Das Gespräch mit den Originalantworten von David Grossman auf Englisch:
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Wie man den Hass in einer Familie überwindet
18:11 Minuten
In David Grossmans Buch „Was Nina wusste“ geht es um Traumata, die von Müttern weitergegeben werden und aus der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts stammen. Doch Versöhnung sei möglich, sagt der prominente israelische Autor - auch zwischen Staaten.
Frank Meyer: Eine Frau wird auf einer Gefängnisinsel in Jugoslawien eingesperrt, die auch "Titos KZ" genannt wird. Dieses Eingesperrtsein prägt das Leben dieser Frau, noch mehr aber das Leben ihrer sechsjährigen Tochter. Denn die denkt, ihre Mutter hätte sie verlassen. Der israelische Schriftsteller David Grossmann erzählt vom Leben dieser Frau und vom Leben ihrer Familie in seinem neuen Roman "Was Nina wusste".
David Grossmann ist einer der prominentesten israelischen Autoren der Gegenwart. Bei uns wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, in Großbritannien mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet. Herr Grossmann, das ist vor allem eine Familiengeschichte, ein Buch über die starken Gefühle in einer Familie: Liebe, Nähe, Ablehnung, auch Hass. Warum schreiben Sie immer wieder über Familien?
David Grossman: Kennen Sie ein relevanteres Thema, was einen mehr beschäftigt? Ich habe wirklich immer das Gefühl gehabt, dass eben das Wichtigste für die Menschheit als solches nicht das ist, was auf Schlachtfeldern geschehen ist, was sich vielleicht in Parlamentsfluren abgespielt hat oder in solchen großen politischen Dimensionen. Sondern es ist eher das, was in Kinderzimmern geschehen ist, was in Küchen passiert ist, was in einem Schlafzimmer geschehen ist, also in Familien. Weil diese Intensität von Familien, diese Nähe, die da entsteht, aber auch wie fern man sich gleichzeitig ist, diese Komplexität hat mich immer wahnsinnig fasziniert.
Meyer: Es geht vor allem um Mütter und Töchter und die intensiven Beziehungen zwischen ihnen – in Zuneigung und Ablehnung. Gleichzeitig wurzelt ja aber diese Familiengeschichte ganz tief in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es gibt ein reales Vorbild für Ihre Hauptfigur Vera, das ist eine frühere kroatische Kommunistin, Eva Panić-Nahir. Sie waren mit ihr befreundet, sie hat Ihnen ihre Lebensgeschichte erzählt. Wann haben Sie sich entschieden, von Eva Panić-Nahir in einem Roman zu erzählen?
Grossman: Das begann eigentlich schon beim ersten Mal, als wir miteinander zu tun hatten. Sie rief mich nämlich an, und da war mir schon klar, diese so ungewöhnliche Liebes- und Lebensgeschichte muss ich unbedingt erzählen. Diese Freundschaft hat zwanzig Jahre angedauert. Sie hat mich immer gefragt, wann fängst du endlich an, über mich zu schreiben, weil es sie schon sehr gereizt hat, dass ich über sie einen Roman schreiben wollte. Und ich habe ihr gesagt, liebe Eva, ich bin kein Dokumentarist, ich muss mir eine Figur ausdenken, ich muss sie imaginieren. Natürlich wird es eine Figur sein, die was mit dir zu tun hat, sie wird niemals Charaktereigenschaften haben, die dir konträr sind. Sie hat das akzeptiert, auch in einer großen Generosität, und gesagt, ja natürlich, du bist Künstler. Sie hat es verstanden.
Leider war es dann so, dass ich ihre Lebensgeschichte erst in dem Moment aufgeschrieben habe, nachdem sie schon verstorben war. Vorher hatten sich einfach andere Bücher aufgedrängt, die vorher geschrieben werden mussten, vorher geschrieben werden wollten. Aber das war eine Geschichte, die ich unbedingt immer erzählen wollte, die sich mir auch aufgedrängt hat und die ich dann nach ihrem Tod endlich auch erzählen konnte.
Versöhnung als Inspiration für den Roman
Meyer: Ich skizziere mal ganz kurz die Geschichte von Eva Panić-Nahir: Sie hat in der Zeit des Zweiten Weltkrieges als jüdische Partisanin gemeinsam mit ihrem serbischen Ehemann an der Seite von Marschall Tito gegen die Nazis gekämpft. Dann wurden Eva Panić-Nahir und ihr Mann verdächtigt, so etwas wie sowjetische Spione zu sein, Stalinisten zu sein und deshalb verfolgt. Ihr Mann hat sich im Gefängnis umgebracht, sie selbst wurde auf der Gefängnisinsel Goli Otok interniert. Später ist sie dann nach Israel ausgewandet. Sie haben gesagt, Sie mussten diese Frau auf gewisse Weise für Ihren Roman neu erfinden. Wie haben Sie das gemacht, wie ist diese Geschichte für Sie als Roman erzählbar geworden?
