"Düstere Nüchternheit und ein Gefühl der Lähmung"
Untätigkeit kritisiert er ebenso wie Gewalt: David Grossman wird nicht müde, der Menschlichkeit eine Stimme zu geben. Die Politik seines Heimatlandes Israel kommentiert der Autor klarsichtig, unsentimental - und engagiert.
Er ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der israelischen Gegenwartsliteratur, weit über die Grenzen seiner Heimat bekannt, ausgezeichnet mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und dem internationalen Man-Booker-Preis. Integer, klarsichtig, unsentimental und engagiert kommentiert David Grossman die Politik Israels. Er wird nicht müde, der Menschlichkeit eine Stimme zu geben, auch wenn seine Hoffnung auf Frieden im Nahen Osten schwindet.
Israel braucht Frieden, aber auch eine Armee
Der israelische Autor kritisiert Untätigkeit ebenso wie Gewalt, zeigt auf, warum Israel Frieden, aber auch eine Armee braucht. Er macht sich stark für die Rechte des Individuums gegenüber einer Tyrannei der Mehrheit, spricht ungeschützt über seinen Ärger, seine Wünsche und Ängste.
Carsten Hueck hat mit David Grossman über die aktuelle Situation in Israel gesprochen.
Das Interview im Wortlaut:
Carsten Hueck: David Grossman, in Ihrem jüngsten Essayband "Eine Taube erschießen" sprechen Sie vom "israelischem Narrativ" und vom "palästinensischen Narrativ". Glauben Sie, dass diese unterschiedlichen Sichtweisen einer gemeinsamen Geschichte dem friedlichen Zusammenleben beider Völker im Wege stehen?
David Grossman: Ich will nicht über das palästinensische Narrativ sprechen. Das sollen die Palästinenser selber tun. Was ich sage, ist, dass Narrative gefährlich sein können. Mitunter sind sie wichtig, denn sie prägen die Geschichte, mit der eine Nation ihre Kinder erzieht. Ab einem bestimmten Punkt aber verschanzen sich Völker hinter ihrem Narrativ und werden so zu seinen Gefangenen. Ihnen geht die Fähigkeit verloren, sich frei zu verhalten.
Jedes Narrativ ist eine geronnene Erzählung der Menschen und Völker. Bei allem, was ich schreibe, seien es Romane oder politische Essays oder Reden, versuche ich, Narrative einzuschmelzen, sie aufzuweichen, damit ihr menschlicher Aspekt wieder an die Oberfläche kommt und uns daran erinnert, dass wir nicht nur Symbole sind – der Israeli, der Palästinenser. Wir sind menschliche Wesen, die sich in ihren Narrativen verfangen haben.
Carsten Hueck: Dem israelischen Narrativ ist die Angst eingeschrieben, die historische Erfahrung von Verfolgung und Lebensgefahr. Andererseits aber auch der Glaube an die eigene Stärke. Es gab das Wunder der Staatsgründung, später das Wunder des Sechs-Tage-Krieges, dann die Hoffnung nach Oslo und den Handschlag zwischen Yitzhak Rabin und Yassir Arafat in Washington. Ist von diesem Optimismus heute noch etwas übrig geblieben?
David Grossman: Heute, nach all den Entwicklungen, die wir im Laufe der Jahre durchgemacht haben, ist wenig Hoffnung übrig. Stattdessen gibt es eine Art düsterer Nüchternheit, die die meisten Menschen hier glauben lässt, dass wir niemals einen echten Frieden haben werden. Dass Israel dazu verdammt ist, mit dem Schwert zu leben und durch das Schwert zu sterben. Dass wir uns in einer unauflöslichen Situation befinden. Wir stecken fest. Und daher, heißt es, müssten wir Fakten schaffen, um immer stärker zu werden, nicht die leiseste Anstrengung unternehmen, um einen Kompromiss zu erzielen. Das Gefühl, Opfer zu sein, ist heute stärker als vor 70 Jahren. 1948 waren wir Opfer. Opfer des schrecklichsten Völkermordes, der in der menschlichen Geschichte stattgefunden hat. Weil wir aber damals auch Hoffnung hatten, waren wir nicht passiv oder gelähmt.
