Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler und lebt nach Professuren an der Brown University in Providence, der Universität Basel und der City University of Hong Kong als Medienberater und Buchautor in Berlin und Rio de Janeiro. Zu seinen Veröffentlichungen zum Digitalisierungsprozess gehören "Facebook-Gesellschaft" (Matthes & Seitz 2016) und "The Death Algorithm and Other Digital Dilemmas" (MIT Press 2018).
Die ungeahnte Nebenwirkung von COVID-19
04:23 Minuten
Arbeitskonferenzen und Familientreffen – vieles geschieht nun am Bildschirm. Das ist aus Datenschutzgründen bedenklich, zumindest wenn man die Erfahrungen mit den Datensammlern zugrunde legt, meint der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski.
Es war ein seltsames Bild, das sich mir neulich bot, als ein Freund, mit dem ich verabredet war, mit Mundschutz erschien. Das sollte mich nicht verwirren, werden Sie jetzt denken, immerhin leben wir in der Zeit der Maskenpflicht. Ja, natürlich. Und ich befolge die auch. Aber wir trafen uns nicht zum gemeinsamen Einkauf im Buchladen oder zum gemeinsamen Spaziergang im Park. Wir trafen uns am Bildschirm, per Zoom.
Ein Zuwachs an Überwachung
Der Freund war von meinem Erstaunen wenig überrascht und lachte zur Frage, ob er fürchte, ich würde ihn über den Bildschirm anstecken. "Das Coronavirus attackiert nicht nur deine Atemwege", hörte ich ihn sagen. "Auch deine innersten Gedanken sind in Gefahr." Digitalisierung bedeutet Datafizierung, und Daten, die gesammelt sind, können auch analysiert werden. Das gehört zum medienkundlichen Grundwissen. Die unterschätze Nebenwirkung von COVID-19 ist der Zuwachs an Überwachung.
Gut, davon hatte ich schon gehört, dass mein Computer oder mein Smartphone mich ausspioniert. Auch dass Zooms Datenströme in China gelandet waren und dass es verschiedene andere Probleme mit dem Datenschutz bei Zoom gab, wusste ich. Und ich schwöre, ich werde nicht überrascht sein, wenn es in ein, zwei Jahren einen neuen Cambridge Analytica-Skandal gibt – um ein dubioses Unternehmen, das die gesammelten Zoom-Treffen erworben oder gestohlen hat, um sie für dunkle Zwecke zu analysieren. Nein, ich betrachte mich keineswegs als naiv, was den Überwachungseffekt digitaler Medien betrifft. Aber wieso hilft da Mundschutz?
Sitzungen können heimlich mitgeschnitten werden
Das Stichwort heißt "affective computing", erklärte der Freund. Das ist ein eigener Forschungszweig, der Informatik, Psychologie und Kognitionswissenschaft verbindet mit dem Ziel, anhand von biometrischen Daten wie Stimmlage, Gesichtszüge, Gestik oder Körperhaltung deine Emotionen und Affekte zu erkennen. Das ist wie beim Pokern, wenn dein Gegenüber in deinem Gesicht zu lesen versucht. Nur, dass dich da seine Menschenkenntnis durchschaut, jetzt ist es eine Software.
Das war keine beruhigende Auskunft. So konnte man durch die Analyse meiner Mimik also aufdecken, was ich wirklich dachte, als mein Chef in der letzten Versammlung zu mehr Einsatz für die gemeinsame Sache aufrief? Genau, so der Freund. Und nicht nur dein Chef: Alle, die an der Sitzung teilnahmen und sie heimlich mitschnitten.
Was vor COVID-19 und vor Zoom im Eifer des Gesprächs der Aufmerksamkeit entging, kommt nun, beim wiederholten Anschauen – unterstützt durch den Blick des Algorithmus – ans Tageslicht. Also wie beim Radio, rief ich aus. Da hieß es früher auch immer, wenn ein Lapsus passiert war: Keine Angst, das sendet sich weg. Und jetzt kann jeder die Sendung im Internet nachhören und sezieren. Der Freund nickte: "Kein Treffen am Bildschirm ist mit Sicherheit vorbei, wenn es zu Ende ist."
Die Maske kann die Demaskierung maskieren
Big Brother lässt grüßen und bedankt sich für das Footage. Wie widersprach diese Auskunft der Euphorie, mit der andere schon die neue Natürlichkeit feierten, weil man sich nun in seinen Privaträumen sah. im T-Shirt im Arbeitszimmer unterm Dach statt mit Anzug und Krawatte im schicken Büro. Also von Mensch zu Mensch; und vielleicht sogar mit einem Kind, das ins Bild läuft – oder ein Hund. Dass die Welt dadurch eine bessere werde, war keineswegs ausgemacht. Der Freund rechnet mit dem Gegenteil; er glaubt nicht an radikale Transparenz.
Und er hasst die Vorstellung, dass nicht ein Mensch ihn durchschaut, sondern ein Algorithmus. Das widerspreche dem Prinzip der Waffengleichheit. Während wir im Banalen (beim Einkauf, bei der Busfahrt) durch die Maskenpflicht undurchschaubar werden, verlieren wir dort, wo es darauf ankommt, alle Deckung: bei der Arbeitsbesprechung, beim Kundengespräch, selbst beim Familienfest.
Die Maske, so der Freund, ist pure Ablenkung: Sie maskiert die voranschreitende Demaskierung. Das gelte auch für den Scherz, dass man nun halb nackt zum Arbeitstreffen erscheinen könne. Ich fand nicht abwegig, was er sagte, aber übertrieben, was er tat. Lagerkoller, dachte ich und fragte: Willst du nun immer mit Maske vor dem Bildschirm sitzen? Er schaute mich an und nickte – und es war nicht erkennbar, ob er es ernst meinte.