Grossman: Nun, Sie werden doch nicht wirklich von mir erwarten, dass ich jetzt genau aufschlüssele, was an dieser Geschichte wirklich geschehen ist. Was wirklich auf harten Fakten beruht und was vielleicht auch imaginiert ist. Das ist ja gerade die Freude, die man dann auch beim Lesen hat, dass man schon als Leser möchte, dass das alles genau so geschehen ist. Insofern werde ich das jetzt nicht konkret aufschlüsseln. Aber dieses große Drama, das im Kern dieser Geschichte steckt, ist Vera oder Eva wirklich passiert. Sie musste sich wirklich entscheiden, ob sie ihren Ehemann oder ihre Tochter verraten wird. Mit diesem Verrat musste sie irgendwie klarkommen, und diese Wunde musste irgendwie im Verlauf ihres Lebens heilen.
Meyer: Das ist wirklich, was im Kern des Romans steht. Es ist eine zutiefst tragische Situation, in die diese Frau vom jugoslawischen Staat gebracht wird, von den Polizeikräften dort: diese Entscheidung zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter. Mir ging es beim Lesen so, dass ich wirklich mit dieser Frau mitgelitten habe, weil sie sich natürlich nur falsch entscheiden kann, in beide Richtungen. Wie ging Ihnen das, diese Frau, diesen Menschen an diesen Punkt zu begleiten?
Grossman: Das war eine echte Herausforderung, weil ich mich mit Eva im echten Leben wirklich auseinandergesetzt habe. Wir haben regelrecht gestritten über die Wahl, die sie getroffen hatte, und ich konnte sie auch nicht verstehen. Aber als Schriftsteller habe ich nicht dieses Privileg, da kann ich nicht mit meinen Moralvorstellungen urteilen, sondern muss mich in diese Figur begeben, die ich erzähle. Ich muss sie von innen heraus erzählen und in gewisser Weise entmilitarisieren. Ich darf sie nicht verurteilen. Wir dürfen nicht vergessen, sie hat in einer Zeit, in einer Ära gelebt, in der es eine ganz andere moralische Umwelt gab, in der der Mensch als Mensch sehr viel mehr wert war als das einzelne Individuum Mensch. Das ist aus heutiger Sicht schrecklich, aber so hat man das eben damals gesehen, und aus dieser Zeit muss man sie auch von innen heraus verstehen.
Das Interessante ist auch, ihre echte Tochter, die heute in den USA lebt, hatte eine sehr schwierige Beziehung zu ihrer Mutter. Aber es ist den beiden Frauen gelungen, sich doch wieder zu vertragen und es ist ihr irgendwie gelungen, auch die Mutter zu verstehen. Die Inspiration für diesen Roman war, dass es zu einer Versöhnung gekommen ist, dass es zu einem Prozess der Versöhnung kam und dass diese Wunde durch Versöhnung auch wieder heilbar war, dass das überhaupt möglich ist.
"Die Figuren mussten in mich eindringen"
Meyer: In Ihrem Roman geht es um drei Frauen: Vera, eine frühere Partisanin aus Jugoslawien, die nach Israel emigriert ist, ihre Tochter Nina und deren Tochter Gili. Das sind sehr verschiedene Frauen, alle sehr stark und eindringlich gezeichnet. Aus der Perspektive von Frauen wie diesen dreien zu erzählen, wie leicht oder schwer ist Ihnen das gefallen?
Grossman: Das war auch wiederum sehr herausfordernd. Ich begebe mich eigentlich ganz gerne in einen Blickwinkel, der nicht unbedingt meiner ist oder versetze mich in eine Person, die Dinge vertritt, die ich nicht unbedingt vertrete. Ich entwaffne mich da sehr gerne. Ich erzähle Ihnen vielleicht eine kleine Geschichte: Bei einem früheren Buch, "Eine Frau flieht vor einer Nachricht", ging es um eine 50-jährige Frau, die nicht möchte, dass eine gewisse Wahrheit zu ihr dringt. Zweieinhalb Jahre hab ich mich mit dieser Hauptfigur befasst und irgendwie kam ich nicht mehr weiter. Ich kämpfte mit ihr und ich verstand sie nicht. Ich hatte das Gefühl, ich kann in diese Figur einfach nicht hineindringen.
