Städten ähnliche Probleme gibt. Aber die Ratlosigkeit, die betrifft hauptsächlich die großen Zentren, das ist vielleicht Athen und Thessaloniki. die Ratlosigkeit betrifft eben den Alltag. Es gibt die Möglichkeit von kleineren, geringeren Initiativen seitens der Bevölkerung selber, das meine ich.
von Billerbeck: Viele Löhne und Renten wurden ja drastisch gekürzt – um ein Fünftel –, viele Griechen sagen aber, dass sie schon vorher kaum über die Runden gekommen sind, außerdem gibt es kein soziales Sicherungssystem. Welche Folgen hat das für die gesellschaftlichen Strukturen in Griechenland?
Kouzelis: Dadurch, dass es in Griechenland im Grunde einen Sozialstaat noch nie gab und erst in den Achtzigern langsam so was aufgebaut wurde, gründet sich alles beziehungsweise schützt alles bisher die berühmte alte griechische Familie – das waren die Netze, die vorhanden waren –, die gibt es inzwischen nicht mehr ganz so, und daher auch die ganz eindeutige verbreitete Armut, daher auch die vielen Leute auf der Straße, und das sind auch die gefährlichen Entwicklungen.
von Billerbeck: Hans-Werner Sinn, der Chef eines privaten deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, des ifo-Instituts, der sagte in der Zeitung, dass ein reiner Sparkurs, der ja von der Europäischen Union, von Griechenland gefordert wird auch, eine Kürzung von Löhnen und Preisen, das Land an den Rand eines Bürgerkriegs bringen könnte. Ist das Land in Teilen schon in dieser Situation?
Kouzelis: Okay, bürgerkriegsähnliche Situationen nicht, aber die Situation kann tatsächlich Formen annehmen, die gefährlich werden, sozial gefährlich werden. Die Auseinandersetzung zwischen Linksextremen und Rechtsextremisten, faschistischen Organisationen ist ein Teilchen davon, und tatsächlich, wenn man keinen Ausweg sieht, tatsächlich verarmt ist auch im Verhältnis zu dem, was vor zwei Jahren da war, dann ist die Ratlosigkeit tatsächlich ein sehr starker und sehr gefährlicher Faktor.
von Billerbeck: Was können denn nun die anderen europäischen Staaten tun – Griechenland ist ja immerhin Mitglied der Europäischen Union –, damit ein Wandel eingeleitet wird und radikale Kräfte eben nicht die Oberhand gewinnen?
Kouzelis: Ich meine, die finanzielle Unterstützung. Das heißt, unter anderem eventuell auch die Kürzung des Schuldenbergs im Grunde. Eine Voraussetzung für eine mögliche andere Politik im Lande wäre … das heißt, die Möglichkeit eines erst mal auch gedachten oder vorgestellten Auswegs wäre sehr wichtig, dass die Leute zum Teil auch optimistisch über die Zukunft des Landes und des eigenen Lebens denken würden. Das heißt, von der EU erwartet man in Griechenland Solidarität. Das ist auch das einzige Wort, das immer wieder veröffentlicht und wiederholt wird.
von Billerbeck: Der griechische Soziologe und Wissenschaftsphilosoph Gerassimos Kouzelis von der Universität Athen über die Lage in der griechischen Hauptstadt. Die Tonqualität bitten wir zu entschuldigen, wir konnten unseren Gesprächspartner nur via Handy erreichen.