David Foster Wallace: Der große rote Sohn
aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017
112 Seiten, 7,99 EUR
Die vulgäre Kehrseite der Zivilgesellschaft
David Foster Wallace' grandiose Reportage über die "Porno-Oscars" aus dem Jahr 1998 liest sich wie eine Vorahnung des vulgären Mainstreams von heute. Das sei auch vor den kommenden Trump-Jahren erhellend, sagt unsere Kritikerin.
"Der große rote Sohn": Das ist die US-amerikanische Pornoindustrie, der obszöne, mächtige Abkömmling Hollywoods. 1998 reiste der Schriftsteller David Foster Wallace im Auftrag des Magazins "Premiere" zum Filmfest der Branche, den Annual Adult Video News Awards – better known as: Oscars of Porn - die bis heute alljährlich im Januar in Las Vegas verliehen werden.
Und Foster Wallace wäre nicht Foster Wallace, wenn er seine Auftragsarbeit nicht mit größter Akribie erledigt hätte. Detailliert beschreibt er seine Eindrücke, die er bei der Verleihung selbst sowie der gleichzeitig stattfindenden Messe für Pornosoftware sammelte: Mädchen, die mit 10 cm hohen Absätzen durch die Gänge stolzieren, von Männern vorgeführt wie reinrassige Stuten.
Pornostarlets, die in aller Öffentlichkeit mit Reitgerten masturbieren und ihre Brüste je nach Bedarf durch kleine Ventile unter der Achselhöhle aufpumpen. Männliche Filmstars, die ihren auffallend kleinen Körperwuchs durch offensiv zur Schau gestellte Potenz wettmachen wollen.
1998 konsumierte man Pornos noch auf Videokassetten und viele der Trends, die Foster Wallace beobachtete (Ziegenbärtchen und Aerobic-Stulpen), sind eindeutig zeitgebunden. Und doch beherrscht der Schriftsteller die große Kunst, von der Deskription ins Denken zu kommen: Immer wieder verdichtet er seine Beobachtungen, zieht aus ihnen Schlüsse, die viel über uns und unsere Lust am Vulgären verraten.
Suche nach Zeichen wahrer Lust
So zeichne das erfolgreiche Genre des "Gonzo Porno" im Gegensatz zum "herkömmlichen" Porno aus, dass er kein fiktives Paralleluniversum vorstelle, sondern das "wirkliche" Leben sexualisiere – kein Wunder, dass der Amateurporno im Internet längst seinen Siegeszug angetreten hat.
Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch die Erkenntnis, dass der Pornokonsument sich im Grunde nach dem Wirklichen, Echten, Realen hinter der Inszenierung sehnt: nach Zeichen wahrer Lust im Gesicht der Akteure, die sich oft nur für den Bruchteil einer Sekunde zeigt.
Was Foster Wallace uns vorführt, ist die grelle, vulgäre Kehrseite der so genannten Zivilgesellschaft. Heute, fast 20 Jahre nach Erscheinen des Buches, kann diese Leistung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden - ist der Porno doch längst in den Mainstream, ja die Politik eingewandert.
Vulgär ist das Gegenteil von elitär
Vulgär, schreibt der Autor, meint "populär im Großmaßstab. Es ist das semantische Gegenteil von elitär und versnobt… Es geht um Einschaltquoten… Es geht ums ganz große Geschäft."
Wer müsste bei diesen Sätzen nicht an den designierten Präsidenten der Vereinigten Staaten denken? Donald Trump ist die Personifikation des Vulgären - und auch wenn Foster Wallace, der sich 2008 das Leben nahm, diesen Verlauf der Geschichte nicht voraussehen konnte, so wusste er doch zu genau, wie anfällig der Mensch für regressive Formen der Lust ist.
Bereits sein 1996 erschienenes Mammutwerk "Unendlicher Spaß" kreiste um diese Lust. Zwei Jahre später spürt er ihr in einem grandiosen, realitätsgesättigten Essay noch genauer nach.