Doch heute, wo wir so stark sind und so viel mehr erreicht haben, als sich die Zionisten in ihren gewagtesten Träumen hätten vorstellen können, gibt es paradoxerweise dieses Gefühl der Lähmung. Als säßen wir in einer Falle: auf ewig verdammt zu Krieg und Gewalt, das Ziel von Krieg und Gewalt für alle Zeiten.
Carsten Hueck: Angesichts der dauerhaften Bedrohungen durch Hamas, Hizbollah und IS erscheint das nicht abwegig.
David Grossman: Man kann nicht bestreiten, dass Israel existenziellen Gefahren und Risiken ausgesetzt ist. Wir sind hier sieben Millionen Juden, umgeben von Millionen Moslems, die uns nicht besonders schätzen. Die meisten von ihnen wollten nicht, dass es diesen Staat gibt. Und ich glaube, viele wären froh, wenn Israel von der Landkarte verschwände. Wir sind realen Gefahren ausgesetzt, wir haben tatsächlich Feinde und nicht nur eine Paranoia. Die Existenz Israels ist im Mittleren Osten niemals akzeptiert worden. Unser Recht, hier zu sein, hat der Mittlere Osten niemals verinnerlicht. Auch die gebildetsten, belesensten und kultiviertesten Palästinenser, mit denen ich spreche, betrachten unsere Anwesenheit hier als erweiterten westlichen Kolonialismus. Als gäbe es keinen Unterschied zwischen einem Hardcore- Kolonialismus und der Abstammungsgeschichte eines Volkes. Wir kommen doch von hier. Hier haben wir unsere Wurzeln.
Hier entstand unsere Gesellschaft, hier entwickelte sich unsere Kultur, unsere Religion und Sprache. Das ist unsere Basis. Von hier wurden wir vertrieben. Lebten für Jahrhunderte in allen möglichen Arten von Exil und Diaspora. Die ganze Zeit über aber war dieser Ort hier für uns existentiell und bedeutungsvoll. Paradoxerweise war er für Juden in der Diaspora sogar bedeutungsvoller als ihre konkrete Realität. Wir entwickelten eine Art Doppelexistenz, eine sehr interessante Idee, durch die das Abstrakte und die Vorstellung manchmal bedeutsamer, spürbarer, präsenter war als die aktuelle Wirklichkeit.
Carsten Hueck: Ich möchte eben diese doppelte israelische Wirklichkeit betrachten: Einerseits gibt es reale Bedrohungen, andererseits aber wird mit Bedrohungen aus der Vergangenheit des jüdischen Volkes argumentiert, beispielsweise, wenn der Iran mit Hitler gleichgesetzt und die Auslöschung des jüdischen Volkes ausgemalt wird.
David Grossman: Diese Situation voller Angst und dem Gefühl, Opfer zu sein, verfolgt zu sein, benutzen politische Führer, deren Ziel es ist, die Furcht der Israelis wach zu halten. So werden wir uns weiter verschanzen und keinen mutigen Schritt wagen, um mit unseren Nachbarn in einen Dialog zu treten. Will man Frieden erreichen, muss man dem anderen trauen. Die Psychologie der Überlebenden – und das sind die Israelis – erlaubt keine solche Flexibilität.
Carsten Hueck: Während Yitzhak Rabin in den 1990er-Jahren Flexibilität gefordert und gefördert hat, also versucht hat, das eigene Volk zu ermutigen, Risiken einzugehen, um zu einem Frieden zu gelangen, betreibt Premierminister Netanjahu doch seit Jahren eher eine Politik der Abschottung und Angst?
David Grossman: Man kann nicht bestreiten, dass Benjamin Netanjahu ein Mann mit vielen Begabungen ist. Aber er ist ein Genie, wenn es darum geht, Dinge zu vermischen und eine Drohkulisse aufzubauen. Natürlich gibt es reale Bedrohungen. Aber Netanjahu versteht es, sie wie Echos vergangener Traumata erklingen zu lassen. Angesichts der Manipulationen unseres Premierministers sind wir Israelis, eine Gemeinschaft von Traumatisierten, hilflos. Ich finde das schrecklich – im 70. Jahr unseres Staates, während wir die stärkste Armee haben und hier in der Region eine Supermacht sind.
