Wolfgang Schmale, Privatheit im digitalen Zeitalter, Böhlau Verlag Wien, 19,90 Euro.
Privatheit als Menschenrecht
Der Wiener Historiker Wolfgang Schmale fordert ein Umdenken beim Umgang mit der Privatheit im Internet. Es fehle bisher das Bewusstsein dafür, dass es sich um ein Menschenrecht handele, kritisierte er.
Nach dem Surfen im Internet sollte es Nutzern möglich sein, einfach anzuklicken, ob sie anschließend sehen wollten, welche Daten sie produziert haben, sagte der Wiener Historiker und Buchautor Wolfgang Schmale im Deutschlandradio Kultur. Im Augenblick müssten Internetnutzer selbst aktiv werden und Anstrengungen unternehmen, um an ihre Daten zu kommen, kritisierte Schmale. Außerdem bekomme man sie nicht vollständig zu sehen.
Wichtiger Schutz
"Da muss noch ein Umdenken stattfinden, dass es angeboten wird und man dann nur noch entscheiden braucht, will ich das jetzt im Augenblick oder später oder gar nicht", sagte Schmale vor dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts. "Das wäre eine völlig andere Philosophie, die aber das Menschenrecht der Privatheit und damit auch des Datenschutzes und damit wiederum die Einsichtnahme in die produzierten Daten wirklich stärken würde." Für ihn sei das ein Zeichen, dass man in der Politik und in der ganzen Diskussion noch nicht wirklich ernst nehme, dass Datenschutz und Recht auf Privatheit zu den Menschenrechten zählten. "So wie wir essen und trinken müssen, brauchen wir auch diesen Schutzkordon", sagte Schmale.
Balance zwischen Sicherheit und Privatheit
Der Historiker sagte, die schwierige Balance zwischen Sicherheit und Privatheit sei neu und habe es in der Vergangenheit so nicht gegeben. "Dass wir jetzt im Sinne des Rechtstaates darüber reden können, dass die Privatheit zu schützen ist, dass wir uns fragen, mit welchen Instrumenten kann man das gewährleisten, ist natürlich ein positives Zeichen."
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Heute verkündet das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zur Rechtmäßigkeit der Möglichkeiten, die das BKA-Gesetz von 2009 dem Bundeskriminalamt zur Bekämpfung des Terrorismus einräumt. Es geht um ein ganzes Paket. Es geht um Telefon- und Computerüberwachung zum Beispiel, das Abhören privater Wohnräume und noch so einiges mehr.
Die Kläger sehen dadurch den Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht mehr ausreichend gewahrt, oder, einfacher ausgedrückt, es geht um die Abwägung zwischen Recht auf Privatsphäre und Sicherheit durch Terrorbekämpfung. Das ist seit langem auch ein Thema von Wolfgang Schmale. Er ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien und einer der beiden Autoren des Buches "Privatheit im digitalen Zeitalter". Schönen guten Morgen, Professor Schmale!
Wolfgang Schmale: Guten Morgen!
Kassel: Lassen Sie mich doch bitte mit einem ziemlich grundsätzlichen Zitat aus Ihrem Buch beginnen. Sie schreiben da: "Bisher hat noch jedes übersteigerte System der Überwachung, das wir historisch kennen, am Schluss kollabiert. Es besteht die Gefahr, dass unsere Demokratie durch eine weitreichende, unverhältnismäßige Überwachung um die Freiheit entkernt und in den Kollaps getrieben wird." Kann man denn wirklich den Überwachungswahn, wie wir ihn zum Beispiel im 20. Jahrhundert in den Staaten des Warschauer Pakts erlebt haben, kann man den wirklich vergleichen mit den Befugnissen des BKA heute?
Schmale: Auf den ersten Blick klingt das etwas befremdlich, aber als Historiker schaut man ja auch auf die langen Linien, wie entwickelt sich etwas, und was kommt dabei heraus. Und da stehen die Ampeln meines Erachtens auf Rot und alle Ausrufezeichen sind aufrecht aufgestellt, weil sich eine Dynamik seit einigen Jahren in Gang gesetzt hat, die immer mehr mit dem Argument der Sicherheit Privatheit durch solche Regelungen, wie sie das Bundesverfassungsgericht jetzt zu prüfen hat, einschränken möchte. Das ist eine intensive Dynamik, die man nicht einfach so weiter laufen lassen kann.
