Die anhaltende Migration aus Guatemala, Honduras und El Salvador ist zum Schreckgespenst für die USA geworden. Dabei sind die Fluchtursachen seit Jahrzehnten die gleichen. In ihrem Mittelamerika-Schwerpunkt berichtet die "Weltzeit" über die aktuelle Lage, schildert Einzelschicksale und beleuchtet historische Entwicklungen und Abhängigkeiten. Hier die weiteren Sendungen:
Von Guatemala Richtung USA – Keine Ankunft, keine Wiederkehr
Reich und Arm in El Salvador – Mit Bitcoins gegen Ungleichheit
US-Politik in Mittelamerika – Außer Spesen nichts gewesen
Korruption, Kokain und Klimawandel
23:09 Minuten
Die meisten Flüchtlinge, die aus Mittelamerika Richtung Norden ziehen, kommen aus Honduras. Nicht nur die Perspektivlosigkeit, auch der Klimawandel vertreibt die Menschen. Das Land erlebte im vergangenen Herbst zwei verheerende Wirbelstürme.
Auf der Tribüne des Sportstadions Jesús Martínez "Palillo", im Nordosten von Mexiko-Stadt, sitzt ein Mann und wartet. "Mein Name ist Samael Méndez González, ich komme aus San Pedro Sula, Honduras, und bin 35 Jahre alt", erzählt er.
Sein Blick schweift über den Sportplatz zu seinen Füßen. Dort, wo normalerweise Läufer ihre Runden drehen, hat die Verwaltung von Mexiko-Stadt riesige weiße Zelte aufstellen lassen. Migranten aus El Salvador, Guatemala oder Nicaragua sind hier untergebracht – vor allem aber aus Honduras. Es ist im Herbst 2018.
Die Flüchtlingskarawane in den Schlagzeilen
Mitte Oktober hatten sich ein paar Hundert Menschen am Busbahnhof von San Pedro Sula versammelt, der zweitgrößten Stadt des Landes. Zu Fuß haben sie sich auf den Weg Richtung USA gemacht. Als sie nach drei Wochen in Mexiko-Stadt ankommen, ist die Karawane auf mehrere Tausend Menschen angewachsen.
Einer von ihnen ist Samael Méndez, ein ruhiger, nachdenklicher Mann. Seine Familie hat er in seiner Heimat Honduras zurückgelassen.
"Nur meine Frau war wach, als ich gegen fünf Uhr morgens das Haus verlassen habe, meine beiden Töchter haben noch geschlafen", erinnert er sich. "Also habe ich beiden einen Kuss gegeben und mir diesen letzten Moment mit ihnen ganz fest eingeprägt. Dann bis ich losgegangen."
Wenn Méndez von Honduras erzählt, klingt er resigniert. Er hat es satt, in einem Land zu leben, in dem Angst und Gewalt alltäglich sind. Jugendbanden, Schutzgelderpressungen, die Drogenmafia – ein Leben in Sicherheit ist für die große Mehrheit der Honduranerinnen und Honduraner unerreichbar.
Auch ökonomisch kämpfen die meisten von ihnen täglich ums Überleben: Die meisten haben einen Job im informellen Sektor: Etwa als Schuhputzer, Obstverkäuferin oder Imbissbetreiber halten sich die Menschen über Wasser – ohne Krankenversicherung, ohne sozialen Schutz.
Samael Méndez, der studiert hat, zählt in diesem System zu den Privilegierten. Noch wenige Monaten bevor er sich der Karawane anschloss, war er als Qualitätsmanager bei einer US-Firma angestellt. Aber selbst da hat sein Einkommen von umgerechnet knapp 300 Euro nicht ausgereicht, um seiner Familie ein Leben in einem Viertel zu finanzieren, das nicht von der Bandenkriminalität dominiert ist. Die Verzweiflung hat ihn aus der Heimat vertrieben.
Er zeigt sein Gepäck: Hemd, Pullover, Mütze, außerdem kramt er noch einen Saft und eine Orange aus seinem Rucksack. Mehr braucht er nicht für die lange Reise vom Sportstadion in Mexiko-Stadt bis in die USA. Das glaubt er damals.