Carsten Hueck: Halten Sie die Bedrohung durch den Iran denn für real?
David Grossman: Natürlich – aber militärisch haben wir alles, was ein Land braucht, um sich zu verteidigen. Wir haben die beste Luftwaffe in der Region. Und auch ein bisschen mehr. Und betrachten uns immer noch als Opfer? Wir glauben, dass die ganze Welt gegen uns ist. Wir blenden aus, dass es die Vereinigten Staaten gibt. Die von Donald Trump. Aber auch Frankreich, Großbritannien, Deutschland. Nein, nicht die ganze Welt ist antisemitisch und wünscht sich, dass Israel ausradiert wird. Selbst die arabische Welt steht nicht geschlossen gegen uns. Es gibt heute Nuancen.
Carsten Hueck: Hat die derzeitige israelische Regierung einen Blick für derartige Nuancen?
David Grossman: Unsere Regierung ignoriert solche Zeichen und geht nicht auf sie ein, um die Situation zu verbessern. Das ist sehr ärgerlich. Die Palästinenser werden niemals in der Lage sein, aufrichtige Zugeständnisse zu machen ohne die volle Unterstützung Saudi-Arabiens, Ägyptens und Jordaniens. Durch diese Länder werden ihre Zugeständnisse legitimiert. Nun könnten wir die Unterstützung dieser drei Länder gewinnen. Warum packen wir es nicht an? Wir könnten sagen, bitte, schaut euch die Situation an. Es gibt eine Chance. Vielleicht nur den Zipfel einer Möglichkeit. Warum ergreifen wir ihn nicht, um die Palästinenser an den Verhandlungstisch zu ziehen? Weil wir nicht wollen! Weil Netanjahu weiß, dass Frieden Rückzug bedeutet, Zugeständnisse, die Anerkennung des palästinensischen Volkes. Und damit verlören wir Möglichkeiten, sie zu beeinflussen und ihnen die Realität zu diktieren. Er will es einfach nicht.
Carsten Hueck: Warum ist es einfacher, die schlechte Situation zu managen, als sie zu bereinigen?
David Grossman: Weil wir uns an sie gewöhnt haben und wissen, wie die Dinge laufen. Und wir fahren ja nicht schlecht mit dem Managen des Konflikts. Die meisten Israelis spüren ihn nicht einmal. Das, was sie spüren, kommt ihnen normal vor. Die Kontrollen vor den Einkaufszentren, den Kinos, dass die Kinder drei Jahre zur Armee gehen und dass es alle drei oder vier Jahre einen kleinen Krieg mit Hamas oder Hisbollah in Gaza gibt. Wir sagen, okay, vielleicht sieht das Leben einfach so aus: Krieg, Angst, Feindseligkeit. Wir haben uns daran gewöhnt und führen dabei ein gutes Leben.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind nicht unbedingt schlecht für einen Großteil der Bevölkerung. Jeder Israeli verreist drei oder vier Mal im Jahr. Der Lebensstandard ist hoch. Es gibt neue Straßen, Tunnels, Hochhäuser aus Glas und Stahl. Es sieht hier aus wie in einem wohlhabenden, erfolgreichen Land. Warum sollte man das durch eine Friedensinitiative aufs Spiel setzen? Die würde Hunderttausende entwurzeln, es gäbe gewalttätige Demonstrationen, politischen Mord, Bürgerkrieg. Warum sollte man das riskieren? Die meisten aus dem politisch rechten Lager, mit denen ich spreche, denken so: Der Status quo ist erträglich. Warum daran rütteln? Warum das Boot zum Schaukeln bringen?
Carsten Hueck: Und Sie, David Grossman, wie sehen Sie das?
David Grossman: Ich glaube nicht an einen Status quo, wenn es um Menschen geht. Wo es Menschen gibt, kann es keinen Status quo geben. Vielleicht für 70 Jahre wie in der Sowjetunion. Dann kam es zur Explosion, alles fiel auseinander. Schlussendlich wird jeder Status quo zerbrechen, kollabieren, in die Luft fliegen. Es kann keinen Status quo mit einem unterdrückten Volk und besetztem Land geben. Die Palästinenser sind im Moment sehr schwach und machtlos. Natürlich tun sie nichts für einen Frieden. Und sie wissen, dass sie in einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Israel keine Chance haben. Ich bin froh, dass sie keinen Krieg vom Zaun brechen. Aber sie unternehmen nichts Substantielles, um in einen Dialog zu treten.