Wichtig für das Überleben im 21. Jahrhundert
Kassel: Nun sagen Befürworter solcher Regelungen ja immer: Na ja, aber wer nichts zu verbergen hat, der muss sich ja auch keine Sorgen machen.
Schmale: Einerseits stimmt das, andererseits zählt die Privatheit zu den Menschenrechten, weil das Überleben gerade in unserer Gesellschaft heute im 21. Jahrhundert auch davon abhängt, und andere Menschenrechte schützen eben auch das, was für unser Überleben in der gegenwärtigen Gesellschaft notwendig ist. Damit kann man also nicht mit einfachen Sprüchen, in denen durchaus ein Kern Wahrheit steckt, umgehen, sondern es bedarf der Sicherungen dieser Menschenrechte.
Kassel: Ist denn die Möglichkeit, eine Privatsphäre zu haben – ich gehe jetzt bewusst mal ein bisschen weiter, wirklich auch die Möglichkeit, sich quasi zu verstecken und Geheimnisse zu bewahren, so eine Art menschliches Grundbedürfnis?
Schmale: Ja. Solange wir Quellen zur Geschichte der Menschheit haben, und das sind ja doch über 10.000 Jahre, sagen die alle, das dies zum Menschen gehört. Das ist eine anthropologische Grundtatsache, die man auch zur Kenntnis nehmen muss und die man auch nicht aushebeln kann. Dieses Selbstsein, ohne von irgendetwas anderem abhängig zu sein, gehört zum Menschen dazu, und das muss geschützt werden.
Privatheit als Schutzkordon
Kassel: Aber warum eigentlich? Auch aus historischer Sicht, kann man denn auch ganz klar sagen, das hat eben immer auch Vorteile, gar nicht im Einzelfall, weil man was Bestimmtes versteckt, sondern weil es Menschen nützt, zu wissen, manche Dinge habe ich einfach für mich allein.
Schmale: Alles zu wissen, ist kontraproduktiv sozial gesehen, und auch für einen selber – da kann man wieder den anderen Spruch dagegenhalten, "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß", da steckt ja auch ein Körnchen Wahrheit drin. Es ist von der ganzen Konstitution des Menschen her offensichtlich notwendig, dass er diesen Abschlussbereich für sich selber hat. Das kann Intimes betreffen, aber betrifft ja auch viele andere Dinge. Das ist nun mal beim Menschen so. So, wie wir essen und trinken müssen, brauchen wir auch diesen Schutzkordon um uns selbst.
Kassel: Das heißt, das geht aber eher von uns selbst aus, das ist keine Angst vor Verfolgung, das ist nicht, etwas wirklich verstecken zu müssen, weil die Notwendigkeit da ist, sondern das ist so eine Art Rückzugsraum?
Schmale: Ja, das ist ein Rückzugsraum. Diese Phobie, dass man alles überwachen und wissen müsse, um zu verhindern, dass etwas Schlimmes passiert, hat damit eigentlich überhaupt nichts zu tun.
Kassel: Nun reden wir aber natürlich, und seit dem 11. September 2001 tut man das immer, über diese schwierige Balance, Sicherheit und Kontrolle auf der einen Seite, Privatsphäre und Freiheit auf der anderen. Ist die Phase, in der wir jetzt sind, so gesehen historisch neu, oder hat es die Suche nach dieser Balance eigentlich schon immer gegeben?
Schmale: Die Suche nach der Balance ist, würde ich sagen, eher das Neue und eigentlich auch das Bessere im Augenblick, weil wir über 200 Jahre eigentlich gar nicht die Suche nach einer Balance gehabt haben, sondern die Suche nach immer mehr Daten und deren Archivierung, um sie abrufbereit zu halten. Dass wir jetzt im Sinne des Rechtsstaats darüber reden können, das die Privatheit zu schützen ist und uns fragen, mit welchen Instrumenten kann man das gewährleisten, ist natürlich ein positives Zeichen.