Ich war so verzweifelt, weil ich dachte, dieses Buch könnte ich einfach nicht mehr beenden, dass ich mich wirklich an den Tisch setzte, ein Blatt Papier und einen Bleistift oder Kugelschreiber nahm und ihr einen Brief schrieb: Warum bist du so störrisch, warum kann ich dich nicht verstehen? Da wurde mir plötzlich klar, wie falsch dieser Ansatz war. Dass ich mich davor beschützt hatte, in eine andere Figur einzudringen. Das musste umgekehrt passieren. Diese Figur musste in mich eindringen. In dem Moment, in dem ich das verstanden hatte, fiel es dann plötzlich auch sehr viel leichter, diesen Roman zu schreiben, weil ich mich nicht beschützen musste. Ganz im Gegenteil, ich musste mich fallen lassen und in der Lage sein, mich von diesen anderen Figuren – in diesem Fall jetzt von diesen drei Frauenfiguren –, dass die sozusagen in mich eindringen. So kann man dann diese Geschichten schreiben.
"Nicht so am eigenen Ich kleben"
Meyer: Geht es dann auch darum, Herr Grossmann, sozusagen Ihre männliche Identität auch ein Stück weit aufzugeben und selbst auch das Weibliche in sich zuzulassen, wenn Sie aus der Perspektive einer Frau sprechen?
Grossman: Ich würde nicht sagen, dass ich meine eigene Identität verliere, aber man kann sich mit anderen Identitäten bereichern. Man hat eigentlich als Mensch so wahnsinnig viele Optionen, man könnte so viele Ichs irgendwie gleichzeitig ausleben. Aber wenn man älter wird, neigt man leider dazu, sich irgendwo zu verengen, sich auf gewisse Meinungen zu verengen, sich nur noch auf ein Geschlecht zu verengen. Das wird dann alles so oberflächlich. Dabei haben wir diese wahnsinnig vielen Optionen, die wir gar nicht nutzen. Wir könnten uns in einer Landschaft eben so viel vielfältiger verorten, mit ganz anderen Qualitäten. Das Schöne am Schreiben ist ja, dass man so viele andere sein kann, die mit einem selber nicht unbedingt immer etwas zu tun haben, die vielleicht auch konträr zu dem sind, was man ist.
Ich habe ja sehr viel über den israelisch-palästinensischen Konflikt geschrieben und auch versucht, mich in den Standpunkt von Palästinensern zu versetzen, also den sogenannten Widersachern. In dem Moment merkt man dann, dass man einen ganz anderen Kontakt zur Realität aufbaut, der sehr viel tiefer und komplexer ist. Darum geht es. Es ist nicht so, dass man seine Identität aufgibt, aber man kann seine Identität eigentlich viel besser verstehen, wenn man nicht so an seinem eigenen Ich klebt und der Gefangene dieses eigenen Ichs wird. Als Autor hat man eben die Möglichkeit, das in Texten ganz anders auszuleben, und das ist sehr befreiend.
Die eigene Geschichte als Gefängnis
Meyer: Ich würde gern noch nach einer anderen Ebene Ihres Romans fragen. Was Ihrer Figur Vera zustößt, was Eva Panić-Nahir tatsächlich ja erlebt hat, wie sie verfolgt wurde in Jugoslawien als vermeintliche Stalin-Anhängerin, ist eines der vielen Kapitel der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ging es Ihnen mit diesem Roman auch darum, zu zeigen, wie viele Belastungen, wie viele dieser Geschichten Jüdinnen und Juden mitgebracht haben, als sie nach Israel gekommen sind?
Grossman: Die Überlebenden der Shoah haben eine ganz ungewöhnliche Geschichte und jede dieser Geschichten ist auch ein Wunder in sich. Aber es ist wirklich so, dass in Israel ganz viele sehr extreme Lebensgeschichten zusammenkommen. Das ist schon besonders und für Schriftsteller natürlich ein Paradies. Aber ich möchte Ihrer Frage eine andere Richtung verleihen: Jeder hat so seine eigene offizielle Geschichte, jeder weiß im Laufe der Jahre, wie er sich selbst am besten erzählt. Er weiß ganz genau, wo die Lacher kommen, wo die Leute am meisten aufpassen, wo man ihm vielleicht auch gewisse Dinge verzeiht. So erzählt man eben diese Geschichte und je länger man sie erzählt und deklamiert, wirkt sie wie ein Fossil, wie eine Art Gefängnis. Das meine ich jetzt nicht nur für Individuen. Diese Mythen, die man da von sich verbreitet, sind auch das, was Nationen letztendlich von sich verbreiten, wenn es um heroische Geschichten geht, um sehr moralische Geschichten.