Ein Putsch macht ihn zum Aktivisten
Edwin Espinal, ein 45 Jahre alter Honduraner mit einem warmen Lachen und melancholischen Blick, kennt den harten Weg der Migranten aus eigener Erfahrung. Aufgewachsen in einem einfachen Viertel in der Hauptstadt Tegucigalpa, kommt er schon Ende der 1990er ohne Papiere in die USA.
Neun Jahre lang schuftet er an der Ostküste fast ohne Unterbrechung – viel harte, körperliche Arbeit, fast immer auf dem Bau. Er verdient genug Geld, um seine Familie zu unterstützen. Ende 2008 geht Espinal zurück nach Honduras. Dort führt er ein unauffälliges Leben. Das ändert sich am 28. Juni 2009, als der liberale honduranische Präsident Manuel Zelaya vom Militär aus dem Amt geputscht wird.
Die Begründung: Zelaya habe mit einem Referendum das Wahlrecht ändern wollen, um so seine Wiederwahl zu sichern. Doch der Präsident war der konservativen Elite des Landes schon lange ein Dorn im Auge, seit er den Mindestlohn angehoben und Honduras an das linke lateinamerikanische Staatenbündnis ALBA angenähert hatte.
Nach dem Putsch kommt es in Honduras zu Massenprotesten, auch Edwin Espinal und seine Freundin Wendy Ávila sind mit dabei. Armee und Polizei gehen brutal gegen die Demonstranten vor, Ávila stirbt an den Folgen eines Tränengaseinsatzes.
"Das hat mich nur noch wütender gemacht, und wir sind weiter auf die Straße gegangen. Viele Freunde und Menschen, die wir bei den Protesten kennengelernt haben, sind auch gestorben, sie wurden ermordet, anderen wurden entführt, man ließ sie verschwinden oder hat sie gefoltert", erzählt er.
"Es war ein sehr harter Schlag, und ich konnte nicht einfach so in mein altes Leben zurückkehren, ich war nicht mehr derselbe, also mussten wir andere Räume finden, um uns zu organisieren."
Ein Präsident von Washingtons Gnaden
Nach dem Putsch gründet sich die Frente Nacional de Resistencia Popular – ein breites gesellschaftliches Bündnis, das für die Wiederherstellung der Demokratie in Honduras kämpfen will. Aber die Regierung, die das Land nach 2009 in einen Polizeistaat verwandelt hat, lässt sich von sozialen Protesten nicht beeindrucken.
Neben dem traditionellen Export von Agrarprodukten wie Kakao, Kaffee oder Bananen setzt sie auf die Ausbeutung der reichen Rohstoffvorkommen wie Eisenerz oder Gold. Konzessionen werden an Investoren aus dem In- und Ausland vergeben, die lokale Bevölkerung wird nicht gefragt. Die Umweltschäden sind gewaltig, und diejenigen, die protestieren, werden mit größter Brutalität und Härte verfolgt.
Auch Edwin Espinal, der seit dem Putsch zum politischen Aktivisten geworden ist und sich ehrenamtlich um sozial benachteiligte Jugendliche in Tegucigalpa kümmert, gerät ins Visier der Sicherheitsbehörden.
Im November 2017 lässt Präsident Juan Orlando Hernández vom obersten Gericht extra eine Verfassungsänderung durchwinken, um eine zweite Amtszeit zu bekommen. Seine Wiederwahl wird von Betrugsvorwürfen überschattet, Wahlbeobachter der Organisation Amerikanischer Staaten fordern eine Neuwahl. Mit Zehntausenden anderen ist Espinal wieder auf der Straße – und für einige Tage scheint es, also könnte der Druck der Demonstranten die Regierung zum Aufgeben zwingen.
Doch dann erkennt Washington den umstrittenen Wahlsieg von Hernández an – und viele europäische Länder, unter ihnen auch die Bundesrepublik, folgen dem Beispiel der USA. So wird der honduranische Präsident zum Staatschef von Washingtons Gnaden. Er bedankt sich, indem er ein Migrationsabkommen unterschreibt, das Flüchtlinge fernhalten soll, und lässt wichtige Drogenbarone an die USA ausliefern. Ein perfekter Deal.
Der Hölle ganz nah – im Gefängnis in Honduras
Nach den Protesten gegen die illegitime Wahl wird Edwin Espinal festgenommen. Mit Schwerkriminellen wie Mördern und Massenvergewaltigern muss er sich im Gefängnis eine Zelle teilen.
