"DAU"-Projekt in Paris

Ein Mikrokosmos des Totalitarismus

Zwei Männer in Anzügen stehen vor einer an sowjetische Propaganda-Ästhetik erinnernder Skulptur
Szene aus einem der "DAU"-Filme von Ilya Khrzhanovsky. © Orlova/Berliner Festspiele
Von Sabine Wachs |
Über drei Jahre lebten und arbeiteten rund 400 Menschen in einem nachgebauten Institut aus der Sowjetzeit. Der russische Regisseur Ilya Khrzhanovsky filmte dieses "DAU-Projekt". 13 dieser Filme präsentiert er jetzt in Paris – in einem unheimlichen Setting inklusive Visumzwang.
Weinrot gestrichene, verwinkelte Flure im Théâtre du Châtelet in Paris. Kleine Büroräume, hergerichtet mal als Wohnzimmer, mal als Bibliothek, als Arbeits- oder Schlafzimmer im Stil der Sowjetzeit. Dicke Teppiche auf den Böden, mit russischem Porzellan-Kitsch überfrachtete Regale. Eine Kulisse, die den Besucher hineinzieht, in die Sowjetzeit der 30er- bis 60er-Jahre. Die Zeit, in der der russische Physiker Lew Landau lebte und arbeitete.
Ursprünglich wollte Filmemacher Khrzhanovsky einen Spielfilm über Landaus Leben drehen, baute dazu in der Ukraine ein Set auf, rekonstruierte das wissenschaftliche Institut auf einem 12.000 Quadratmeter großen Gelände. Dann verselbstständigte sich der Dreh, erzählt Khrzhanovskys deutsche Produzentin Susanne Marian:
"Man konnte wirklich dort kochen, sich duschen, auf die Toilette gehen. Das war eine funktionstüchtige Welt. Und dann haben wir verstanden, dass diese Welt unglaubliche Möglichkeiten bietet und haben dann angefangen, darüber nachzudenken, wie wäre es, wenn wir richtige Wissenschaftler hierher einladen. Und in dem Augenblick, wo Menschen anfangen an einem Ort zu leben, entsteht eine Welt und aus dieser Welt eine eigene Dynamik."

Nachbau der Sowjetunion im Kleinen

Über drei Jahre lebten und arbeiteten rund 400 reale Menschen im nachgebauten Institut. Wissenschaftler, Geistliche, Schamanen, aber auch Angestellte, Putzfrauen, Kellner und Kellnerinnen, Prostituierte:
"Sie haben 30 Jahre der Sowjetunion in drei Jahren nacherlebt. Und natürlich gab es um sie herum auch die Infrastruktur des KGB. Sie lebten in einem Mikrokosmos des Totalitarismus."
Sagt die Pariser Produzentin Martine d'Anglejan-Chatillon. Ohne Drehbuch begleiteten Kameras die Menschen in diesem Experiment als Voyeure in allen Lebenslagen. 13 Langfilme und zahlreiche Serien sind aus über 700 Stunden Filmmaterial entstanden. Teils verstörende, exzessive Sex- und Gewaltszenen wurden auf Film gebannt.
Nur wenige Ausgewählte haben die Filme im Vorfeld gesehen. Bis zur Premiere bleiben sie für die Öffentlichkeit unter Verschluss. Besonders in der Kritik steht in Frankreich der Film "Natascha", in dem sich eine Frau eine Weinflasche in die Vagina einführt. Ilya Permykov, Redakteur einiger der 13 Filme, sieht kein Problem, solch extreme Szenen zu zeigen:
"Ich bin der Überzeugung, dass wir solche Szenen zeigen müssen, denn als Menschen ist es uns lieber, wegzuschauen und das Chaos, das wir über die Welt bringen, nicht zu sehen. Wenn du zeigen willst, wie Menschen zu Opfern werden, wie einfach es für den Staat ist und für die Mächtigen, Menschen zu brechen, dann muss man das Leid auch auf der Leinwand zeigen. Der Besucher kann wegschauen, wenn er will."

Nichts für schwache Nerven

Wer sich dafür entscheidet, das DAU-Projekt anzuschauen, sollte keine schwachen Nerven haben. Nicht umsonst ist der Eintritt in "das System", wie es die Macher selbst nennen, erst ab 18 Jahren freigegeben.
Um das Visum, die Eintrittskarte zu bekommen, muss der Besucher nicht nur zwischen 35 und 150 Euro hinlegen, er muss auch bereit sein, viel von sich preiszugeben. Im Vorfeld muss er einen Fragebogen mit teils intimen Fragen zum eigenen Sexleben, zu Vorlieben oder Fetischen abschicken.
Ein Mann spreizt die Arme vor einer Gruppe von Menschen, die ihm applaudieren.
Eine Szene aus Ilya Khrzhanovskys "Dau"-Film© Orlova/Berliner Festspiele
Natürlich, heißt es auf der Seite des DAU-Projektes, werden die Daten vertraulich behandelt. Ein Algorithmus erstellt anhand der Antworten einen persönlichen Rundgang. Der wird über das DAU-Phone bereit gestellt, das eigene Handy muss draußen bleiben. Der Besucher muss sich darauf einlassen, sagt Thomas Lauriot, Leiter des Théatre du Châtelet:
"Was Ilya erwartet und was wir auch von den Zuschauern erwarten, ist, dass sie aktiv sind, dass sie an dieser Erfahrung teilnehmen, sich darauf einlassen. Für sich selbst. Er hat den Ehrgeiz, jeden mit sich selbst und den anderen zu konfrontieren. Das durch dieses Kunstwerk, das absolut majestätisch und außergewöhnlich ist."
Nur in Superlativen sprechen die DAU-Macher von ihrem Projekt: gigantisch, einzigartig. Sie preisen es mantra-artig an, im Mittelpunkt die ultimative Selbsterfahrung für den Besucher, über die er auch jederzeit sprechen kann: Kurz vor dem Ausgang, in einer Art Lounge, stehen futuristisch aussehende, verspiegelte Beichtstühle bereit. Priester, Imame und auch Schamanen werden ab der offiziellen Eröffnung jeden Tag, 24 Stunden lang da sein.

Ein Disneyland des Kommunismus?

Jeder Besucher darf ihnen sein Herz ausschütten, seine Gedanken, Ängste und Sorgen anvertrauen. So wie es Khrzhanovskys Wissenschaftler, Künstler, Arbeiter im fiktiven Institut auch taten.
"Ilya zeigt und kreiert hier eine Welt, eine reale Welt in einer fiktiven Welt, die den Kopf und das Herz der Besucher berührt, sie an ihre persönlichen Grenzen bringt, gleichzeitig die politischen Abgründe offen legt."
Für Ruth Mackenzie, künstlerische Direktorin am Théâtre du Châtelet ist DAU eine Revolution der Kunstwelt, für andere ist es ein Disneyland des Kommunismus mit allerhand Devotionalien, sogar einer Bar mit dem poetischen Namen "The Shitty Hole".
Und für wieder andere ist es eine gigantische Datensammelmaschine, finanziert über eine Stiftung eines milliardenschweren fragwürdigen russischen Kunstmäzens, der sein Geld mit dem Verkauf von Wifi-Lizenzen gemacht hat. Klar ist, das nichts klar ist. Und das, so scheint es, ist von den DAU-Machern genauso gewollt.
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