Andere Philosophie wichtig
Kassel: Aber mit welchen Instrumenten kann man es gewährleisten? Ich meine, klar ist, was uns wahrscheinlich beiden als Erstes schnell einfällt als Schlagwörter: Datenschutz, natürlich entsprechende Gesetze, alles muss verfassungskonform sein. Aber wird diese Privatsphäre nicht auch immer mehr schleichend ausgehöhlt, Stichwort vermutlich weiß der eine oder andere Internetkonzern über Sie und mich sowieso mehr als das Bundeskriminalamt?
Schmale: Ja, das stimmt. Das Europäische Parlament ist dort ja auch damit befasst, die Rechte auf Dateneinsicht der Verbraucherinnen und Verbraucher zu stärken. Das geht allerdings noch nicht weit genug. Ich denke, es müsste einfach so sein, wenn man jetzt im Internet gesurft hat, dass man dann vorgeschlagen bekommt, das kann man dann anklicken: Wollen Sie Ihre Daten, die Sie produziert haben, jetzt sofort sehen, wollen Sie es später sehen, oder wollen Sie gar nichts sehen. Was ich damit meine, ist, im Augenblick muss man selbst immer Aktivitäten entfalten und einige Anstrengungen unternehmen, um an die eigenen Daten, die man produziert hat, zu kommen. Man bekommt sie also sowieso nicht vollständig zu sehen.
Da muss noch ein Umdenken stattfinden, dass es angeboten wird und man dann nur noch entscheiden braucht, will ich das jetzt im Augenblick oder später oder gar nicht. Das wäre eine völlig andere Philosophie, die aber das Menschenrecht der Privatheit und damit auch des Datenschutzes und damit wiederum die Einsichtnahme in die selber produzierten Daten wirklich stärken würde. Und für mich ist das ein Zeichen, dass man also vor allen Dingen in der Politik in der ganzen Diskussion das noch nicht wirklich ernst nimmt, dass Datenschutz und Recht auf Privatheit zu den Menschenrechten zählen.
Das Versprechen der Sicherheit wird nicht eingelöst
Kassel: Um noch einmal auf das heute erwartete Urteil zum BKA-Gesetz zurückzukommen: Wir diskutieren das alles in einem Land – gut, Sie sind in Österreich zurzeit, aber wenn ich über Deutschland rede, aber für Österreich gilt es auch – wir diskutieren das in Ländern, in denen es noch keinen "erfolgreichen" islamistischen Terroranschlag gegeben hat. Erwarten Sie auch als Historiker, dass im Falle eines solchen Anschlags diese Diskussion plötzlich ganz anders geführt wird?
Schmale: Ja, sie wird anders geführt werden, das hat man ja in Frankreich gesehen mit der Notstandsgesetzgebung und dem gescheiterten Versuch, den Entzug der Staatsbürgerschaft in die Verfassung zu schreiben für bestimmte Fälle. Als Laie ist man in dieser Diskussion immer in der Defensive, weil man das Gefühl hat, viele Informationen, die die Sicherheitsbehörden vermutlich haben, nicht zu kennen und auch nicht erfahren zu dürfen. Trotzdem fällt ja auf, dass, ob es nun die USA sind oder Frankreich oder auch Belgien, dass die Grunddaten der Attentäter ohnehin bekannt waren.
Also wir haben den klassischen Fall, Daten sind bekannt, Verbindungsdaten sind bekannt, die Menschen selbst sind schon aktenkundig geworden. Aber all dieses kann offenbar nicht genutzt werden, um Attentate zu verhindern. Es dient immer nur der Rekonstruktion des Geschehens im Nachhinein. Und das ist natürlich eine bedenkliche Situation, weil das Versprechen der Sicherheit durch Datensammlung ja bisher nicht eingelöst worden ist.
Kassel: Herzlichen Dank! Der Historiker Wolfgang Schmale war das über das menschliche Grundbedürfnis nach Privatsphäre und die Gefahr, die deshalb durch Überwachung, zu welchem Zweck auch immer, droht. Dazu fällt das Bundesverfassungsgericht wie erwähnt heute eine grundsätzliche Entscheidung, zum BKA-Gesetz, und wie die ausgefallen ist, darüber werden wir natürlich im Laufe des Tages hier in Deutschlandradio Kultur berichten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.