Carsten Hueck: Positionen, die Sie vertreten, nennen wir sie linke Positionen, sind in Israel nicht mehr mehrheitsfähig. Schmerzt Sie das?
David Grossman: Ich würde gerne sagen, dass ich mir wünsche, jeder würde meine Meinung teilen. Und so wären wir eine einheitliche Gemeinschaft. Aber wenn ich nachdenke, komme ich zu dem Schluss, dass ich das doch nicht will. Ich möchte nicht an einem total homogenen Ort leben. Wo jeder dasselbe denkt und dieselbe Hymne singt. Ich will das nicht. Meiner Meinung nach besteht die Einzigartigkeit Israels über Generationen hinweg in der Existenz unterschiedlicher Ansichten, in der Verschiedenheit von Gedanken und Einstellungen. Und das war immer ungemein anregend und fruchtbar.
Carsten Hueck: Genau das sieht die nationalreligiöse Regierung aber seit Jahren ganz anders. Kritiker der Regierungspolitik werden schnell als Verräter verunglimpft. Das Buch Ihrer Kollegin Dorit Rabinyan, in dem sie die Liebesbeziehung zwischen einem Palästinenser und einer Israelin beschreibt, wurde für den Schulunterricht verboten, mit der Begründung, es gefährde jüdische Identität.
David Grossman: Zur Zeit haben wir eine Mischung von Nationalismus, Kitsch und Sentimentalität. Jeder, der kritisch ist und sich weigert, in den Chor einzustimmen, macht sich verdächtig. Es ist ständig erforderlich, seine Loyalität unter Beweis zu stellen. Ich will nicht ständig etwas beweisen müssen. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig. Dadurch, dass ich Bücher schreibe, dass ich hebräisch schreibe und ein Teil einer langen Kette von Denkern und Schriftstellern bin, befinde ich mich im Herzen dieses seltenen Wesens namens Israel. Von dort aus kann ich kritisch sein und einen Blick auf die Missetaten und Fehler meiner Regierung werfen. Und im selben Moment kann ich andere Bereiche des Lebens hier lieben. Beispielsweise, wie freundschaftlich Menschen miteinander umgehen. Wie kreativ sie sind, wie sie ständig neue Ideen entwickeln, Geschäfte machen oder Kunst. In so vielen Bereichen unseres Alltags sind wir unglaublich erfindungsreich – und nur dort, wo es um unsere Existenz und unsere Zukunft geht, darum, die politische Situation zu verändern und Frieden zu machen, da sind wir gelähmt. Der große Historiker Carlo Ginzburg hat einmal gesagt: "Ich bin in dem Land zuhause, für das ich mich schäme." Da ist was dran.
Carsten Hueck: Das trifft also auch auf Sie zu, David Grossman?
David Grossman: Es gibt Bereiche in Israel, für die ich mich schäme. Genauso aber welche, auf die ich stolz bin. Ich möchte stolz sein. Und ich will hier bleiben. Ich möchte nicht woanders leben. Das Leben hier bedeutet für mich ein spirituelles Abenteuer. Das ist spannend und anspruchsvoll. Es konfrontiert mich mit einer Menge herausfordernder Fragestellungen existenzieller und moralischer Art. Hier Kinder großzuziehen, ist so eine: Wie soll man ihren freien Geist beflügeln, ihre Offenheit und Neugier, wenn man gleichzeitig die Instinkte eines Kriegers ausbilden, Misstrauen säen, Warnungen aussprechen, Mauern errichten muss? Solche Fragen beschäftigen uns täglich.
Carsten Hueck: Sie schreiben in Ihrem Buch von "zwei Komponenten" für die Zukunft Israels: eine starke Armee und Frieden. Wie geht das zusammen?
