Dauersex und Schlafentzug

Von Stefan Keim |
"Schloss der Träume" aus Japan und "Insomnia" aus Argentinien zeigen auf drastische Weise fremde Spielarten von Entwürdigung und Eskapismus. Das Festival "Theater der Welt" ist ein Hin und Her der extremen Gefühle.
Odysseus und Penelope sind große Stabpuppen aus Holz. Jeweils ein Sänger und ein Puppenspieler bewegen sie gemeinsam. Die Puppen atmen, bewegen sich natürlich, die Augen scheinen zu blitzen. Schon zehn Jahre alt ist die Aufführung von Monteverdis "Ritorno d´Ulisse in Patria" mit der Handspring Puppet Company aus Kapstadt und dem wunderbaren Ricercar Consort. Doch William Kentridges subtile Inszenierung ist eine Bereicherung für jedes Festival, auch für die aktuelle Ausgabe von "Theater der Welt" in Mülheim und Essen. Die Aufmerksamkeit, der gegenseitige Respekt, das Zusammenfließen in einem Charakter passt zum Geist dieser feinen, psychologischen Barockmusik ideal. Die Aufführung ist eine Oase purer Schönheit und Menschenliebe in einem Programm, das auch die heftige, drastische Gangart kennt.

Die Zuschauer sind Voyeure. Sie schauen durch Glasfenster in eine Einzimmerwohnung hinein. Nur der Straßenlärm ist zu hören, von drinnen dringt kein Geräusch nach draußen. Acht Leute drängeln sich, einige schlafen, andere koksen, zwei spielen ein Videogame. Plötzlich fallen alle übereinander her, haben Sex, oral, anal, dann prügeln sie sich. Vorhang. Die Einblendung sagt, dass einige Stunden vergangen sind. Das Fenster ist weg, der Blick fällt direkt ins Zimmer. Immer noch ist kein Wort zu hören, die jungen Leute reden nicht miteinander, es herrscht eine Atmosphäre kalter Gleichgültigkeit. Jeder nimmt den anderen bloß als Körper wahr, als Objekt zur Lustbefriedigung.

70 Minuten dauert die Performance "Yume no shiro – Schloss der Träume" des japanischen Theatermachers Daisuke Miura. Ungefähr die Hälfte davon haben die Schauspieler auf verschiedene Weise Sex. Einer spritzt sogar Sperma auf das Gesicht einer Kollegin. Daisuke Miura überschreitet die Grenze zur Pornographie. Der Titel "Schloss der Träume" spielt auf japanische Fernsehshows an, in denen die Kandidaten entwürdigende Dinge tun, die bei uns zu heftigen Debatten führen würden. Auf eine harte, menschenverachtende Gesellschaft und Medienwelt reagieren die Theatermacher mit einem alle Ekelgrenzen überschreitenden Zerrspiegel. "Gesellschaftsanalyse ohne Worte" heißt das Stück im Untertitel. Die Menschen bilden ein Rudel, der Stärkste ist der Anführer, ständig gibt es brutale Kämpfe um die Hackordnung.

Ein ähnliches Konzept hat Karin Beier im Schauspiel Köln umgesetzt, in ihrer viel beachteten Filmadaption "Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen". Gegenüber dieser japanischen Produktion wirkt die Kölner Aufführung wie ein nettes Familienprogramm. Bleibt die Frage: Bringt es uns weiter, wenn das Theater die Unmenschlichkeit potenziert? Und gehen die körperlichen Grenzüberschreitungen an den Seelen der Schauspieler spurlos vorbei? Die Frage lassen sich nur aus der japanischen Perspektive beantworten, denn für das Publikum dort ist das Stück gemacht worden. Dass wir auch einmal ratlos im Theater sitzen, gehört zur Idee des Festivals "Theater der Welt". Manche politische Dimension auch anderer Stücke erschließt sich nur dem Betrachter mit Vorkenntnissen.

Das gilt auch für ein Sechseinhalb-Stunden-Stück, das um 23 Uhr beginnt und erst in den frühen Morgenstunden endet. Die argentinische Theatermacherin Beatriz Catani zeigt in "Insomnia – Schlaflosigkeit" vier junge Leute, die ein bisschen neben der Spur wirken. Eine will nur noch im Futur sprechen, eine andere ihr Leben der Bewegung widmen, ein dritter in der Literatur leben. Fast wirkt die Aufführung wie eine Therapiegruppe von Eskapisten. Doch langsam, im Laufe der Nacht begreift man, dass hier kollektive Traumata thematisiert werden, Albträume und Ängste im Gefolge der extrem brutalen und längst nicht verarbeiteten Militärdiktatur.

Zu Beginn des Abends wird eine echte Kakerlake zerquetscht. Diese Tiere, so lernen wir, sterben nicht sofort, erst nach sechseinhalb Stunden verdursten sie. Deshalb dauert die Aufführung auch so lange, immer wieder bewegen sich die Beine des Tieres, und die Schauspieler reflektieren den Überlebenswillen der Kakerlake, erklärten sie zur Symbolfigur des passiven Widerstands, Tierquälerei im Dienste der politischen Aufklärung. Auch hier überschreitet das Theater Grenzen, aber im Gegensatz zur japanischen Produktion mit einem größeren direkten Gewinn. Der Kampf gegen die Müdigkeit spiegelt sich in einer offenen dramaturgischen Form, in der die Gedanken taumeln, Themen angerissen werden, Bilder durch den Kopf fliegen und sich fest setzen. Die Kakerlake endet lieblos hingeworfen auf dem Fußboden direkt vor der ersten Zuschauerreihe. Dabei war sie die heimliche Hauptdarstellerin und ein Vorbild in ihrem Kampf ums Überleben in aussichtsloser Lage. Das Einzeltier ist tot, aber das Prinzip Kakerlake wird siegen. Das ist die Botschaft einer oft irritierenden und manchmal aufwühlenden Nachtwache. Nur wenige sind gegangen, von den Dagebliebenen hat bis morgens um sechs niemand geschlafen.

Weitere Aufführungen:
Insomnia:
15. und 16. Juli, 23 Uhr PACT Zollverein Essen
Schloss der Träume: 12. Juli 22 Uhr Casa, Schauspiel Essen
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