Das Problem ist, man sollte doch vielleicht ab einem gewissen Punkt versuchen, mit diesem Mythos anders umzugehen, ihn nuancierter zu erzählen, vielleicht innerhalb der offiziellen Geschichte toleranter und kritischer zu sein, auch vielleicht düsterer, provokanter, vielschichtiger. Das meine ich vor allen Dingen eben mit Nationen, mit Ländern, die irgendwann aufhören müssen, sich immer nur zu deklamieren. Man muss auch innerhalb dieser offiziellen Geschichte irgendwie atmen können. Das betrifft eben Staaten genauso wie Individuen. Es ist einfach wichtig, dass man eben nicht nur immer sagt, meine Eltern haben mich nicht verstanden, sondern man muss irgendwann auch mal einsehen, auch meine Mama hatte eine Mama. Wir müssen unseren Eltern auch eine gewisse Psychologie zugestehen. All das macht uns aus. Das, denke ich, ist sehr wichtig.
Abhanden gekommener Hass
Meyer: Was Sie gerade gesagt haben, dass auch Nationen ihre Geschichten erzählen und dass auch diese Geschichten überprüft werden sollten und womöglich ab und zu auch neu erzählt werden sollten – ich nehme an, Sie denken dabei auch an die Geschichte des Staates Israel. Woran denken Sie, was meinen Sie, was neu oder anders erzählt werden sollte?
Grossman: Dazu muss man erst mal sagen, Israel ist nicht dazu gezwungen, immer nur mit dem Schwert zu leben und immer nur unter dem Schwert zu leben. Dieser ganze Konflikt im Nahen Osten: Israel gibt es jetzt seit 73 Jahren. Und wir haben immer noch nicht einen Weg gefunden, einfach ganz normal zu leben, weil es immer noch darum geht, zu überleben. Diese Idee, dass ein Schwert über uns hängt, ist zwar nicht ganz falsch, muss aber trotzdem in gewisser Weise überwunden werden, weil das eben auf Dauer nicht Überleben sein kann.
Wenn ich von Frieden rede, dann sage ich das nur, wenn wir einen Frieden auch mit den Palästinensern gefunden haben. Erst dann können wir wirklich anfangen, das Leben zu leben, was wir leben könnten. Da gibt es in dem Buch, was ich geschrieben habe, auch eine interessante Analogie dazu. Weil Gili, also die jüngste der drei Frauen, ihre Mutter hasst. Ab einem gewissen Punkt merkt sie, dass sie sie gar nicht mehr so hasst, wie sie eigentlich immer wollte und immer gehasst hat. Und dann stellt sie sich diese schreckliche Frage: Kann ich überhaupt leben, ohne Nina zu hassen?
"Frieden ist, relevanter zu leben"
Das hat natürlich auch ein politisches Echo. Wir sind damit aufgewachsen, dass Palästinenser oder Israelis eben die andere Seite hassen. Da würde sich eben auch die Frage stellen: Wie wäre es, wenn dieser Hass plötzlich wegfällt? Vieles von der Identifikation, die wir haben, basiert eben auf Hass, auf Angst, auf Schmerz, auf Kummer - und das ist furchtbar. Dieser Frieden, von dem ich rede, der besser hätte gestern kommen sollen, als dass er morgen kommt - er käme in jedem Fall zu spät, weil schon drei bis vier Generationen innerhalb dieses Krieges aufgewachsen sind.
Mit Frieden meine ich nicht nur den politischen Frieden, den Frieden zwischen Staaten oder wirtschaftlichen Frieden, sondern ich meine einfach, dass man anders lebt, dass man viel relevanter lebt und mit der Zukunft umgeht, für seine Kinder, für seine Enkel lebt, und dass man den Platz, an dem man sich befindet, dass man die Zutaten, die zu diesem Ort gehören, dass man sie annimmt, auch wenn das manchmal Zutaten sind, die man nicht mag. Aber es sind trotzdem die Zutaten, die zu unserem Lebensort gehören. Ohne einen Frieden ist es einfach nicht möglich, dass wir dieses Leben, was wir eigentlich verdient haben und was so viel reichhaltiger sein könnte, dass wir dieses Leben eben bisher noch nicht leben konnten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.