David Grossman: Es ist billig, die Armee nur zu kritisieren. Aber ich vergesse nicht eine Sekunde, dass es nicht nur die Okkupationsarmee gibt, die gewiss kritisiert werden sollte, sondern auch die Armee, ohne die wir hier nicht existieren würden. Und das ist nicht einfach dahergesagt. Unzählige Male habe ich von Palästinensern, Ägyptern, Jordaniern und Irakis gehört, dass auch sie sich dessen sehr bewusst sind: Hätten wir nicht eine solche Armee, hätten wir nicht einen Tag hier überlebt. Wir haben zähe Nachbarn. Man möchte hier nicht ohne den Schutz einer starken Armee leben.
Carsten Hueck: Die neuhebräische Literatur seit der Staatsgründung, aber auch schon in den Jahren davor reflektiert immer die Entwicklung der Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Individuum. In dieser Tradition stehen heute jüngere Autoren wie Ayelet Gundar-Goshen, Yishai Sarid oder Eshkol Nevo, die Missstände in der israelischen Gesellschaft kritisieren. Haben Sie den Eindruck, dass auch die außenpolitische Situation des Landes literarisch behandelt wird?
David Grossman: Unsere Realität wird immer stärker reflektiert. Das brauchte Zeit. 1983 schrieb ich den ersten israelischen Roman über die Besatzung: "Das Lächeln des Lamms". Es hat also seit dem Beginn der Besatzung 1967 16 Jahre gebraucht, bis ein israelischer Schriftsteller darüber schreiben konnte. Heute, glaube ich, gibt es überwiegend Romane, in denen der soziale Riss, die dramatischen sozialen Verhältnisse in Israel beschrieben werden. Wobei die Bücher dabei gar nicht die stärksten Beschreibungen liefern. Das geschieht gerade im Kino, sowohl im Bereich des Dokumentarfilms als auch in Spielfilmen. Literatur zeigt eher das individuelle, intime Leben der Menschen. Politische und soziale Wirklichkeit festzuhalten, ist heute eher die Stärke des zeitgenössischen israelischen Films.
Carsten Hueck: Was kann Literatur noch tun, um in unserer Zeit Realität zu spiegeln oder gar zu beeinflussen?
David Grossman: Erstens: Gebrauche die Worte sehr behutsam. Sage nur Dinge, hinter denen etwas Konkretes steht. Hüte Dich vor Klischees. Es ist so einfach, in Klischees zu sprechen und zu denken. Die Welt ist voll davon. Literatur aber besteht auf Nuancen. Das ist es doch, was wir Schriftsteller tun. Wir berühren die Welt auf tiefere, feinere Art. Und je genauer die Worte sind, desto präziser ist die Realität, die man erschafft. Realität, die bis zu dieser Berührung nichtssagend oder manipuliert war. Man muss genau sein mit seinen Worten.
Carsten Hueck: Ist Literatur eine Waffe im Kampf für demokratisches Bewusstsein?
David Grossman: Demokratie wurzelt in der Idee, dass alle Menschen gleiche Rechte haben. Wir wissen, dass das ein frommer Wunsch ist. Aber bei Geburt hat jeder das Recht auf Gleichheit. Die Demokratie in Israel wird dauerhaft geschwächt durch die Situation der Besatzung. Wenn man ein anderes Volk über 51 Jahre hinweg kontrolliert, fängt man tatsächlich an zu glauben, es sei weniger wert. Dass wir überlegen sind und über ihm stehen. Das ist ein ekliger Gedanke. Wie kann das sein, dass wir 51 Jahre lang diese verzerrte Sicht pflegen? Vielleicht sind wir wirklich cleverer und anspruchsvoller und zivilisierter als sie? So zu denken, ist extrem gefährlich. So beginnt Faschismus. Das ist ein weiterer guter Grund, die Okkupation zu beenden: Um uns von diesem toxischen Denken zu befreien. Und deswegen werden Menschen Schriftsteller und Künstler: sie spüren das Eingesperrtsein, die Willkür. Von der Armee, der Regierung, manchmal auch von der Presse werden ihnen sprachliche Klischees auferlegt. Der Großteil der Presse in Israel teilt diese allgemeinen, gefühlsduseligen Ideen bestimmter Zugehörigkeit: Wir sind die Größten und Besten gegenüber den Bösen und Minderwertigen. Es gibt die Tyrannei der Mehrheit. Und Literatur ist etwas für Minderheiten. Denn wenn wir ein Buch lesen, verstehen wir plötzlich, dass jeder von uns in einem bestimmten Bereich seiner Persönlichkeit einer Minderheit angehört.