"19 Monate lang bekam ich Morddrohungen", erzählt er. "Dort im Gefängnis war schon ein Kopfgeld auf uns ausgesetzt, das waren Anweisungen von ganz oben. Aber die Auftragsmörder, die uns umbringen sollten, sagten uns, dass sie uns nicht töten wollten, weil wir keine Kriminellen sind, sondern für Gerechtigkeit kämpfen. Unsere Auftragsmörder haben sich mit uns verbrüdert."
Dass er mit dem Leben davonkommt und nach mehr als anderthalb Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird, hat er auch der Beharrlichkeit seiner Frau und dem Druck honduranischer und internationaler NGOs zu verdanken. Espinal hat seelische und körperliche Verletzungen davongetragen – aber aufhören will er auch dieses Mal nicht.
"Wir haben keine Wahl", sagt er. "Wenn man sich zurückzieht oder politisches Asyl im Ausland beantragt, dann hilft das unserem Kampf ja nicht. Es sorgt nur für Enttäuschung und dafür, dass die übrige Bevölkerung desillusioniert ist und nicht mehr weiterkämpfen will. Aber wenn sie sehen, dass man selbst weitermacht, dann machen die anderen doch auch weiter mit."
Coronahilfen werden veruntreut
Im kommenden November stehen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an.
Die Problemlage ist komplex. Da ist die explodierende Gewalt, aber auch die Verflechtung zwischen der Politik mit der Organisierten Kriminalität. Auch Präsident Hernández wird die Verwicklung in Drogengeschäfte vorgeworfen – ihm droht nach dem Ende seiner Amtszeit sogar ein Prozess in den USA.
Wie Korruption ganz praktisch funktioniert, zeigte sich zuletzt in der Coronakrise, als die Regierung in Windeseile finanzielle Hilfspakete schnürte, erzählt die Menschenrechtsanwältin Carmen Haydée López.
"Niemand weiß, was mit dem Geld passiert ist. Zu Beginn der Pandemie wurden Sozialprogramme in Millionenhöhe angekündigt, aber es gab keinerlei Prüfung, wie die Summen verwendet wurden", kritisiert sie.
Für Schlagzeilen sorgte der Fall von sieben mobilen Kliniken, die die honduranische Regierung zu Beginn der Pandemie für knapp 50 Millionen US-Dollar bestellt hatte, um so die Behandlungskapazitäten des maroden honduranischen Gesundheitssystems zu erhöhen. Später stellte sich heraus: Die Kliniken waren nicht nur zu einem überhöhten Preis eingekauft worden, sondern sind überhaupt nicht für die Behandlung von Covid-Patienten geeignet.
Konsequenzen müssen die Profiteure der Misere nur selten befürchten, denn die meisten Prozesse verlaufen im Sand. Auf internationalen Druck hin wurde in Honduras eine Mission gegen Korruption und Straflosigkeit eingesetzt. Deren Ermittlungserfolge gegen prominente Politiker führten dazu, dass die Regierung das Mandat der Korruptionsbekämpfer kurzerhand beendete. Das war im vergangenen Jahr.
Neue Hoffnung gibt es seit dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Joe Biden. Der hat angekündigt, den Kampf gegen die Korruption unterstützen zu wollen. Im Gespräch ist sogar eine transnationale Kommission zur Bekämpfung der Straflosigkeit in der Region.
Deportiert, aber schon wieder auf dem Sprung
Für Samael Méndez, der im Herbst 2018 in Mexiko-Stadt noch voller Hoffnung war, ging die Reise im Mai 2019 in einem Auffanglager in den USA zu Ende. Ohne Hoffnung auf Asyl und ohne Geld beschließt er, zu seiner Familie nach Honduras zurückzukehren.
Corona hat ihn hart getroffen: In seinem neuen Job in einer Textilfabrik muss er in Kurzarbeit gehen, sein ohnehin karges Gehalt ist nun noch kleiner geworden.
Im Herbst vergangenen Jahres kamen zu der Pandemie dann auch noch die tropischen Wirbelstürme, die immer häufiger werden. Sie treffen in Honduras auf marode Hütten, ungesicherte Bauwerke und eine schutzlose Bevölkerung. Auch Samael Méndez‘ Heimatstadt San Pedro Sula war stark von den Überschwemmungen betroffen.
Anfang Juni meldet er sich per Whatsapp. "Was soll ich sagen? Ich versuche eben, von Tag zu Tag zu schauen, um diese Pandemie irgendwie zu überleben. Meiner Familie geht es zum Glück gut. Mit den Wirbelstürmen im letzten Jahr haben wir es schlimm erwischt, das ganze Haus stand unter Wasser, wir hatten große materielle Schäden, aber zum Glück ist uns sonst nichts passiert. Ich will versuchen, ein bisschen Geld zu sparen, um mich erneut auf den Weg zu machen. Hier kann ich meiner Familie einfach nicht das geben, was sie verdient."
Samael Méndez, studiert, verheiratet, zwei Töchter, will es ein zweites Mal versuchen. Einmal ist er schon gescheitert, aber das hält ihn nicht ab. Denn Honduras lässt ihm keine andere Wahl.
Manche verdienen an der Klimakrise
José Ramón Ávila ist Vorsitzender des Netzwerks Zivilgesellschaftlicher Organisationen in Honduras ASONOG. Er bestätigt, dass die Migration aus Honduras im letzten Jahrzehnt explodiert ist. Armut, Drogenhandel, Korruption, aber auch den Klimawandel sieht er als Ursachen.
"Der Klimawandel ist ja ein globales Phänomen, aber Honduras trifft er ganz besonders hart, insbesondere die Bauern sind ernsthaft bedroht. Die extremen Wetterphänomene wie Trockenheit, Überschwemmungen, Hurrikans haben dazu geführt, dass in der Landwirtschaft weniger produziert werden kann. Deshalb kommen immer mehr Bauern in die Stadt", erklärt Ávila.
"Und da gibt es auch noch eine soziale Komponente: Normalerweise geht der Mann weg. Die Frau muss also die Verantwortung für die Familie und den Haushalt übernehmen, obwohl völlig unklar ist, ob sie jemals Unterstützung von ihrem Mann bekommen wird. Deshalb sprechen wir davon, dass die Armut zunehmend weiblich ist."
Maßnahmen zur Anpassung an ein verändertes Klima gibt es vonseiten der Regierung kaum. Die Bauern helfen sich selbst.
"Wir sehen, dass es bei den Bauern durchaus überliefertes Wissen gibt, welches jetzt wieder angewandt wird, um sich dem Klimawandel anzupassen. Es werden auch innovativen Ansätze ausprobiert, der Gemeinschaftsgedanke kommt wieder auf, man schließt sich in kleinen Organisationen zusammen. Und wir unterstützen das."
Von staatlicher Seite gibt es diesbezüglich weder einen politischen Ansatz noch finanzielle oder technische Unterstützung, sagt José Ramón Ávila.
Skepsis vor den Wahlen im November
Dabei partizipiert Honduras durchaus von den Programmen, die auf internationaler Ebene beschlossen werden. Aber hier kommt die Korruption ins Spiel, meint Ávila.
"Das Geld kommt nicht dort an, wo es gebraucht wird. Diese Mittel fließen in zentrale Institutionen und Ministerien und werden von dort aus nicht weitergeleitet an diejenigen, für die sie bestimmt sind", kritisiert er.
"Es gibt ja verschiedene internationale Vereinbarungen zum Klimawandel und daraus entstehen dann auch Fonds wie der Grüne Fonds zum Beispiel. Aber davon wissen die Betroffenen gar nichts. Und wenn sie nicht wissen, was überhaupt für sie bestimmt ist, dann können sie beim Staat ja auch nichts reklamieren."
Ávila ist skeptisch, ob die Wahlen im November eine Verbesserung bringen. Die Organisierte Kriminalität hat inzwischen alle Institutionen infiltriert. Der Bruder des Präsidenten sitzt bereits wegen Drogenhandels in den USA im Gefängnis. Gegen den derzeitigen Präsident Orlando Hernández wird ebenfalls ein Verfahren geprüft. Es liegen schwerwiegende Anschuldigungen gegen ihn vor. Dabei hat ihm die USA vor gerade einmal vier Jahren ins Amt verholfen.