Carsten Hueck: Aber wie erreicht man Menschen, die sich gern auf Fake News verlassen und gar nicht hören wollen, was nicht exakt ihrem Standpunkt entspricht?
David Grossman: Ich bin gar nicht sicher, ob ich die erreichen will. Wenn ich schreibe, dann weniger, um die Einen oder die Anderen zu erreichen, sondern für mich selbst. Das ist sehr egozentrisch und manchmal auch egoistisch. Ich schreibe eine Geschichte, weil ich eine Geschichte zu erzählen habe. Das ist mein Hauptantrieb. Täte ich das nicht, wäre mein Leben mangelhaft, voller Schadstoffe, blockiert. Um das zu verhindern, schreibe ich.
Ich bin sehr dankbar, dass es genug Leser gibt, die auf meiner Seite stehen, aber ich weiß, dass ich auch Leser auf dem rechten Flügel habe. Ich bekomme eine Menge Post von Siedlern, die politisch vollkommen anderer Meinung sind als ich. Die meisten ihrer Briefe beginnen so: "Wir teilen ihre Ansichten in keiner Weise, aber …" Und dann setzen sie an, über mein Buch zu sprechen. Das ist der Beginn einer Diskussion.
Carsten Hueck: Hegen Sie noch Hoffnung auf eine Verständigung?
David Grossman: Wissen Sie, ich bin jetzt 64 Jahre alt und auf diesem Kampfplatz seit 40 Jahren aktiv. Ich zweifle mehr und mehr an der Fähigkeit der verschiedenen Lager hier in Israel, einen echten Dialog zustande zu bringen. Auch an der Fähigkeit, diese Situation aus eigener Kraft zu verändern. Es wird hier nur Veränderungen geben, wenn sie uns aufgezwungen werden. Ich habe keine Vorstellung wie – politischer Druck? Speziell dieser Tage mit der grenzenlosen Unterstützung von Donald Trump – und auch Deutschlands - wird der wenig effektiv sein. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir zu einer Veränderung der Realität gezwungen werden sollten. Die Israelis haben sich mit der Situation abgefunden. Sie werden nichts unternehmen, um sie zu ändern. Sie vertiefen nur das Problem, verkomplizieren es weiter und machen es so auf Dauer unlösbar. Und unglücklicherweise arbeiten die Palästinenser an diesem wirklich bedrohlichen Szenario hervorragend mit.
Carsten Hueck: Zum Ende unseres Gesprächs, David Grossman, möchte ich Sie fragen: Vor welchen Herausforderungen steht Israel in der Zukunft?
David Grossman: Zuallererst muss es eine Zukunft haben. In der jetzigen Situation kann ich nicht dauerhaft zuversichtlich sein, dass Israel die Chance auf eine Zukunft hat. Vielleicht verstehen das nur Israeli. Wenn ich in einer deutschen Zeitung lese, dass Deutschland sein Straßennetz für die nächsten 30 Jahre plant, klingt das ganz natürlich. Kein Israeli, der seine Sinne beisammen hat, würde Pläne für die nächsten 30 Jahre machen. Oder über das Land in 30 Jahren sprechen. Selbst wenn ich es täte, spürte ich ein Ziehen in meinem Herzen: als ob ich ein Tabu verletze, indem ich mir erlaube, mir so eine große Spanne Zukunft vorzustellen. Ich wünsche mir also, das wir die Möglichkeit bekämen, uns eine Zukunft vorzustellen. Und ich sehne mich so sehr nach Heimat. Einen sehr fruchtbaren Ort stelle ich mir vor. Erreichen können wir all das nur, wenn wir Frieden haben. Ohne Frieden, ohne schmerzhafte Zugeständnisse für einen politischen Kompromiss gibt es das nicht. Das ist mein Wunsch: Eine Heimat zu haben, eine Zukunft und Frieden.